Riikide raportid
Islamisierung bedeutet nicht Arabisierung
Der gelegentliche Besucher Indonesiens merkt oft gar nicht sofort, dass er im größten islamischen Land der Welt ist. Natürlich ruft der Muezzin mehrmals täglich (und nächtlich!) vernehmlich zum Gebet, natürlich finden sich auch überall Moscheen und natürlich tragen manche Frauen und Mädchen ein Tuch über dem Haar - dazu meist T-Shirts und Jeans. Sehr selten hingegen sieht man den Gesichtsschleier, der nur die Augen unbedeckt lässt, und dann lassen die Gesichtszüge des männlichen Begleiters meist auf eine Besucherin aus dem Mittleren Osten schließen.
So wenig islamisch sieht Indonesien auf den ersten Blick aus, dass auch kundige westliche Beobachter es oft als "Sonderfall" betrachten, als nicht "wirklich islamisch". Nicht Java sei islamisiert, sondern der Islam sei javanisiert worden, könnte man diese These zuspitzen: Synkretistisch sei der indonesische Islam, nicht "pur", also nicht wirklich "echt".
Von frühen Einflüssen abgesehen, erreichte der Islam im wesentlichen erst ab dem 14. Jahrhundert langsam das damals hindu-buddhistische Indonesien, also nach der eigentlichen Hochblüte des Islam. Kaufleute und Händler brachten ihn u. a. aus Südindien mit und verbreiteten ihn nach vorherrschender Meinung gewaltlos und friedlich. Fürsten einerseits, die ihre Herrschaft auch religiös legitimierten, und Händler andererseits waren die ersten, die sich zum Islam bekehrten. Diese Form des Islam war von al-Ghazali beeinflusst und hatte somit eine starke mystische Tendenz, die ihren Ausdruck etwa in folgendem Zitat findet: "Askese ... bedeutet, das weltliche Leben zu hassen. Wenn jemand die Welt hasst, wird er notwendig das Jenseits lieben. Und wenn er das Jenseits liebt, wird Gott ihn lieben."
Der bedeutende islamische Intellektuelle Nurcholis Madjid hält diese relativ späte Islamisierung für einen der Gründe, warum der Islam in Indonesien sich stärker an die lokale Kultur angepasst habe als andernorts. Er kommt zu dem Schluss, dass der Islam in Indonesien sich insofern von dem Islam in arabischen Länder unterscheide, dies aber nicht seinen "Wesensgehalt" betreffe.
Auch wenn Indonesien also weniger arabisiert sei als viele andere muslimische Länder, tue man gut daran, das Land als genuinen Teil der islamischen Welt zu begreifen und nicht als eine "exotische Sonderform": Islamisierung bedeute nicht Arabisierung.
Religion als normatives Orientierungs- und Steuerungssystem
Die meisten Indonesier, Moslems oder nicht, sind trotz der Neigungen zum Mystizismus so diesseitsfroh wie nur irgendwer, und das angesichts ihrer nicht gerade beneidenswerten politischen, ökonomischen und sozialen Lage.
Religion dient ja nicht nur der Befassung mit dem Jenseits, sondern auch der Bewältigung des Diesseits: Sie hilft, die komplexe und oft beängstigende Wirklichkeit deutend zu verstehen, sie gibt normative Handlungsanweisungen und Verhaltensempfehlungen und stellt natürlich auch ein wichtiges identitätsstiftendes Element dar.
Ebenso wie viele Christen haben auch viele Moslems das Problem, ihre religiöse Identität in Integrität zu leben, die Gebote und Verbote ihrer Religion mit den Gegebenheiten einer sich rasch wandelnden Welt mit immer neuen Herausforderungen in Einklang zu bringen. Das Tempo dieses Wandels ist für viele Moslems aber vermutlich weitaus höher als für viele Menschen in westlichen Ländern. Dadurch entstehen massiver Modernisierungsstress, kognitiv-normative Dissonanzen, Bedrohung von Identität, Gefährdung von Integrität. Dies sind einige Komponenten der komplexen Situation, in der sich Indonesien befindet.
