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Abstract
Politische Ausgangslage
- Seit Monaten weisen die Umfragewerte bis auf leichte Schwankungen eine relative Stabilität auf. Die Märzumfragen aller 24 privaten Meinungsforschungsinstitute sehen die oppositionelle Partido Popular (im folgenden PP) bei 30-31%, die regierende Partido Socialista Obrero Español (im folgenden PSOE) bei 24 – 26%, ihren Koalitionspartner, die linkspopulistische Unidas Podemos (im folgenden UP) bei 10 – 12 %, die rechtspopulistische Vox bei 14 – 16% und die liberale Partei Ciudadanos bei 2 – 2,5%. Das staatliche Institut CIS sieht als einzige die PSOE mit 32% vorne, und die PP mit ca. 4% Abstand dahinter.
- Im Vergleich zu den Vorwahlen erstarken die großen Parteien PP und PSOE wieder, ohne dass die Rückkehr zum jahrzehntelang prägenden Zwei-Parteien-System (bipartidismo) festzustellen wäre. Zwar lassen die kleineren Parteien Federn, doch dürften sie bis auf die liberale Ciudadanos wieder ins Parlament einziehen.
- Trotz des Umfragevorsprungs der PP ist der Wahlausgang völlig offen. Laut den Umfragen könnte es der PP zwar gelingen, mehrere hunderttausend Wählerinnen und Wähler aus der enttäuschten PSOE-Wählerschaft zu sich zu ziehen. Andererseits zeigt eine Detailfrage zur ideologischen Selbstverortung, dass sich die Mehrheit des spanischen Elektorates links von der Mitte positioniert, was dem aktuellen Linksbündnis in der Regierung zugute käme.
- Extrapoliert man die Erfahrungen des politischen Miteinanders der ausgehenden Wahlperiode, erscheint eine große Koalition zwischen PP und PSOE derzeit ausgeschlossen. So bleiben rechnerisch nur der Linksblock zwischen PSOE und UP, wiederum ergänzt um nationalistisch-separatistische Regionalparteien auf der einen Seite, und PP mit Duldung durch oder Koalition mit Vox auf der anderen Seite.
- PP baut jedoch keinerlei inhaltlich-programmatische, personelle oder taktische Brücken zu Vox, sondern grenzt sich im Gegenteil dezidiert von dieser Partei ab. Dessen ungeachtet warnt das linke Lager im Vorwahlkampf stetig vor einem „rechtsextremen Block“, den es zu verhindern gelte.
- Die PP hat sich in nur einem Jahr unter Führung des ehemaligen galizischen Ministerpräsidenten Alberto Nuñez Feijóo von einer Partei im freien Fall zu einem möglichen Wahlgewinner mit reellen Chancen auf die Regierungsübernahme entwickelt. Wie das Rahmenwahlprogramm für die Kommunal- und Regionalwahlen am 28. Mai 2023 verdeutlicht, platziert Feijóo die PP in der moderaten Mitte des politischen Spektrums.
- Mit der Neuaufstellung einer Parteistiftung unter dem Namen „Reformismo 21“ versucht Feijóo, Sachverstand und Impulse außerhalb der Partei zu mobilisieren und darüber die PP zu modernisieren.
- Die PSOE hat in der Koalition mit der linkspopulistischen UP eigenes Profil verloren. Weniger als die Hälfte ihrer Wählerschaft ist mit der Regierung zufrieden. Bei der UP ist dieser Wert deutlich höher. Ein Signal, dass UP viele ihrer Forderungen in Regierungshandeln umzusetzen vermochte.
- Die Linke spaltet sich weiter auf. Die kommunistische Arbeitsministerin Yolanda Díaz, eine charismatische und beliebte Politikerin, möchte mit einer neuen Sammlungsbewegung („Sumar“) aus ca. einem Dutzend linker Klein- und Splitterparteien bei den Nationalwahlen antreten.
- Der vermeintlich unaufhaltsame Aufstieg von Vox ist seit der Andalusienwahl im Mai 2022 gestoppt. Ihre derzeitigen Umfrageergebnisse von ca. 15% liegen deutlich unter den eigenen Erwartungen, dürfte aber ihrem Stamm-Elektorat entsprechen. Die politischen Avancen an die PP, gemeinsam das Linksbündnis zu bekämpfen, werden von der PP zurückgewiesen.
