Als sich die Studenten am 17. November 1989 vor der medizinischen Fakultät im Prager Stadtteil Albertov anlässlich des 50. Jahrestages des von Nazis ermordeten Studenten Jan Opletal versammelten, wollten Sie diesmal mehr als nur zurückblicken. Sie wollten Freiheit. In Polen und Ungarn brachen bereits die sozialistischen Regime zusammen.
Die Berliner Mauer, ein Symbol des Eisernen Vorhangs und des Kalten Krieges, fiel eine Woche zuvor. Und in der Tschechoslowakei war die Wende auch zu erwarten. Die Demonstration war angemeldet und genehmigt, weil sie auch von der Socialistický svaz mládeže, dem sozialistischen Jugendverband, mitveranstaltet wurde. Zehntausende nahmen an der Demonstration teil. Es war aber nicht erlaubt in das Zentrum der Stadt zu gehen, deswegen ging der Demonstrationszug in Richtung Vyšehrad, da auf dem Friedhof in unmittelbarer Nähe südlich der Prager Neustadt zahlreiche bedeutende tschechische Künstler, Wissenschaftler und Politiker bestattet sind. Trotz des Verbots erschien der Umzug am Abend im Zentrum der Stadt und wurde auf der Národní třída, der Nationalstraße, von der Polizei gestoppt. Da die Demonstranten friedlich weiter machen wollten, setzten sie sich vor den Polizeikräften auf den Boden, Frauen begannen den Polizisten Blumen hinter die Schutzschilder zu stecken, und die Menge erhob die Hände und rief: „Wir haben leere Hände“. Die Polizei reagierte gewaltsam und zerschlug die Demonstration mit großer Brutalität.
Dies war die Initialzündung für noch größere Proteste, die auf das ganze Land übergriffen. Die Studenten riefen einen zeitlich unbegrenzten Streik auf, Schauspieler der Prager Bühnen schlossen sich dem an. Mit Parolen wie „Studenten aller Fakultäten, vereinigt euch!“ (was natürlich eine sarkastische Variation der kommunistischen Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ war), „Jakeš in den Mülleimer!“ (wobei sich in der tschechischen Sprache „Jakeše“ auf „do koše“ reimt), „Havel auf die Burg“ und das „letzte Geläut“ (für das kommunistische Regime, da in den Straßen mit Schlüsseln geklingelt wurde) forderten die Menschen Freiheit, Demokratie, freie Wahlen und die Abdankung des kommunistischen Regimes. Das führte zum Rücktritt des Politbüros der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, dem Rücktritt des Generalsekretärs Miloš Jakeš und auch des Staatspräsidenten Gustav Husák. Die Bestimmung über die führende Rolle der Kommunistischen Partei in der Verfassung wurde aufgehoben, der Stacheldraht an der Grenze zu Österreich und zur Bundesrepublik Deutschland entfernt, die erste mehrheitlich nichtkommunistische Regierung wurde ernannt und Václav Havel zum Staatspräsidenten gewählt. Im März 1990 wurde die Tschechoslowakische Föderative Republik ausgerufen und im Juni fanden freie Parlamentswahlen statt.
Wie wird 30 Jahre danach gefeiert?
Fällt das Augenmerk auf die offiziellen Repräsentanten Tschechiens, gibt es eher zurückhaltende Äußerungen mit Blick auf den 30. Jahrestag. Sie sind Ausdruck einer zunehmenden politischen Polarisierung im Lande. Insbesondere in Teilen der Zivilgesellschaft, aber auch in den Oppositionsparteien, hat sich mit Blick auf die Entwicklung der Demokratiequalität in den letzten Jahren ein Krisennarrativ verfestigt. Der 17. November wird wie in den Vorjahren nicht nur ein Tag des Gedenkens, sondern auch Anlass zum Protest gegen die aktuelle Regierungspolitik – nicht nur in Tschechien, sondern auch in der Slowakei. Der tschechische Staatspräsident Miloš Zeman kündigte an, sich am Vorabend des Jahrestages mit der slowakischen Präsidentin Zuzana Čaputová zu treffen, den Jahrestag selbst aber im privaten Rahmen zu begehen. „Am 17. November werden nur diejenigen feiern, die nicht dabei waren“, so Zeman, bekannt für seinen rustikalen bis hin polemischen Kommunikationsstil. Regierungschef Andrej Babiš, ein gebürtiger Slowake, wird das Jubiläum am 17. November in Prag und in Bratislava begehen. Die tschechische Regierung selbst eröffnet am Vormittag im Nationalmuseum eine Ausstellung zur Samtenen Revolution, an der die Amtskollegen von Babiš aus Polen, Ungarn und der Slowakei teilnehmen werden sowie auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble.