Ethnizität, Religionszugehörigkeit, Solidarisierung und Konflikt
Seit der Teilung Pakistans ist Indonesien mit Abstand das bevölkerungsreichste islamische Land der Welt. Eigentlich ist es eher ein maritimer Kontinent, der sich von Sabang an der Nordspitze Sumatras bis nach Merauke in Papua erstreckt, was etwa der Entfernung von London nach Teheran entspricht. Etwa 187 Mio. seiner 210 Mio. Einwohner bekennen sich zum Islam. Der Rest sind katholische und protestantische Christen, Buddhisten, Hindus oder auch Animisten. In Teilen Sumatras z. B. wurde von dem Deutschen Nommensen protestantisch missioniert, der Osten Indonesiens, vor allem die Inseln Flores, West- und Osttimor, Irian Jaya, die Molukken und Teile Sulawesis galten traditionell als überwiegend katholisch. Java, weite Teile Sumatras und Sulawesis, Lombok z. B. sind dagegen islamisch dominiert, während Bali die einzige stark hinduistisch geprägte Insel des Archipels ist. Animismus ist vor allem auf Borneo und in Irian Jaya verbreitet, oft aber auch fester Bestandteil der "Alltagsreligion" aller Konfessionen.
Ethnische Zugehörigkeit ist in diesem sehr heterogenen und von der gemeinsamen holländischen Kolonialgeschichte abgesehen an verbindenden Elementen eher armen Land neben der Religionszugehörigkeit das zweite wichtige Element, das die Identität der Menschen prägt. Die traditionellen Verhaltenskodizes ("Adat" genannt) dieser Gruppen schreiben ihren Mitgliedern vor, was richtig und was falsch ist. Sie ergänzen religiöse und staatliche Vorschriften, stehen hier und da wohl mit ihnen auch in Konflikt.
Ethnische Zugehörigkeit und Religionszugehörigkeit deckten sich in vielen Fällen und stimmten weitgehend auch mit Siedlungsräumen überein. Die immer stärkere Übervölkerung Javas veranlasste die Regierung Soeharto dann zu einer aktiven Umsiedlungspolitik aus Java auf die dünner besiedelten Inseln. Dies führte zu einer Veränderung der traditionellen Gleichgewichte der Strukturen: Weite Gebiete wurden gleichzeitig stärker javanisiert und islamisiert.
Der indonesische Multikulturalismus, der zunächst von einer großen Vielfalt relativ homogener aber von einander getrennt lebender ethnischer Gruppen innerhalb des Gesamtstaates geprägt war, erforderte immer mehr ein Zusammenleben verschiedener, einander in mehrfacher Hinsicht fremder Ethnien mit verschiedenen religiösen, kulturellen und oft auch sprachlichen Bindungen sowie unterschiedlicher wirtschaftlicher Leistungsfähig- und -willigkeit innerhalb relativ kleiner Räume. Ihre Integration ist in vielen Fällen nicht geglückt, die gemeinsame Kolonialgeschichte und die Zugehörigkeit zu einer jungen Nation reichten nicht aus, die massiven Gegensätze in fruchtbarer Form in konstruktive Bahnen zu lenken.
Die zum Teil unglaublich grausam ausgetragenen lokalen Konflikte etwa auf Borneo oder den Molukken sind daher auch meist mehrdimensional und lassen sich nicht so einfach als rein religiöse Konflikte verstehen, obwohl die Solidarisierung und Gruppenbildung oft entlang religiöser Grenzen verläuft.
Religionszugehörigkeit eignet sich aufgrund dieser Konstellation sehr gut als Mittel, politisch, sozial oder ethnisch motivierten Abneigungen eine scheinbare höhere Weihe zu verleihen, sie zu radikalisieren und zu fundamentalisieren und auch eigentlich lieber neutral bleiben wollende zwangsweise in die Auseinandersetzungen hineinzuziehen. Dies hat in Indonesien allein in den letzten zwei bis drei Jahren etwa 10.000 Menschen das Leben gekostet und weit mehr als eine Million Inlandsvertriebene produziert. Ein Hauptkrisenherd, die Molukken, wird im Westen verglichen mit Osttimor oder Aceh im Norden Sumatras weniger stark wahrgenommen.
