Üksikpealkiri
Abendland. Was für ein poetisches Wort. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass, wer vom Abendland redet, im Augenblick ein zorniges Zittern ins pathetische Sprechen legt. »Ich benutze das Wort Abendland nicht mehr«, sagte deshalb jüngst der ebenso geistesgegenwärtige wie geschichtsbewusste Karl Kardinal Lehmann in einem Interview. Das klingt wie eine Kapitulation.
Vielleicht müsste es den Straftatbestand des Begriffsraubs geben. Eine Räuberbande zieht durchs Land und stiehlt. Ich will mir das nicht gefallen lassen. Abendland ist ein so schöner deutscher Begriff. Und sein Gegenbegriff, Morgenland, von so märchenhafter Resonanz. Dieser Begriff hat Mozart-Opern, Erotik und opulente Wüstenabenteuer im Schlepptau. Abend – da klingt die blaue Stunde im Sommer an, wenn sich Ruhe über das Land legt und Zeit zum Nachdenken ist. Zeit für Freunde und Küsse und ein gutes Glas Wein. Der Begriff trägt die Dämmerung in sich.
Es verwundert deshalb nicht, dass er sich über die Jahrhunderte als genialer politischer Kampfbegriff für Welteindunkler erwiesen hat. Für sie ist das Abendland eine in die Vergangenheit verlegte Utopie, ein Sehnsuchtsort für Gegenwartsverächter in einer Welt, in der vermeintlich alles besser war. Die Feinde sind in dieser Kampfrhetorik auswechselbar. Frauen, die wählen wollen, oder die Akteure der Französischen Revolution, immer und überall die Juden, die jetzt in Form des Bindestrich-Etikettes als christlich-jüdisches Abendland für eine neue Form von politischer Korrektheit herhalten müssen, der Bolschewismus, der Kommunismus, der Kapitalismus oder der Fernseher, der im frommen Siegerland aus Gründen der Abendlandrettung in den Keller gestellt wurde.
Schon am Himmel des Martin Luther zeigten sich die apokalyptischen Reiter. Die Türken vor Wien, das war der erste große Abend der Welt, der mit dem Untergang des Abendlandes prophezeiht wurde. Was danach kam, konnte nur ein Albtraum sein.
Die Urszene westeuropäischer Untergangsfantasien prägte alle anderen kollektiven Ängste. Deshalb lässt sie sich vielleicht auch noch nach Hunderten von Jahren wieder aktivieren. Als kollektiver Seelenschmerz, an den die Fremden erinnern, die jetzt in großen Zahlen kommen. Für eine so gegenwartsversessene Generation wie die meine, der es schier unmöglich ist, in Jahrhunderten zu denken, weil sich alle zehn Jahre die Welt komplett verändert hat, mag das befremdlich sein: eine kollektive Phobie, die uralt ist und sich im Spiegel der islamistischen Gewaltexzesse anfühlt wie eine nagelneue Angst.
Angst kann man nicht wegreden. Sie ist auch nicht das Privileg der Dummen. Angesichts des Fremden und nicht nur der Fremden, angesichts all der Entwicklungen, die mit der Globalisierung schleichend unser aller Alltag verändert haben, angesichts dieser Wucht des Unbekannten steht das Eigene, was immer das ist, plötzlich auf dem Spiel. Wir haben uns angewöhnt, über Grundsätzliches nicht mehr öffentlich zu sprechen. Ist da noch etwas, das es zu verteidigen gilt? Welche Überzeugungen, welche Haltungen, welche Werte werden sich bewähren? Wer wird sich diese Haltungen wirklich zu eigen machen? Kollektive Ängste sind hartnäckig, nie ganz aus der Luft gegriffen und, wenn sie erst mal einen Infektionsherd finden, hoch ansteckend. Niemand ist vor Ansteckung durch Angst gefeit.
Das Gegengift gegen die Angst liegt ebenfalls im Abendland vergraben. Deshalb will ich mir den Topos auch nicht nehmen lassen von denen, die behaupten, das Abendland gehe gerade unter, weil es verraten würde durch Ignoranz oder alltägliches Kleinklein.
Lasst uns über das Abendland reden: Was geht verloren, wenn es untergeht? Wenn im Abendland eine kindliche Vorstellung der Abendstunden als Bild für die Zeitläufte steckt, dann versinnbildlicht die Dämmerung den Kampf der Geister um die Macht der Gedanken, die wir mit in den Schlaf nehmen. Die Erinnerung an diesen großen Topos des Abendlandes halte ich für angemessen. Woher kommen die geistigen Energien, die kulturellen Prägungen, die wirtschaftlichen Konzepte, die wissenschaftlichen Ideen und die politischen Überzeugungen, mit denen wir uns in die offene Zukunft wagen?
