Üksikpealkiri
Um 500 nach Christus geht die griechisch-römische Epoche in das Mittelalter über. Goethe hat
recht, wenn er auf die Kontinuität und mithin auf die Einheit der
3000-jährigen Geschichte abhebt, und zwar der europäischen, wie wir noch
sehen werden. Ablesbar ist die Kontinuität vor allem am Christentum, das mit
dem letzten Drittel der ersten 1500 Jahre beginnt und als dritter großer
Strang zur griechisch-römischen Antike hinzutritt.
Aber gibt es heute noch viele, die nicht "im Dunkeln unerfahren" bleiben
wollen und sich mit der Alten Geschichte beschäftigen? Welche Rolle spielt
dieses Fach oder allgemeiner die Antike im Bewusstsein der Öffentlichkeit?
Keine kleine, so der Eindruck, wenn man die Besuchermassen beobachtet, die
sich in Ausstellungen zu Themen wie Troja oder Konstantin dem Großen
drängen. Auch Filme über Alexander den Großen oder Hannibal sind
Publikumsrenner, und Biografien über Cäsar, Nero oder Marc Aurel finden
immer ihre Leser. Wie oft werden im Internet Themen oder Personen der Antike
angeklickt? Ergänzend zu Ausstellungen, Filmen und Büchern wird es nicht
selten sein. Bleibt dank dieser Medien auch historisches Wissen hängen?
In den Feuilletons der überregionalen Zeitungen werden Neuerscheinungen zu
antiken Themen regelmäßig besprochen, auch wenn, natürlich, die Neue
Geschichte und die Zeitgeschichte stärker vertreten sind. Und der Blick auf
die Spielpläne der deutschen Bühnen zeigt, dass auch die griechischen
Tragiker sowie die griechischen und römischen Komödien nicht vergessen sind.
Kaum ein Regisseur versäumt, seinem Publikum vorzuführen, wie zeitgemäß die
Antike ist. Mancher Zuschauer bekommt danach Lust, die alten Texte zu lesen;
der beachtliche Bestand an Übersetzungen antiker Autoren dient gewiss nicht
nur Studenten, die eine Hausarbeit in Alter Geschichte schreiben.
Eine einst wichtige Vermittlerin der Antike scheint mir aber schwacher
geworden zu sein: die Schule. Der Rückgang des Lateins, der sich erst in
jüngster Zeit umkehrt, und der Wegfall des Griechischen auf dem
humanistischen Gymnasium sind ein Grund. Dazu kommt die Neugestaltung des
Geschichtsunterrichts, der sich in Alter und mittelalterlicher Geschichte
auf thematische Schwerpunkte konzentriert. Diese dem Universitätsstudium
abgeschaute Form soll Aspekte der Antike und des Mittelalters aktualisieren.
Aber in der Schule lässt sich mit derartigen Probebohrungen eine fremde
Gesamtepoche nicht recht erfassen. Angehende Geschichtsstudenten haben von
Alter und mittelalterlicher Geschichte kaum je eine Ahnung. Dennoch: Heute
besucht fast die Hälfte eines Jahrgangs das Gymnasium und kommt im
Geschichtsunterricht wenigstens einmal mit der Antike in Berührung. Einen
Kontakt anderer Art bietet der moderne Massentourismus in den europäischen
Süden, in die Türkei und nach Nordafrika. Vermutlich beschäftigt sich
mancher Reisende, angeregt von den antiken Bauwerken und Exponaten, zu Hause
mit der Geschichte, Literatur und Kunst der Antike. Schließlich die Alte
Geschichte in Forschung und Lehre: Dass das Fach in Deutschland und in den
anderen europäischen Ländern oder in den Vereinigten Staaten kränkelt, wird
niemand behaupten, der einen Blick in die Bände des ,L'Annee philologique"
wirft, des vollständigsten internationalen Jahresverzeichnisses der
Altertumswissenschaft. Die Zahl der Titel hat in den vergangenen Jahren
stetig zugenommen und liegt mittlerweile bei über 13 000 Einträgen pro Jahr.
Die intensive Forschung hat dazu geführt, dass wir heute die Antike in ihrer
geistigen und gesellschaftlichen Entwicklung besser verstehen als je zuvor.
"L'Annee philologique" spiegelt auch wider, wie verflochten die
altertumswissenschaftlichen Fächer heute sind.
Eine Mittelstellung nimmt dabei die Alte Geschichte ein. Griechische und
lateinische Philologie stehen an erster Stelle, schon weil ohne
Sprachkenntnisse gründliches wissenschaftliches Arbeiten unmöglich ist.
Archäologie und antike Rechtsgeschichte, Philosophie und
Religionsgeschichte, Patrologie und alte Kirchengeschichte sind weitere
produktiv eingebundene Nachbarfächer. Die Alte Geschichte bedient sich ihrer
Ergebnisse und liefert ihnen den Hintergrund, und das umso mehr, als deren
ästhetische oder dogmatische Leitlinien längst von einer historischen
Betrachtungsweise abgelöst wurden.
Auch der geografische Rahmen der Alten Geschichte hat sich verändert. Der
alte Orient und Ägypten gehören als Vor- und Begleitkulturen zur griechischen
Geschichte, und in der römischen Geschichte werden die Völker rings um das
Imperium Romanum einbezogen. Deren Verbindungen zum großen Nachbarn haben
sich in der griechischen und lateinischen Literatur niedergeschlagen. Sie
verlieh den schriftlosen sogenannten Randkulturen eine Stimme, die heute
hilft, ihre materiellen Hinterlassenschaften zu interpretieren. Ethnologen
und Linguisten, die sich mit Skythen, Thrakern, Illyrern oder Berbern
beschäftigen, kommen ebenso wenig ohne Alte Geschichte und Altphilologie aus
wie die Keltologie und die germanische Altertumskunde.