Im Vordergrund werden aber eine Vielzahl von Jubiläumsfeiern, Podiumsdiskussionen, Aktionen und Konzerte stehen. Sie werden die Werte von 1989 und insbesondere das politische Erbe Václav Havels in den Vordergrund stellen. Viele bekannte Protagonisten von damals werden dabei sein, aber auch Weggefährten aus dem Ausland wie Lech Walesa und Joachim Gauck. Im Prager Stadtteil Albertov, wo alles begann, wird der Vormittag dem Občanské fórum, dem Bürgerforum als Motor der Samtenen Revolution, gewidmet. Am Nachmittag startet die Rekonstruktion des Demonstrationszuges aus dem Jahre 1989 bis zur Národní třída, dort wo die Demonstration damals zerschlagen wurde. Anschließend findet auf dem Václavské náměstí, dem Wenzelsplatz, im Rahmen des „Festivals der Freiheit“ ein Konzert statt, auf der verschiedene Gruppen und auch Persönlichkeiten des Jahres 1989 auftreten. Nicht in den Hintergrund treten darf aber, dass auch in der Slowakei das Jubiläum mit zahlreichen Events begangen wird. Im Nachbarland wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die „Sanfte Revolution“ (im Slowakischen spricht man in der Tat von der nežná revolúcia und nicht wie im Tschechischen von der sametová revoluce, welche sich in der Übersetzung in andere Sprachen als Begriff „Samtene Revolution“ durchgesetzt hat) schon im Jahr davor in Bratislava ihren Ausgangspunkt hatte. Die sogenannte „Kerzenmanifestation“ vom 25. März 1988 war die erste Demonstration für Bürgerrechte und Religionsfreiheiten in der damaligen Tschechoslowakei, organisiert von der Kirche im Untergrund.
Die tschechische Gesellschaft und der 17. November – Spiegelbild eines gespaltenen Landes
Doch wie beurteilen die Menschen den 30. Jahrestag der Samtenen Revolution? Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass nicht jeder in Jubelstimmung ist, wenn es um die Beurteilung von 1989 geht. Die tschechische Gesellschaft scheint gespalten zu sein. Laut der Umfrage der Gesellschaft NMS Market Research bewerten nur 36% der Menschen über 40 Jahre die Zeit nach 1989 eindeutig positiv. Bei denen mit Grundschulabschluss und Berufsausbildung denkt jeder zweite, dass man in der Zeit des Sozialismus besser lebte (52%). Es fällt auf, dass zwar vor allem jüngere Tschechen oder diejenigen mit Hochschulbildung eine kritische Einstellung zu der Zeit vor der Samtenen Revolution haben, während viele ältere Menschen sich nach der Zeit vor 1989 sehnen. Die häufigsten Argumente sind, dass damals jeder arbeiten konnte und soziale Sicherheit für alle bestand. Ein Argument, dass angesichts einer extrem niedrigen Arbeitslosenquote im heutigen Tschechien von nur 2,6% nicht sehr überzeugend wirkt. So geben auch drei Fünftel aller Befragten an, dass sich die wirtschaftliche Situation in der Tschechischen Republik seit 1989 wesentlich verbessert habe und die Hälfte sagt, dass sich ihr Lebensstandard verbessert habe.