Zu lange haben wir die abendländischen Ideen in Klassikereditionen gepackt und an ihrer Übersetzung in die Gegenwart nicht genug gearbeitet. Vielleicht haben wir uns auch zu lange mit zu wenig zufrieden gegeben. Wir müssen wieder lernen, das Abendland mit Verve zu verteidigen. Nur müssen wir uns darüber verständigen, wofür es steht.
Das Abendland ist die große Erzählung, nach der wir unser Leben ausrichten können. Wenn diese Erzählung aber gar nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat, ist der erste Verrat am Abendland schon begangen. Das Abendland als Kampfbegriff schert sich einen Dreck um Zahlen und Fakten. Es erzeugt große Emotionen und ist im taktischen Kampf um Aufmerksamkeit immer zielsicher bei den größten Empfindlichkeiten der Gesellschaft. Ohne Inhalt nimmt es seine Macht aus dem Dagegensein. Es ist der Aha-Effekt für die, die sich dem Weltlauf ausgeliefert fühlen.
Das andere, das richtige Abendland, trägt in seiner Verfassung die Aufforderung, diesen Weltenlauf trotz allen Umbrüchen mitzugestalten. Dafür muss man Positionen formulieren, Überzeugungen, Einsichten und Haltungen. Die Quellen entspringen auf vier berühmten Hügeln. Es lohnt sich, sich dieser Hügel zu erinnern und sie intellektuell neu zu ersteigen. Das ist mühsam. Doch oben entschädigt eine wunderbare Aussicht auf das Abendland als Zukunftsreich.
Da ist der Sinai. Er steht für den Aussichtspunkt, von dem Mose erst für sein Volk und dann für die Völker der Christenheit die zehn Gebote mitbrachte, eine gute Ordnung, die bei aller Auslegungsbedürftigkeit immer noch der Maßstab allen Handelns sein kann. Der nächste Hügel ist die Stadt auf dem Berg. Jerusalem. Hier redet Jesus mit der Offenbarung des Mose im Herzen von Gott, der sich im Menschen zeigt. Hier stirbt der Gottessohn, damit die Menschenopfer ein Ende haben. Gott zeigt sich im Angesicht der Gefolterten und der Leidenden. Was für eine Provokation in diesen Tagen. Damit ist aber noch nicht gesagt, wo und wie den leidenden Gotteskindern am besten geholfen ist. Doch mit Golgatha werden der Zynismus und das Wegsehenwollen zur Schuld.
Auf dem dritten Hügel, der Akropolis, diskutieren die Philosophen. Sie streiten um die Wahrheit der Welt. Auf dem vierten, dem Kapitol, wird das römische Recht alltägliche Praxis. Hier entsteht die Möglichkeit, Menschen als Freie und Gleiche vor dem Gesetz zu verstehen. Von diesen vier Hügeln kommt unsere Vergangenheit. Hier sind die Quellen für das, was uns geistig geprägt hat. Diese Quellen sind nicht versiegt. Wenn große alte Männer über die symbolischen Gründungsorte des Abendlandes geredet haben, fehlte der Sinai übrigens. Auch das gehört zur Geschichte des Abendlandes, das sich nun in Bindestrich-Theologien verausgabt: Jüdisch-christliches Abendland wollte es nie sein.
Was von diesen Hügeln in die Welt gelangte, ist eine ethische Orientierung, die ihren Maßstab am Anderen gewinnt, eine Vorstellung von Gott und Mensch, die sich mit Unterwerfung nicht zufriedengibt, ein Recht, das dem Anspruch nach ohne Willkür auskommt. Dieses Erbe gehört nicht in Tresore und Museen. Mehr denn je sind diese Grundlagen ein Kraftfeld und ein Labor für die Menschlichkeit des Menschen. Am Aussichtspunkt mögen abstrakte Ideen stehen: wie den Nächsten lieben? Wie noch Hoffnung fassen? Wie Gerechtigkeit erlangen? Vielleicht ist die vierte, die römische Quelle die, die am stärksten vom Vertrocknen bedroht ist. Denn wir Abendländer haben die Selbstrelativierung ziemlich weit getrieben und den Zweifel an uns selbst kultiviert. Viele unserer geistigen Ansprüche sind im postmodernen Grundrauschen verschwunden, mit tückischen politischen und kulturellen Folgen. Denn wenn alles und jedes nur eine Frage der Perspektive ist, dann gilt das irgendwann auch für Menschenrechte, Religionsfreiheit oder Demokratie.