Erscheinungsformen und Organisationen des Islam in Indonesien
Der Islam wird meist in die Richtungen Sunna und Schia eingeteilt, in Indonesien gehört er praktisch ausschließlich zur Sunna. Seine Anhänger auf Java werden meist grob einer von zwei Hauptströmungen zugerechnet. Die erste große Gruppe wird gewöhnlich als "Abangan" ("die Roten") bezeichnet. Dies sind vor allem die oben erwähnten "Synkretisten", die ihre lokalen Traditionen in ihr Religionsverständnis eingebracht haben. In der Praxis sind sie meist sehr tolerant gegenüber anderen, aber auch sich selbst gegenüber. So befolgen sie nicht immer pünktlich alle religiösen Pflichten (z. B. fünf tägliche Gebete, den Fastenmonat oder das Gebot der Pilgerfahrt nach Mekka).
Im Unterschied zu ihnen sind die "Santri" ("Schüler") stärker arabisiert, befolgen die religiösen Gebote strikter und sind häufig auch im Islam besser unterrichtet. Oft mögen die Santri wohl auf die Abangan etwas herabschauen, verstehen sich als "heiliger". Beide Gruppen sind jedoch in ihrem Grundcharakter nicht im negativen Sinne fundamentalistisch.
Organisiert sind die indonesischen Muslims vor allem in zwei großen Massenorganisationen. Die Muhammadiyah wurde 1912 in Yogyakarta gegründet, um gegenüber den "Abangan" eine reinere Form des Islam zu vertreten und den Koran wieder stärker in den Vordergrund zu rücken. Mit etwa 30 Millionen (!) Mitgliedern ist sie heute die zweitgrößte Muslimorganisation Indonesiens, hinter der Nahdlatul Ulama (NU), die 1926 gegründet wurde und nach eigenen Angaben bis zu 40 (!) Millionen Mitglieder haben soll. NU hat ihre Wurzeln vor allem bei der einfachen ländlichen Bevölkerung, besonders in Mittel- und Ostjava. NU ist stärker synkretistisch und traditionalistisch orientiert als Muhammadiyah.
Auch wenn die genannten Zahlen etwas hoch erscheinen mögen, dürfte NU wohl die größte Muslimorganisation der Welt sein. Beide Organisationen unterhalten Koranschulen (Pesantren), Schulen und sogar Universitäten, Krankenhäuser und andere soziale Einrichtungen. Daneben mischen sie sich mal stärker oder mal schwächer in die Politik ein und bringen in jüngster Zeit auch Spitzenpolitiker hervor. Der vor kurzem abgesetzte Staatspräsident Abdurrahman Wahid ("Gus Dur") war zuvor Führer der NU und trägt den javanischen Titel "Kyai", was etwa "Maulana" oder "Mullah" entspricht. Er war und ist ein Mahner religiöser Toleranz, um Ausgleich zwischen den Religionen bemüht und zum Kontakt (aus islamischer Sicht: sogar) mit Israel bereit.
Der Professor der Politikwissenschaft Amien Rais, jetzt Präsident der wichtigen "Beratenden Volksversammlung" (MPR, "Oberhaus"), war früher Vorsitzender der Muhammadiyah. Er zeigte während der Endphase der Herrschaft Soehartos beträchtlichen Mut, neigt aber zu radikaler islamistischen Positionen als etwa Gus Dur. Dies bringt er gelegentlich auch in einer Sprache zum Ausdruck, die stärker säkular orientierte Muslims und auch Nicht-Muslims beunruhigt.
Daneben gibt es zahlreiche andere islamische Organisationen. Einige sind radikal (z. B. "Laskar Jihad" und "Defenders of Islam"). Manche unterhalten praktisch eigene Armeen. Nahdlatul Ulama (NU) verfügt nach Schätzungen über 400.000 bis 500.000 Kämpfer. "Laskar Jihad" ("Truppe für den Heiligen Krieg") ist viel kleiner (einige tausend Kämpfer), führt aber auf den Molukken aktiv einen "heiligen Krieg" mit den dortigen Christen. Immer wieder kommt es in Indonesien zu Androhungen und Ausübung religiös verbrämter Gewaltakte, zum Beispiel wurden Weihnachten im ganzen Land koordiniert etwa 20 Kirchen während der Weihnachtsgottesdienste angezündet.