Der Journalist Mikuláš Kroupa, der mit seiner Erinnerungsinitiative „Post Bellum“ die Umfrage in Auftrag gegeben hat, sieht darin Anzeichen, dass ein beträchtlicher Teil der tschechischen Bevölkerung dazu neigt, alles zu ignorieren und in Resignation zu verfallen: „Diese Leute behaupten dann die Demokratie habe versagt, die Träume von Wohlstand hätten sich nicht erfüllt und im Sozialismus sei es besser gewesen.“ Gleichwohl sieht Kroupa aber auch, dass viele Bürger die Hoffnung verloren haben, dass sich die Versprechungen erfüllen, die unmittelbar nach der Samtenen Revolution gemacht wurden. „Dazu gehörte etwa, dass wir schon bald hier Löhne wie in Westdeutschland haben würden und dass Gerechtigkeit in die Justiz einzieht“, so Kroupa.
Der Prager Weihbischof und ehemalige Dissident Václav Malý sieht darin einen längeren Lernprozess zu einem Leben in Freiheit und Verantwortung, den auch die tschechische Gesellschaft durchmachen müsse: „Es liegt an jedem von uns, ob wir die Freiheit als eine lebenslange mit der Mitverantwortung für den öffentlichen Raum verbundene Mission verstehen und ob wir das demokratische Denken pflegen und vertiefen und nicht warten, dass uns jemand an dem Händchen führen wird, damit wir keine Verantwortung übernehmen müssen.“ Der bekannte katholische Priester und Universitätsprofessor Tomáš Halík erinnerte im Vorfeld des Jahrestages an die wichtige Rolle von Bildung und Zivilgesellschaft. Es sei wichtig, dass in den Familien, im Bildungssystem, den öffentlich-rechtlichen Medien und Kirchen besser und systematisch die Fähigkeit des kritischen Denkens kultiviert und das Bewusstsein der bürgerlichen Verantwortung und Solidarität gestärkt werde.
„Es ist Zeit für die Demokratie einzutreten“
Der Rückblick auf die Ereignisse von 1989 erfolgt heute für viele unter dem Blickwinkel,
wie sie die aktuelle politische Lage beurteilen. So hat eine Umfrage der „Open Society Foundations“ in den Ländern Mittelost- und Südosteuropas ergeben, dass auch in Tschechien und vor allem in der Slowakei das Misstrauen in die Regierungen sehr ausgeprägt ist bis hin zu der Sorge, dass die Demokratie in Gefahr sei. Am Vorabend des 30. Jahrestages der Samtenen Revolution ist in Prag eine Protestkundgebung angekündigt. Organisator ist der Verein Milion chvilek pro demokracii („Eine Million Augenblicke für die Demokratie“), der bereits im Sommer des Jahres 2019 einen Massenprotest gegen den Regierungschef Andrej Babiš veranstaltete. 250.000 Menschen kamen damals auf die Letná-Anhöhen über der Prager Altstadt, es war die größte Demonstration in Tschechien seit der Samtenen Revolution. Die Demonstranten forderten den Rücktritt des Regierungschefs und der Justizministerin. Die Wurzeln der Unzufriedenheit liegen im massiven Interessenkonflikt des Premierministers und Milliardärs Babiš, der als Gründer des „Agrofert“-Konzerns, zu der auch die einflussreiche Mediengruppe „Mafra“ gehört, eine bedenkliche Konzentration von politischer, wirtschaftlicher und medialer Macht aufweist. Seine von ihm im Jahre 2011 gegründete politische Bewegung ANO („Aktion unzufriedener Bürger“) entspreche einer „lupenreinen Unternehmerpartei“, so der Politologe Vít Hloušek von der Masaryk-Universität im tschechischen Brünn. Charakteristisch für derartige Parteien seien neben der dominanten Rolle des Gründers und Parteiführers, seine wirtschaftlichen Eigeninteressen, die Übertragung von businessüblichen Handlungsmethoden in die Politik sowie extrem zentralisierte Entscheidungsmethoden.
