„Yo me como la bronca“ – „Ich nehme Eure Wut ernst” – so lautet(frei übersetzt) der Wahlslogan des neuen Präsidenten Costa Ricas, Rodrigo Chaves. In einer Stichwahl am 3. April setzte sich der 60-jährige ehemalige Finanzminister nach offiziellen Angaben mit 52,9 Prozent gegen den ehemaligen Präsidenten José Miguel Figueres durch, der auf 47,1 Prozent der Stimmen kam. Damit bestätigten sich die letzten Umfragen, die Chaves mit unterschiedlichem Abstand vorne sahen. Der nächste Präsident gewann in den ländlichen Regionen und in den ärmeren Gebieten, während Figueres insbesondere in der Hauptstadt San José die Oberhand behielt. Kurz nach Bekanntwerden der ersten Zahlen räumte Figueres seine Wahlniederlage ein.
Wie bereits im ersten Wahlgang am 6. Februar[1] war die Wahlbeteiligung für costa-ricanische Verhältnisse sehr niedrig. Nur rund 57,3 Prozent der 3,5 Millionen Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Im ersten Wahlgang waren noch 59,7 Prozent zur Wahlurne gegangen. Figueres (27,3 %) und Chaves (16,7 %) gingen im stark fragmentierten Kandidatenfeld zwar auf den ersten beiden Plätzen durchs Ziel, ihre Stimmen lagen zusammen aber deutlich unter der Zahl der Nichtwähler. Der geringen Beliebtheit der beiden Kandidaten bewusst, scheuten die in der ersten Runde unterlegenen Kandidaten eine Wahlempfehlung für den zweiten Durchgang.
Konfrontativer Wahlkampf
Die Wochen vor der Stichwahl waren vor allem geprägt durch Korruptionsvorwürfe, einen fragwürdigen Umgang mit der Wahlkampffinanzierung sowie Vorwürfe der sexuellen Belästigung. In ihren Kampagnen zwischen den Wahlgängen konzentrierten sich beide Kandidaten darauf, vor allem den Sieg des jeweils anderen durch Disqualifikation zu verhindern, statt auf eigene Konzepte zu setzen.
Der 67-jährige Figueres war ein besonders leichtes Ziel für den Anti-Establishment-Diskurs von Rodrigo Chaves. Wie kaum ein zweiter Politiker verkörpert der Ex-Präsident zwischen 1994 und 1998 sowie Sohn des beliebten Ex-Präsidenten José María Figueres Ferrer die traditionelle politische Elite Costa Ricas. Seine Traditionspartei, die formell sozialdemokratische „Partei der nationalen Befreiung“ (PLN), verfügt zwar weiterhin über eine funktionierende Wahlkampfmaschine und ein relativ großes Wählerreservoir, wurde aber auch immer wieder mit Korruptionsskandalen in Verbindung gebracht, was Chaves in populistischer Manier ausschlachtete. Er portraitierte Figueres wahlweise als Wirtschaftslobbyist oder als Populist, dessen Versprechen unrealistisch seien. In seinen rhetorischen Verrenkungen ging er sogar so weit, den eher hölzern wirkenden Figueres in eine populistische Reihe mit den venezolanischen Autokraten Hugo Chavez und Nicolas Maduro zu stellen. Chaves wetterte abwechselnd gegen das Establishment, mahnte angeblich unfaire Behandlungen durch die Presse an und klagte über Wirtschaftsmonopole und „Luxuspensionen“ der Elite. Mit alledem suchte er die von ihm konstatierte „Wut“ der costa-ricanischen Bevölkerung zu bedienen, während er mit eigenen Vorschlägen eher vage blieb. Sogar seinen nur sechsmonatigen Verbleib im Finanzministerium zwischen 2019 und 2020 deutete Chaves als Qualitätsmerkmal um. Die herrschende Elite habe es nicht ausgehalten, dass jemand ihre Privilegien antasten wollte. Obwohl die meisten Angriffe von ihm selbst ausgingen, sah Chaves sich als Opfer der „schmutzigsten Kampagne in der Geschichte Costa Ricas.“