- Die liberale Ciudadanos wird aus dem Parlament ausscheiden. Der sich seit Jahren vollziehende Niedergang beschleunigte sich in den vergangenen Monaten. Anstelle einer konzisen Neuaufstellung erging sich dieser einstige Shooting-Star der spanischen Politik in interne Querelen, Führungsstreitigkeiten und Abspaltungen.
Regionen / Katalonien
- Noch regiert die sozialistische PSOE in der Mehrzahl der Autonomen Regionen, doch sehen die Umfragen in vielen Regionen PSOE und PP nahezu gleichauf.
- In Katalonien wird im Mai 2023 nur kommunal gewählt. Gleichwohl finden die Entwicklungen insbesondere in Barcelona auf dem Hintergrund der unverändert vorhandenen Separationsbewegung besondere Aufmerksamkeit. Zwar verliert die linksaußen positionierte regierende Regionalpartei ERC an Zustimmung, doch wird die Linke im Verbund mit der PSC/PSOE und einer linkspopulistischen Wahlplattform BComú weiter regieren können.
- Das bürgerliche Lager ist zersplittert. Zwar verbucht die dortige PP eine minimale Verbesserung um ca. 4% auf 8,9%, sie bleibt aber weit von jeglicher Gestaltungsoption entfernt. Mehr noch, mit einer neuen bürgerlichen Partei namens „Valents“ entsteht eine neue politische Konkurrenz. Diese ist noch klein (ca. 3,5%), doch engagieren sich dort vornehmlich junge Menschen.
- Ministerpräsident Sánchez hat seinen hohen politischen Preis für die Unterstützung seiner Nationalregierung durch nationalistisch-separatistische Gruppierungen Kataloniens bezahlt, in dem er strafrechtliche Zugeständnisse nur für diese Gruppierung Gesetz werden ließ. Die Abschaffung des Tatbestandes der „Aufruhr“ und die Veränderungen der Tatbestände der „Veruntreuung öffentlicher Mittel“ kommen den inhaftierten oder verurteilten Separatistenführer zugute. Der Rest des Landes und verfassungstreue Katalanen kritisieren diese Reformen heftig. Sánchez glaubt, durch diese Zugeständnisse die Katalonienfrage endgültig gelöst und befriedet zu haben. Worte und Taten der Separatisten in Katalonien belegen, dass diese Annahme ein Trugschluss ist. Das Thema bleibt auf der Tagesordnung.
Demokratie und Institutionen
- Die lange Zeit blockierten und umstrittenen Besetzungsverfahren am Obersten Gerichtshof und im Generalrat der Judikative lösten intensive Debatten über eine zunehmende „Politisierung der Justiz“ als weiteres Beispiel für eine schleichende Entwertung der Institutionen in Spanien aus.
- Die Verknüpfung dieser fachspezifischen Fragen mit anderen Gesetzesvorhaben und Eilverfahren durch die Links-Regierung weitete das Thema zum Jahreswechsel 2022/2023 zu Organstreitigkeiten zwischen den Gewalten aus. Die politischen Lager warfen sich gegenseitig vor, die Demokratie zu beschädigen bzw. sahen sich selbst als die Wahrer der wahren Demokratie. Mittlerweile sind die Besetzungen erfolgt. Das Thema ist zwar aus den Schlagzeilen verschwunden, doch dürfte der Konflikt noch lange nachhallen.
Gesellschaftliche Spaltung
- Der kleinere Koalitionspartner UP trieb auf der Zielgeraden der Regierungsperiode die Verabschiedung unterschiedlicher Gesetze zum Themenspektrum „Schutz von Frauen und sexuelle Selbstbestimmung“, „Gesetz zur Stärkung der Rechte transsexueller Menschen“ bis hin zum Tierschutz voran.
- Insbesondere das Gesetz zur sexuellen Selbstbestimmung, in Kurzform „Nur ein Ja ist ein Ja“ genannt, schlägt seit Wochen erhebliche politische und gesellschaftliche Wellen.
- Handwerklich nach einhelliger Meinung schlampig gemacht, führte die Abschaffung der Unterscheidung zwischen Missbrauch und sexueller Aggression und die Angleichung der Straftatbestände im Ergebnis dazu, dass in den wenigen Monaten seit Inkrafttreten des Gesetzes bis aktuell Ende März 2023 über 700 verurteilte Sexualstraftäter eine Strafminderung und über 80 sogar eine Freilassung erwirken konnten.