Russische und chinesische Intellektuelle haben diese moribunde Haltung der Abendländer in eine politische Tugend verwandelt, die sich gegen uns selbst richtet. Jede Position erscheint plötzlich legitim. Die Aufklärung als Grundgeste steht im Widerspruch dazu. Dabei ist die Suche nach der Wahrheit, so mühsam und irritierend sie auch sein mag, die Grundhaltung, die dem abendländischen Geist entspricht. Wahrheit tut weh und macht frei, sie legt Irrtümer offen und entlarvt Selbstbetrug. Zum Abendland gehören das Unterwegssein und das Unterscheidenkönnen, die Einsicht in Fehler und die Freude an Korrekturen. Im Abendland gelten Meinungen noch nicht als Urteile, selbst dann nicht, wenn sie mit moralischem Gestus vorgetragen werden. Argumente lassen sich nicht durch Drohungen oder Gebrüll entkräften. Beleidigung ist keine Tugend und Ressentiment nicht der Ersatz für ein heftiges Widerwort.
Unterscheidungen sind die heilsamen Grenzen des Abendlandes. Hier gelten Detailverliebte, die mit »Ja, aber ...«-Sätzen in das Gespräch einsteigen, nicht als Spinner. Religion ist nicht Wirtschaft ist nicht Politik ist nicht Wissenschaft ist nicht Kunst. Alle Selbstverständlichkeiten, mit denen wir heute gut leben, haben in diesen Unterscheidungen ihren Ursprung. Wer diese Grenzzäune wieder einreißt, überlässt die zugegebenermaßen komplexe Welt diffusen Mächten. Doch was bedeutet die Suche nach Wahrheit heute? Was bedeutet die Sehnsucht nach wahrhaftiger Information und glaubwürdigen Persönlichkeiten, wenn der unbedingte Wille zur Durchsetzung wichtiger wird als die Kunst der Kompromisse und der Konsense? Wie noch wahrhaftig von Gott reden, wenn es Menschen gibt, die sich in seinem Namen in die Luft sprengen, während das christliche Tischgebet bestenfalls als Marotte, schlimmstenfalls als Kasus fürs Jugendamt gilt?
Das Christliche am Abendland zu retten wäre eine große Debatte wert. Es hat das Abendland weit über das hinaus geprägt, was von selbstverständlicher Kirchlichkeit übriggeblieben ist. In der konfessionellen Verschiedenheit lebt nicht nur der Schmerz der Trennung, sondern auch die Möglichkeit religiöser Pluralität bis in die Rechtsform des Grundgesetzes weiter. Was bedeutet diese Grundlage für Muslime und andere religiöse Minderheiten? Der historischen Wirklichkeit von Barbarei und Unterdrückung des Anderen ist im Abendland von Anbeginn eine Gegenerzählung mitgegeben, die keineswegs naiv von Toleranz faselt, während sie Ignoranz meint, sondern die heilende, helfende Macht der Religion ernst nimmt. Das Abendland ist ein Refugium wacher Geister, die sich mit dem, was ist, nicht zufriedengeben wollen. Hier ist Kritik an den Herrschenden genauso erlaubt wie Kritik an den Eliten. Sogar Kritik an Gott und den Gläubigen gehört dazu, denn die Theologie des Abendlandes war immer auch Religionskritik auf hohem Niveau. Nur ist Kritik kein Selbstzweck. Sie berauscht sich nicht am Selbstmitleid oder am wunden Punkt, der endlich gut getroffen ist. Kritik sucht die Wahrheit. Und sie macht nicht beim Anderen halt.
Das Abendland ist auch das stille Örtchen der Selbstbefragung und der unentwegten Selbstbegegnung. Davon zeugen die Bibliotheken, die Konzertsäle und die Kapellen am Weg. Was wäre, wenn die sozialen Netzwerke eine solche Energie der Zuversicht, der Selbstkritik und der Zukunftsfantasie entwickelten? Das Abendland als politischer Kampfbegriff sucht sein Heil in einer erfundenen Vergangenheit. Das Abendland als kultureller Horizont gibt Orientierung für die Zukunft. Dieses Abendland ist die einzige Heimat, die uns niemand nehmen kann außer wir uns selbst.
Dieser Beitrag erschien zuerst in Christ & Welt Ausgabe 23/2016