Hilfe kommt zudem immer mehr von den Naturwissenschaften, der
Paläopathologie, der Paläobotanik und der anorganischen Chemie mit der
,4C-Methode. Und jüngst entschied die Genforschung den 2500 Jahre alten
Streit um die Herkunft der Etrusker: Herodot hatte recht, sie waren kein
autochthones Volk der italienischen Halbinsel, sondern kamen aus Kleinasien. Zu
einer wertvollen Helferin der Altertumswissenschaften hat sich auch die
Unterwasserarchäologie mit ihren spektakulären Funden entwickelt.
Die Alte Geschichte steht also in einem großen altertumswissenschaftlichen
Verbund. Würde sie wegfallen, entstünde im kulturellen Leben der Gegenwart
ein großes Loch, für das gewiss weder ein Politiker noch ein
Naturwissenschaftler die Verantwortung tragen möchte.
Doch was hat uns die Antike heute noch zu sagen? Der Zweifel, der in der
Frage mitschwingt, ist alt, sogar sehr alt: Er geht auf die Antike selbst
zurück. Die schlichteste Rechtfertigung hat Goethe geboten: Wer Europas
Gesamtgeschichte kennen will, muss die Antike einbeziehen, bei ihr muss
anfangen, wer die europäische Gegenwart aus ihren geistigen Wurzeln heraus
begreifen will. Wie sonst soll man den Unterschied zwischen Europa und
Indien oder China erklären? Deren geistige Physiognomie versteht letztlich
nur, wer mit Goethe 3000 Jahre zurückgeht. Keinem gebildeten Inder oder
Chinesen würde einfallen, das zu bestreiten. Sie wissen: 3000 Jahre
Geschichte machen Indiens und Chinas Identität aus.
Für Europa und für sein geistiges Ziehkind Amerika gilt dasselbe. Darauf
verwiesen osteuropäische Intellektuelle, als die Europäische Union nach
Osten erweitert wurde. Weil die Türkei diese Identität nicht teilt, tut sich
die Union mit der Einbeziehung Kleinasiens so schwer, solange sich die
Türkei nicht offiziell darauf besinnt, dass auch ihr Staatsgebiet für weit
mehr als tausend Jahre dem griechischrömischen Kulturkreis angehörte.
Wer also Europas geistige Einheit fördern will, muss fordern, dass die Alte
Geschichte eine Zukunft, nicht nur eine Vergangenheit hat! Im Grunde
genommen hat ja die Antike kein Ende genommen. Jedes Jahrhundert führte die
Auseinandersetzung auf seine Weise. Heute gilt es das Bewusstsein zu
fördern, dass die Antike mit ihren Komponenten Griechentum, Römertum und
Christentum zum bleibenden geistigen Profil des Kontinents beigetragen hat
und weiter beiträgt. Diese Aufgabe hat zunächst die höhere Schule, die
mittlerweile von jedem zweiten europäischen Jugendlichen besucht wird.
Unterrichtsgrundlage könnte ein international zu erarbeitendes
Geschichtsbuch sein, das anders als das "Europäische Geschichtsbuch" von
1992 der Antike und ihren Wirkungen den nötigen Raum gibt. Europas
Universitäten sollten dem Vorbild der USA folgen, wo das Bachelorstudium
auch auf Allgemeinbildung Wert legt. Der Bologna-Prozess hat
Rahmenbedingungen festgelegt; zu Inhalten hat er nichts gesagt. Warum soll
man nicht in den Cultural Studies ein europaweites Modul "Die Antike und ihr
Nachleben" einführen, bei dem Studenten aller Fächer Punkte für ihren
Abschluss sammeln können? Auch in das Programm "lebenslanges Lernen" könnte
die Antike ihr Wissenspotenzial einbringen. Dass es gerade von der älteren
Generation bereitwillig angenommen würde, lehren die zahlreichen Senioren,
die seit einiger Zeit die universitären Veranstaltungen zur Alten Geschichte
besuchen.
Eine solche Bildungsoffensive darf sich auf Goethe berufen. Seine oben
zitierten Verse beschließen ein Gedicht aus dem "Buch des Unmuts" im
"West-östlichen Divan". Es beginnt mit einer Klage über die Zersplitterung
Europas. Goethe dachte dabei an das diplomatische Geplänkel auf dem Wiener
Kongress: "Und wer franzet oder britet,/ Italienert oder teutschet,/ Einer
will nur wie der andere,/ Was die' Eigenliebe heischet." Über der Eigenliebe
hat Europa sein Erbe vergessen; es lebt, wie der letzte Vers besagt, "von
Tag zu Tage". Doch Goethe war überzeugt, dass sich die nationalen Egoismen,
wenn nicht aufheben, so doch zügeln ließen. Die Europäer müssten sich nur
bewusst werden, dass sie eine 3000-jährige Geschichte verbindet.
Heute haben wir Europas politische Einheit erreicht. Doch Johann Wolfgang
von Goethes Feststellung von 1814, dass der eine wie der andere nur will,
"was die Eigenliebe heischet", klingt, als habe er sie den Mitgliedern der
Europäischen Union kürzlich ins Stammbuch geschrieben. Wenn es ein Mittel
gegen die nationale Eigenliebe geben sollte, ist es dann nicht am ehesten
das von Goethe empfohlene? Auch für die fernere Zukunft sollte Europa der
griechisch-römisch-christlichen Antike in seinem geistigen Haushalt einen
festen Platz einräumen. Sie könnte dringend gebraucht werden, falls eines
Tages der Versuch unternommen wird, den Europäern eine ihnen fremde
Vergangenheit als die bessere religiöse und geistige Grundlage aufzuzwingen.