- Skandalträchtiger als das Gesetz an sich ist die Weigerung von UP, dieses zu korrigieren. Die zuständige Ministerin Montero machte eine „faschistische“ und „machistische“ Richterschaft für das Desaster verantwortlich. Der größere Regierungspartner PSOE hingegen hatte sich nach langem Zögern zur Korrektur entschlossen, weil der innerparteiliche Protest immer mehr anschwoll. Im Ergebnis haben die Koalitionspartner gegeneinander gestimmt. Die Korrektur wurde nur mit den Stimmen der oppositionellen PP möglich.
Wirtschaft und Soziales
- Spanien scheint wirtschaftlich augenscheinlich gut durch die Nach-Corona-Zeit zu kommen. Rekordwerte bei den Auslandsinvestitionen, eine hohe Erwerbsquote, höhere Renten etc. werden von der Linksregierung als Belege für diesen „Erfolg“ aufgeführt.
- Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass die Fakten im Langzeitvergleich nicht mehr so positiv sind. Die sogenannten Rekordinvestitionen sind absolut gesehen noch 38% niedriger als 2018. Die Arbeitslosenstatistik gilt nach einem neuen Berechnungsverfahren als geschönt und nicht realistisch, wie z.B. eine halbe Million Saisonarbeiter nicht mehr aufgeführt sind.
- Für die Zukunft Spaniens problematischer ist, dass sich die neue „Umverteilungspolitik“, die laut Ministerpräsident „Sánchez“ die herkömmliche „orthodoxe Wirtschaftspolitik“ endgültig ablöst, auf kostspielige Sozialleistungen stützt. Eine Rentenerhöhung um 8% erfreut die gegenwärtigen Rentenbezieher, belastet aber die zukünftige Generation erheblich.
- Die Staatsverschuldung ist unverändert hoch, Spanien besitzt immer noch ein relativ schlechtes Schuldenrating (Fitch:A-/ Moody’s: Baa1/ S&P: A). Die öffentlichen Ausgaben sind gestiegen, die Linksregierung hat keinerlei Einsparbemühungen unternommen.
- Spanien profitiert von der hohen Summe von ca. 160 Mrd.€ Mittel aus dem Programm Next Generation EU bis 2027. Ca. 22 Mrd.€ pro Jahr erlauben Investitionen in einem Ausmaß, zu dem die spanische Wirtschaftskraft alleine nicht annähernd in der Lage wäre. Immer wieder gibt es Berichte über administrative Schwächen in der Umsetzung und ausbleibende Auszahlungen. Der Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Parlaments moniert den Mangel an Transparenz, die Langsamkeit und die defizitäre Zusammenarbeit mit den Autonomen Gemeinschaften.
Außenpolitik / EU-Ratspräsidentschaft
- Ministerpräsident Sánchez hatte vor einem Jahr gleichsam über Nacht ohne politisch-parlamentarische Abstimmung die bis dato geltende Neutralitätsstrategie Spaniens gegenüber dem Westsahara-Konflikt aufgegeben und eine 180-Grad-Wende vollzogen. Offenbar war und ist das Druckpotenzial Marokkos bei der Kontrolle der Grenzübertritte von illegalen Flüchtlingen in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla hoch. Einer Steigerung des Handels mit Marokkos steht eine bilanziell noch höhere Einbuße des Handels mit Algerien gegenüber, das sich äußerst verärgert über die spanische Neuausrichtung zeigte und nunmehr mit Frankreich, Italien oder Griechenland neue (Energie-) Partnerschaften sucht – zum Schaden Spaniens.
- Zweimal reiste Ministerpräsident Sánchez nach Kiew, um der Ukraine die Unterstützung Spaniens zuzusichern. In seiner Außenkommunikation überdeckte Sánchez immer wieder die Spannungen innerhalb seiner eigenen Regierungskoalition, weil sich sein Regierungspartner UP öffentlich gegen das 2%-Ziel der Nato und gegen die Lieferungen militärischer Ausrüstung an die Ukraine ausspricht. Wie weit Worte und Taten auseinanderklaffen, zeigt die jüngst Übersicht des Kieler Institutes für Weltwirtschaft, der zufolge Spanien bei den Lieferungen gemessen an der Wirtschaftskraft auf Platz 22 zwischen Belgien und Luxemburg liegt.
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