Nationalisten und Islamisten in der indonesischen Politik
In der indonesischen Politik kann man ebenfalls zwei Hauptströmungen gegeneinander abgrenzen, die "Nationalisten" und die "Islamisten". Die Nationalisten haben weniger die positive Abhebung Indonesiens von anderen Ländern im Sinn sondern sind primär um die Erhaltung der Einheit der indonesischen Nation bemüht. Sie erkennen seit dem Staatsgründer Sukarno die Realität der ethnischen, religiösen etc. Vielfalt des Landes mit seinen bis zu 400 deutlich unterscheidbaren Ethnien an. Sie befürworten eine säkularistische Staatsphilosophie ("Pancasila"), die zwar den Glauben an einen Gott beinhaltet, es aber den einzelnen Religionen überlässt, wie sie diesen verehren wollen. Sukarnos Tochter Megawati Sukarnoputri, die gegenwärtige Präsidentin, gehört wie auch ihr Vater in dieses Lager. Der Erhalt der Nation hat für sie Priorität gegenüber religiösen Themen. So war sie z. B. entschieden gegen die von Präsident Habibie durchgeführte Abstimmung über Unabhängigkeit in Osttimor.
Dreizehn der 48 zur letzten Wahl zugelassenen Parteien haben eine islamische Agenda. Sie sind auch zusammen nicht annähernd mehrheitsfähig und waren alle vom Wahlausgang mehr oder weniger enttäuscht. Vor allem wollen sie die sogenannte "Jakarta-Charta" in die Verfassung aufnehmen, die Moslems in Indonesien zwänge, den Gesetzen (und Strafen) der Schariah zu gehorchen. Dies wird nicht nur von Nicht-Moslems scharf abgelehnt: Indonesien könnte dadurch von einem säkularen zu einem islamischen Staat werden. Der gegenwärtige Vizepräsident Hamzah Haz stammt aus diesem Lager. Viele Beobachter befürchten hier eine Zerreißprobe der noch jungen Regierung.
Präsident Soeharto begann seine Amtszeit als Nationalist, um in seiner Spätphase stärker beim Islam Rückhalt und Legitimation zu suchen. Dazu gehörten eine Pilgerfahrt nach Mekka und besonders auch die Gründung der islamischen Intellektuellenorganisation ICMI, die u. a. den Think Tank CIDES hervorbrachte. Sein Nachfolger Habibie leitete ICMI, und viele seiner engsten Berater stammten aus CIDES. Nach Habibies Ausscheiden aus der Politik haben beide Organisationen stark an Bedeutung verloren.
Politische Rolle des Islam
Das bedeutet jedoch nicht, dass damit auch der Islam als politischer Faktor ausgeschieden wäre. Dies zeigte sich 1999 bei der überraschenden Wahl Abdurrahman Wahids zum Präsidenten. Allgemein war Megawati mit ca. 33 % der Stimmen für ihre Partei PDI-P als Siegerin der ersten freien Wahlen in Indonesien seit 50 Jahren angesehen worden. Dies ist zwar mit einem Drittel aller Stimmen allerdings nur bedingt richtig, aber PDI-P war mit Abstand die relativ stärkste Kraft vor der ebenfalls säkularistisch-nationalistischen Golkar mit etwas über 20% und jedenfalls stärker als die drei stärksten islamischen Parteien (PPP, PKB, PAN).
Trotzdem gelang es den Führern der islamischen Parteien - zu denen Amien Rais (Partei: PAN) und der heutige Vizepräsident Hamzah Haz (Partei: PPP) gehören - Megawatis Wahl zur Präsidentin zu verhindern und statt dessen den angesehenen Religionsführer Abdurrahman Wahid (Partei: PKB) zu wählen. Sie benutzten dazu u. a. das Argument, der Islam lasse keine weibliche Präsidentin zu.
