Ausgangslage des politischen Systems
Seit 2016 befindet sich Peru in einer Staatskrise aufgrund offener Konfrontationen zwischen dem Amt des Präsidenten und dem Kongress, die im November 2020 mit Massenprotesten auf den Straßen und zwei neuen Präsidenten innerhalb einer Woche ihren Höhepunkt erreichte. Seitdem führt die Übergangsregierung das Land als Notlösung.
Inmitten dieser Krise haben sich die traditionellen Volksparteien als Säulen der Demokratie des Landes aufgelöst. Sie wurden durch Interessengemeinschaften ersetzt, die eher Unternehmen mit Profitinteressen, als politischen Parteien mit ideologischer Basis gleichen. So wurden Bestechung, der Kauf von Listenplätzen und das Fälschen von Umfrageergebnissen immer salonfähiger. Derweil werden Präsidentschaftskandidaten von Parteien oftmals als Figuren eingesetzt, die keine politischen Verbindungen zur Parteibasis mehr haben. Unter diesen Umständen ist es nicht überraschend, dass bei dieser Wahl insgesamt zwanzig Parteien mit achtzehn Präsidentschaftskandidaten angetreten sind, deren politischen Profile sich nur gering unterscheiden und deshalb kaum mehr als einen Beliebtheitswettbewerb verschiedenster Persönlichkeitsprofile darstellen.
Wahlergebnis
Pedro Castillo der Partei Perú Libre konnte sich mit 19,09 Prozent der Stimmen als stärkste politische Kraft für die Stichwahl am 6. Juni 2021 qualifizieren. Als zweite Kandidatin setzte sich Keiko Fujimori der Partei Fuerza Popular mit 13,35 Prozent knapp vor dem intellektuellen Hernando de Soto (Avanza País) und dem konservativen Rafael López Aliaga (Renovación Popular) durch. Die von vielen Experten als mögliche Favoriten für die Stichwahl gehandelten Kandidaten Yonhy Lescano (Acción Popular), George Forsyth (Victoria Nacional) und Verónica Mendoza (Juntos por el Perú) haben vergleichsweise enttäuschende Ergebnisse erreicht.[1]
Neben den Präsidentschaftswahlen fanden auch Wahlen für die 130 Abgeordneten des Kongresses statt, bei denen sich mindestens neun Fraktionen für den Einzug ins Parlament qualifizieren konnten. Hier konnten auch die Parteien der vorläufigen Sieger, Perú Libre mit 17,37 Prozent und Fuerza Popular mit 11,96 Prozent, die meisten Stimmen erlangen. Darauf folgen hauptsächlich die Parteien der Mitte und des Mitte-Rechts-Spektrums. Elf Parteien konnten die Fünf-Prozent-Hürde nicht überwinden und verlieren damit nach den neuen Regelungen zur Vereinfachung des Parteiensystems ihre Zulassungen; unter ihnen auch die ursprünglichen Volksparteien Partido Popular Cristiano (PPC)[2] und Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA)[3]. Zu ähnlichen Ergebnissen kam es in der Wahl für das weniger bedeutende Andenparlament. [4]
Zur Wahl sind trotz Wahlpflicht und erheblicher Strafen für Nichtwähler nur 71,69 Prozent der wahlberechtigten Bürger erschienen. Von diesen Wählern haben nur 82,42 Prozent gültige Stimmen für die Präsidentschaftswahl und 61,11 Prozent gültige Stimmen für die Kongresswahl abgegeben. Zieht man alle Parteien ab, die die Fünf-Prozent-Hürde nicht überwinden konnten, so repräsentieren die neun Parteien im Kongress nur 33,81 Prozent der Gesamtwählerschaft. Die zwei Präsidentschaftskandidaten für die Stichwahlen repräsentieren gar nur 19,16 Prozent .[5]
Einschätzung und Ausblick
Pedro Castillo erreichte quasi aus der Bedeutungslosigkeit heraus den ersten Platz. Der Grundschullehrer aus der Bergbauregion Cajamarca setzte sich mit seiner Partei für eine Verfassungsänderung und eine damit verbundene massive Verstaatlichung von Ressourcen und Wirtschaftszweigen ein. Er erklärte, dass er bei Widerstand das Verfassungsgericht abschaffen und den Kongress ausschalten würde. Er proklamierte, dass er dem venezolanischen Regime nahestehe und die US-Hegemonie ablehne. Zudem steht er in Verbindungen mit Sympathisanten der ehemaligen Terrororganisation „Leuchtender Pfad“ (sendero luminoso). Zwar vertritt Castillo eine radikal linke Wirtschaftspolitik, doch ist er als Anhänger einer evangelikalen Kirche gleichzeitig ein Kritiker progressiver Gesellschaftspolitik. Er lehnt die Gleichstellung von Homosexuellen sowie die Liberalisierung der Abtreibung ab. Im Wahlkampf trat er mit Cowboy-Hut und Pferd auf, um sein sehr erfolgreiches Image eines linken Caudillos zu betonen.[6]
Damit profitierte Castillo hauptsächlich von den Protestwählern aus den Provinzen, die zumeist bis kurz vor den Urnengang noch keine Wahlentscheidung getroffen hatten und ihrem Frust durch die Wahl des wohl radikalsten Kandidaten Ausdruck verschaffen wollten. Der überraschende Sieg symbolisiert damit insbesondere die Unzufriedenheit mit dem Wirtschaftssystem und der politischen Klasse, ähnlich wie der unerwartete Erfolg der extrem religiösen Partei FREPAP in der Neuwahl des Kongresses 2020. Geholfen hat Castillo auch, dass das politische Spektrum links von der Mitte weniger fragmentiert ist als unter den Vertretern der Mitte-Rechts-Parteien. Damit konnte er mehr Wählerstimmen auf sich vereinen als seine konservative Herausforderin Keiko Fujimori.