Figueres hingegen, der wegen seiner geringen persönlichen Beliebtheitswerte in Umfragen mit einem deutlichen Rückstand gegen Chaves gestartet war, bekam im Wahlkampf Schützenhilfe durch mehrere seinen Gegenkandidaten betreffende Skandale. Nicht mehr der Überraschungskandidat der ersten Runde, wurde Chaves‘ Vergangenheit und Gegenwart intensiv unter die öffentliche Lupe genommen. Dies galt für die Anschuldigungen und Sanktionen wegen sexueller Belästigung in seiner Zeit bei der Weltbank, aber für auch die Finanzierung seines Wahlkampfes. So musste sich Chaves gegen den Vorwurf der gesetzwidrigen Verwendung eines Treuhandfonds von rund 135.000 Dollar für den Wahlkampf verteidigen. Die Unregelmäßigkeiten gingen so weit, dass das Oberste Wahltribunal (Tribunal Supremo de Elecciones, TSE) eine Untersuchung gegen die Partei Chaves´, die „Partei des sozialdemokratischen Fortschritts“ (PPSD) wegen mangelnder Transparenz im Umgang mit Geldern und sogar möglicher Geldwäsche einleitete. Darüber hinaus wurde der PPSD vorgeworfen, Spenden von juristischen Personen und Personen aus dem Ausland zu erhalten, was nach dem Wahlgesetz verboten ist. All dies schadete dem von Chaves gepflegten Saubermann-Image zwar, offenbar jedoch nicht in dem Maße, dass ihm der Wahlsieg streitig gemacht worden wäre. Mehr als eine Zweiteilung und Polarisierung der Bevölkerung war die Enttäuschung und Frustration mit den beiden Optionen das Leitmotiv der letzten Wahlkampfwochen. All dies trug zu einer Stimmung bei, in dem die große Mehrheit der Wähler sich für den Kandidaten entschieden, der ihnen als das „geringere Übel“ erschien und der Rest der Wahlberechtigten eben ganz zu Hause blieb. In einer Umfrage wenige Tage vor der Wahl gaben 26 Prozent aller Chaves-Wähler als Hauptgrund ihrer Entscheidung an, die Rückkehr von Figueres ins Präsidentenamt verhindern zu wollen.[2]
Rein von den Wahlprogrammen her herrschte nur wenig Kontrast zwischen beiden Kandidaten. Vor allem in der zweiten Runde schien sich keiner von ihnen auf eine Position festlegen zu wollen, die Stimmenverluste riskieren könnte. Beide Aspiranten versprachen die Senkung von Steuern und Abgaben, Maßnahmen gegen die Armut, das Werben um Investitionen und den Kampf gegen die Korruption. Bei ethisch kontroversen Themen wie Abtreibung und Euthanasie gaben sich beide eher konservativ und betonten im Wahlkampf ihren christlichen Glauben. Chaves´ Programm war dabei vielleicht einen Tick liberaler als das von Figueres, dessen Partei die Tradition einer etwas stärkeren Rolle des Staates pflegt. Die Außenpolitik spielte kaum eine Rolle im Wahlkampf.
Hinsichtlich ihrer Einstellung zu den staatlichen Institutionen zeigten beide Kandidaten gewichtige Unterschiede. Während José María Figueres sich stolz auf die institutionelle Stabilität Costa Ricas zeigte und stets betonte, vollstes Vertrauen in das TSE zu haben, stellte Chaves offen und in populistischer Manier die Möglichkeit eines Wahlbetrugs in den Raum. Mit seiner Taktik, Zweifel am System zu säen, bediente er sich der in den letzten Jahren gewachsenen Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Funktionsweise des Staates. Chaves wetterte gegen traditionelle Parteien, äußerte Zweifel an der Meinungsfreiheit, der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der staatlichen Institutionen. Mit all diesen Aussagen brach er im institutionell fest gefügten Costa Rica Tabus, was dazu führte, dass manche Beobachter vor der zweiten Runde die Frage stellten, ob Chaves möglicherweise eine ernsthafte Bedrohung für die demokratischen Institutionen darstellen könnte.