Auch ihre Religiosität und Treue zum Islam wurden in Zweifel gezogen. Wieweit diese Argumente vorgeschoben waren, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Immerhin haben diese Politiker in weniger als zwei Jahren ihre Meinung geändert und betreiben nun eine Koalitionsregierung mit Megawati. Ob dies einen genuinen Lernprozess widerspiegelt, oder ob ihnen diese Lösung nur als günstiger erschien, könnte sich bald zeigen, denn die Regierung Megawati ist über die sowieso nur schwer lösbaren Probleme des Landes hinaus mit einer weiteren Bewährungsprobe konfrontiert, die sie überhaupt nicht erwartet hatte, den amerikanischen Einsätzen gegen die sich selbst als islamisch bezeich nende Terrororganisation Al Qaeda und die sie schützenden Taliban.
Diese Entwicklung könnte der seit etwa den 80er Jahren festgestellten Wiedererstarkung des Islam eine neue Richtung geben. Eine kleine, aber zunehmend radikalere Minderheit sieht hier die Chance, dem arg gebeutelten Land ihre Agenda aufzuzwingen. Dass ihre jüngsten Ankündigungen, "die Amerikaner und ihre Alliierten" aus dem Lande zu jagen auch einen Rückgang der ausländischen Direktinvestitionen zur Folge haben dürfte, könnte ihnen sogar ein willkommener Nebeneffekt sein. Wirtschaftliche Prosperität ist ja gar nicht Teil ihres gesellschaftspolitischen Leitbildes. Die indonesische Regierung hat versucht, den von den USA gesperrten "Dritten Weg" zu gehen: Verbal ist sie gegen Terror, hat die amerikanischen Angriffe auf die Terroristen aber nicht gebilligt. Der Vizepräsident hat in ersten Stellungnahmen zu den Attentaten in New York und Washington sogar gesagt, dies sei "die Strafe" für die Amerikaner, während die Präsidentin die Attentate verurteilt hat. Hier wird die tiefe Kluft zwischen "Nationalisten" und "Islamisten", die übrigens auch in den Streitkräften ihr Gegenstück findet, sichtbar.
Geistige Orientierungslosigkeit als Folge der asiatischen Wirtschaftskrise
Die große Mehrheit der Indonesier, welcher Religion sie auch immer angehören, ist grundsätzlich eher tolerant und friedliebend. Das Land ist aber in einer derartig tiefen und multidimensionalen Krise, dass die psychologischen Reserven vieler Menschen für Ausgleich und Verständigung allmählich zu Ende gehen. Der Zusammenbruch der alten, säkularen, auf wirtschaftliches Wachstum fokussierten Staats- und Entwicklungsphilosophie hat auch ein geistig ideologisches Vakuum hinterlassen, in das nun extremeres Gedankengut einzudringen versucht.
Vor der asiatischen Wirtschaftskrise hatten die Menschen die nicht unberechtigte Hoffnung, in absehbarer Zukunft wenigstens bescheidenen Wohlstand zu erwirtschaften. Der Zusammenbruch des Regimes Soeharto offenbarte Abgründe an Verschuldung und Misswirtschaft. Die Glaubwürdigkeit des für westlich gehaltenen Entwicklungs- und Gesellschaftsmodells ist nachhaltig in Frage gestellt worden: Die Menschen sehen nun, wie sie von ihren Eliten betrogen worden sind. Sie haben Angst davor, von klugen Argumenten, denen sie intellektuell nicht gewachsen sind, wieder übervorteilt zu werden. Sie brauchen in diesen schwierigen Zeiten aber Orientierung. Daher suchen sie Zuflucht bei vertraut und damit vertrauenswürdig erscheinenden Überzeugungssystemen. Hier ist der geistige Ansatzpunkt für die Extremisten, die nach Ansicht des Berichterstatters die Religion des Islam und die hohe, oft unreflektierte Solidarisierungsbereitschaft gutgläubiger Moslems für ihre Zwecke ausnutzen.
Der geistige Dialog mit dem Islam und den islamischen Ländern gewinnt dadurch eine neue Dringlichkeit, die auch im Überlebensinteresse des Westens liegt. Die geistige Auseinandersetzung geht dabei nicht um Christentum versus Islam, sondern um "offene Gesellschaft" gegen "geschlossene Stammesgesellschaft" (Popper). Dies zu vermitteln ist einer der wichtigen Beiträge, die Europa und besonders Deutschland leisten müssen.
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