Die Kampagne Fujimoris, Tochter des ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori (1990-2000), basierte hauptsächlich auf Reformen für den wirtschaftlichen Aufschwung (Partnerschaften zwischen Staat und Privatwirtschaft, Formalisierung von Arbeitsplätzen, Vereinfachung des Steuersystems) und einer Rückkehr zur "eisernen Faust" gegen die Kriminalität. Fujimori hat hauptsächlich Anhänger in älteren und ärmeren Teilen der städtischen Bevölkerung, die dem Fujimorismo über die Jahrzehnte treu geblieben sind. Zudem ist sie in der Wirtschaft beliebt, nicht zuletzt, weil sie berechenbarer als viele andere Kandidaten scheint und damit für Rechts- und Investitionssicherheit steht.
Zwar weist sie eine beachtliche politische Erfahrung als Politikerin auf und wird zum dritten Mal in Folge in der Stichwahl der Präsidentschaftswahl antreten, doch leidet ihr Ansehen stark unter Korruptionsvorwürfen sowie dem zwiespältigen Erbe ihres Vaters. Dessen Präsidentschaft war neben solider Wirtschaftspolitik auch durch die Aushöhlung der Demokratie sowie schwere Menschenrechtsverletzungen im Zuge des Kampfes gegen die Terrororganisation „Leuchtender Pfad“ gekennzeichnet. Eine Rückkehr Perus zu diktatorischen Verhältnissen ist aber im heutigen Szenarium auch unter Fujimori nicht zu erwarten.
Eine Prognose für die Stichwahl ist schwierig zu fällen, denn es ist nicht abzusehen, wie sich die 80,84 Prozent der möglichen Wähler entscheiden werden, die in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen nicht für Castillo oder Fujimori gestimmt haben. Jedoch ist klar, dass sich die Entscheidung der Wähler eher an der Ablehnung eines Kandidaten („antivotos“), als an der Sympathie für den anderen orientieren wird. In der Vergangenheit hat zumeist der weniger radikale Kandidat gewonnen, da die Peruaner aufgrund ihrer Geschichte linke und rechte Experimente eher vermeiden. Genau deshalb könnte Fujimoris Sieg gegen Castillo wahrscheinlicher sein, als gegen einen gemäßigteren Kandidaten – denn gegenüber dem leninistischen Castillo wirkt die sonst so populistisch erscheinende Fujimori wie ein Anker der Demokratie.
Im Stichwahlkampf wird es deshalb zentral für Fujimori sein, Castillo als unwählbar darzustellen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob sich Castillo von seinen extremen Forderungen abwenden wird, um Teile der moderaten Wählerschaft, die wiederum Fujimori aufgrund ihres Familienerbes für unwählbar halten, für sich gewinnen zu können. Deshalb hat er schon am Tag nach der Wahl angekündigt, sich mit anderen politischen Kräften zusammenzusetzen, um eine breitere Bevölkerungsbasis ansprechen zu können.
Der Sieger der Präsidentschaftswahl wird einem zersplitterten Kongress gegenüberstehen und politisches Geschick beweisen müssen, um notwendige Gesetzesvorhaben umsetzen zu können und um weite Teile der Wirtschaft zu beleben. Die gesundheitspolitischen Maßnahmen für die Pandemiebekämpfung liegen hautsächlich in der Verantwortung der Exekutive. Beide designierte Kandidaten setzen auf massive kostenlose Impfkampagnen und lehnen trotz weiterhin steigender Infektionszahlen einen neuen Lockdown ab, um der Wirtschaft nicht zu schaden.
Fazit
Trotz Bedenken aufgrund der politischen Krise und der Pandemie konnte die Wahl pünktlich und ordnungsgemäß organisiert werden. Die Statistiken deuten aber darauf hin, dass die für den Kongress gewählten Abgeordneten und die für die Stichwahl qualifizierten Kandidaten nur einen Bruchteil der Bevölkerung repräsentieren. Die Wahlen spiegeln somit eher die Defizite der Demokratie in Peru und den Frust der Bevölkerung wider, als dass sie für einen Ausbruch aus dem Krisenmodus des Landes stehen.
[1] https://www.resultados.eleccionesgenerales2021.pe/EG2021/ (nach 96 Prozent der Auszählung, Stand 13. April um 11:30 Uhr Ortszeit)
[2] Christliche Volkspartei
[3] Amerikanische Revolutionäre Volksallianz
[4] https://www.resultados.eleccionesgenerales2021.pe/EG2021/ (nach 96 Prozent der Auszählung, Stand 13. April um 11:30 Uhr Ortszeit)
[5] Ebd.