Konkreter Anlass der Proteste im Sommer waren der Verdacht des Subventionsbetrugs von EU-Fördergeldern für das zum Agrofert-Konzern gehörende Luxusressort "Storchennest". Hinzu kam die Bestellung von Marie Benešová zur Justizministerin, einer engen Vertrauten von Staatspräsident Zeman, und den daraus folgenden Befürchtungen um die Unabhängigkeit der Justiz. Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Babiš sind in der Zwischenzeit eingestellt worden. Für den Fall, dass sie wieder aufgenommen werden, hat Zeman in einem Radiointerview bereits darauf hingewiesen, dass er den Premierminister im Falle einer Verurteilung begnadigen werde. Die erneuten Proteste am Vorabend des 17. November sind deshalb von der Sorge getragen, dass unter der politischen Führung des Machtduos Zeman und Babiš vieles von dem in Gefahr gerät oder schon in Mitleidenschaft gezogen wurde, was in dem Land seit 1989 auf der Basis liberaldemokratischer Werte aufgebaut wurde. Es ist die Sorge um den Verlust an Demokratiequalität, um Einschränkungen von Rechtsstaatlichkeit und Medienpluralismus. Die tschechische Zivilgesellschaft, in der Tradition des Prager Frühlings, der Charta 77 und der Ereignisse des Jahres 1989, sieht sich hier als Vorreiter der Demokratisierung: "Der dreißigste Jahrestag der Samtenen Revolution lädt uns ein, wieder unsere Stimme zu erheben und über aktuelle Themen nicht zu schweigen. Es ist wieder Zeit für die Demokratie einzutreten," steht entsprechend im Protestaufruf des Vereins „Eine Million Augenblicke für die Demokratie“.
Politische Realität in Tschechien und der Slowakei
Ein weiter Stein des Anstoßes insbesondere für die jüngere Generation ist, dass die nicht reformierte kommunistische Partei KSČM 30 Jahre nach dem Ende der kommunistischen Diktatur nicht nur im Parlament sitzt, sondern durch die Unterstützung der von Andrej Babiš geführten Minderheitsregierung erstmals wieder einen direkten Einfluss auf die Regierungspolitik hat. Entsprechend selbstbewusst treten die Repräsentanten der KSČM auch auf. Vor kurzem erklärte deren Vizevorsitzender Stanislav Grospič, dass der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968 keine Okkupation seitens der UdSSR gewesen und die Opfer meistens bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen seien. Zur Realität gehört aber auch, dass es derzeit zur Minderheitsregierung der ANO von Andrej Babiš zusammen mit den Sozialdemokraten, toleriert von der kommunistischen KSČM, keine ernstzunehmende politische Alternative gibt. Zu sehr zersplittert und auch uneinig ist die demokratisch-liberale Opposition im Abgeordnetenhaus des tschechischen Parlaments. Hinzu kommt, dass viele Menschen in Tschechien den Vorwürfen gegenüber Babiš mit einer Art Gleichgültigkeit gegenüberstehen. Sein Versprechen, das Land wie eine Firma zu führen, hat verfangen. Nach der neusten Umfrage der Agentur Kantar steht die Partei ANO mit 31,5% weit vorne an der Spitze. Die nächsten turnusmäßigen Parlamentswahlen stehen erst im Herbst 2021 an.
Im Nachbarland Slowakei wird bereits Ende Februar 2020 gewählt, also in gut drei Monaten. Die Proteste des Bündnisses Za slušné Slovensko („Für eine anständige Slowakei“) und der demokratischen Opposition, die in Bratislava ebenso anlässlich des Jahrestages geplant sind, erfolgen bereits in der Atmosphäre des aufziehenden Wahlkampfes. Die Slowakei ist im Frühjahr 2018 nach dem Doppelmord an dem investigativen Journalisten Jan Kuciak und seiner Lebensgefährten in große politische und gesellschaftliche Aufruhr geraten. Die andauernden Korruptionsfälle und Berichte, dass hinter dem Mord die italienische Mafia mit Kontakten bis in die politische Spitze des Landes stehe, führten zu landesweiten Massenprotesten und den Rücktritt des sozialdemokratischen Premierministers Robert Fico und seines Innenministers. Im Gegensatz zur Tschechischen Republik besteht mit der Wahl der Rechtsstaats- und Umweltaktivistin Zuzana Čaputová zur Staatspräsidentin im Frühjahr 2019 ein politisches Gegenwicht zur umstrittenen Regierungskoalition unter Führung der in den Strudel von Klientelismus und Korruption geratenen sozialdemokratischen SMER-SD. Die aktuelle politische Lage in der Slowakei ist aber zu unübersichtlich für Prognosen, ob esim nächsten Jahr zu einem Regierungswechsel kommen könnte.
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