Vom Outsider zum Präsidenten
Der neue Präsident Costa Ricas wird trotz seiner kurzen Amtszeit als Finanzminister vielfach als erster echter Outsider im Präsidentenamt Costa Ricas gesehen. Der Wirtschaftswissenschaftler hält einen Doktortitel der Universität in Ohio und verbrachte anschließend 30 Jahre außerhalb Costa Ricas als Funktionär in verschiedenen Positionen bei der Weltbank, bevor er 2019 vom noch amtierenden Präsidenten Carlos Alvarado als Finanzminister berufen wurde.
Als Anti-System-Kandidat konnte Rodrigo Chaves die politische Klasse Costa Ricas durch seine Polemik aufmischen und mit einem konfrontativen Diskurs die Wahl gewinnen. Deutlich schwieriger wird für den Wahlsieger nun das Regieren. Im Parlament verfügt Chaves´ Partei PPSD nur über 10 von 57 Abgeordneten. Weder handelt es sich um eine Traditionspartei, noch ist Chaves in ihr verwurzelt. Es erscheint zumindest teilweise unklar, mit welchen Personen der künftige Staatschef regieren möchte. Um Erfolg zu haben, wird er Brücken zur von ihm viel gescholtenen „Elite“ bauen müssen. Einen ersten Schritt versuchte Chaves am Wahlabend zu gehen, als er in seiner nach dem aggressiven Wahlkampf erstaunlich versöhnlichen Siegesrede alle politischen Kräfte zur Zusammenarbeit einlud, darunter auch ausdrücklich die PLN seines Widersachers Figueres. Gleichzeitig wird sich Chaves auch an institutionelle Regeln halten müssen. Das gilt etwa für seinen Vorschlag, die plebiszitären Elemente in Costa Rica stärken zu wollen – ein Unterfangen, dem die aktuelle Rechtsprechung enge Grenzen setzt. Auch wenn seine polemische Art Chaves letztlich ins Präsidentenamt geholfen hat, verfügt er kaum über eine eigene stabile Machtbasis. Im Gegenteil profitierte er von der Schwäche seines Gegenkandidaten und der hohen Wahlenthaltung.
Im Kontext einer weiter angespannten wirtschaftlichen und finanziellen Lage, die durch die Corona-Pandemie weiter verschärft wurde, sind dem neuen Präsidenten die Hände für zusätzliche Ausgaben weitgehend gebunden. Das Versprechen einer nur sehr diffus beschriebenen grundsätzlichen Transformation des Landes droht schnell zum Boomerang zu werden, sollte Chaves nicht bald erste Ergebnisse vorweisen können. Dies gilt vor allem für die nach Umfragen wichtigsten Sorgen der Bevölkerung – Korruption, Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Lage. Für den politischen Drahtseilakt, den das Regieren unter diesen Bedingungen erfordern wird, dürfte das Bekenntnis zur „Wut“ kaum genügen.
Über die Autoren
Sebastian Grundberger ist Leiter des Regionalprogramms Parteiendialog Lateinamerika, Kristin Langguth ist Trainee desselben Regionalprogramms und Sergio Araya ist Projektkoordinator des Länderbüros Costa Rica.
Quellen
[1] Vergleiche zum ersten Wahlgang den Länderbericht der KAS Costa Rica:https://www.kas.de/documents/252038/16191335/Wahlkrimi+in+Costa+Rica.pdf/a6ec83a2-94d8-7d4f-1a15-554739354d75?version=1.1&t=1644415152891; Zugriff 03.04.2022.
[2] ENFOQUES INVESTIGACIONES MP, LTDA. DEL 23 AL 27 DE MARZO DEL 2022.