Kennzeichen der Doppelkrise
Im Frühling des Wahljahrs 2020 werden manche Schwächen der USA bloßgelegt und auf die Reaktion und Antworten der Politik wird besonders geschaut. Bisher über 100.000 Todesfälle (Stand 28. Mai 2020) lautet die erschreckende Zahl der Corona-Krise. Eine wirtschaftliche Rezession scheint sicher. Amerika wird mit Zahlen konfrontiert, die es seit Beginn der 1930er Jahre nicht gesehen hat. Die Arbeitslosenrate ist im April auf 14,7 Prozent hochgeschnellt, Beobachter erwarten, dass sie weiter steigt. US-Bundesstaaten, Städte und Landkreise ächzen unter den Lasten und können ihre Aufgaben kaum noch erfüllen. Die Bundespolitik versucht dem mit Direkthilfen für Privathaushalte und Subventionen für ganze Wirtschaftszweige entgegenzuwirken. Ende März wurde der “Coronavirus Aid, Relief, and Economic Security Act”, kurz CARES, verabschiedet. Er umfasst etwa zwei Billionen US-Dollar. Doch schon wird von “CARES 2” gesprochen, welches weitere ein bis zwei Billionen Dollar umfassen soll. Dies ist alles Geld, was nicht da ist. Das Congressional Budget Office erwartet ein Gesamt-Bundeshaushaltsdefizit von 3,7 Billionen im Jahr 2020 (Quelle und Publikation: https://www.cbo.gov/publication/56335). Viele US-Ökonomen, die bisher zu große Haushaltslöcher gescheut oder dazu aufgerufen haben, der Staat möge sich zurückhalten, sind verstummt. Die sogenannten “fiscal hawks” haben aufgehört zu fliegen. Im Gegenteil, Jerome Powell, der Vorsitzende der US-Notenbank “Federal Reserve”, hat vor wenigen Tagen vor einer jahrelangen Rezession gewarnt, wenn nicht schnell weitere finanzielle Unterstützungen Privathaushalte und Unternehmen erreichen.
Wahlkampf im Zeichen der Polarisierung
Der Wahlkampf und die noch verbliebenen „primaries“ im Juni finden also unter historisch nie dagewesenen Vorzeichen statt. Aufgrund der vielen und schnellen Antworten, die die Bevölkerung angesichts der sie konfrontierenden Probleme erwartet, sind alle jetzt erhobenen Umfragen zur Präsidentschaftswahl nur eine Momentaufnahme und mit Vorsicht zu genießen. Auch muss man die Bewegungen in den einzelnen US-Bundesstaaten genauer beobachten als den “national poll”.
Die direkten Einwirkungen variieren zwar zwischen den Einzelstaaten (siehe hierzu Paul Linnarz in seinem Länderbericht “Zurück auf Los” vom 6. Mai), aber insgesamt bleibt kein Gebiet in den USA verschont. Bisher hat nach Mehrheitsmeinung der Präsident kein gutes Bild sowohl bei der Suche nach Antworten als auch bei deren Kommunikation abgegeben. Doch betonen die meisten Beobachter, dass sich trotzdem ein US-Präsident bei seiner möglichen Wiederwahl dem Vorteil des Amtsinhabers (“incumbency advantage”) erfreut – etwas, was in jüngster Zeit George W. Bush im Jahr 2004 und Barack Obama im Jahr 2012 zugutekam. Dieser Hinweis ist auch einer der Gründe, weshalb man bis Ende Februar mit der Wiederwahl Donald Trumps fast sicher rechnen durfte, trotz festgefügter Zustimmungsraten von nur etwa 43 bis 44 % (Quelle hier: fivethirtyeight, letzte Erhebung 18. Mai 2020, https://projects.fivethirtyeight.com/trump-approval-ratings/). Dies reiche normalerweise für den Amtsinhaber zur Wiederwahl aus, solange es ihm gelänge, dass – mit welchen Mitteln auch immer – viele derjenigen, die ihn ablehnen, einfach nicht zur Wahl gehen.
Referendum über Trump?
Diese relative Unbeweglichkeit in den Umfragen ist Ausdruck der Polarisierung des Landes. Jeder “Tweet” Trumps wird zwar von gut einer Hälfte der Wähler als negativ, abstoßend, unpassend, falsch oder einfach nur peinlich bewertet, stößt aber bei der anderen Hälfte umso mehr auf Beifall und motiviert zum Wahlgang. Der Journalist und sehr erfahrene Politikbeobachter Ezra Klein hat in seiner Studie “Why We’re Polarized” (2019) herausgearbeitet, wie diese Polarisierung, bei der es kaum Wähler gibt, die mal die eine, mal die andere Partei wählen, vor Erdrutschverschiebungen schützt. Gleichzeitig richtet diese Polarisierung die Parteien und ihre Mandatsträger stromlinienförmig aus – der Typ eines “Maverick”, der mal gegen die Parteilinie abstimmte und wie ihn US-Senator John McCain verkörperte, wird verschwinden. Dass ein Präsidentschaftskandidat jemals wieder eine große Mehrheit der US-Bundesstaaten hinter sich bringt, wie dies noch Richard Nixon 1972 und Ronald Reagan 1994 gelang, gilt als ausgeschlossen. Selbst sogenannte politisch Unabhängige seien in Wirklichkeit eher Anhänger der einen oder anderen Partei, betonen mehrere von Klein zitierte Untersuchungen. “There are vanishingly few voters who truly ride in the middle lane of American politics”, beobachtet denn auch Giovanni Russonello von der Kolumne “Poll Watch” in der New York Times. Mit anderen Worten, solange es dem Präsidenten gelingt, die “richtigen” Leute zur Stimmabgabe zu motivieren, können ihm die niedrigen Zustimmungsraten wenig anhaben. Dieses droht nun aber trotzdem zu kippen, denn, wie es der ehemalige Vorsitzende der republikanischen Partei (GOP) in Ohio, Kevin DeWine, in einem Interview mit der New York Times bereits Mitte März formulierte, “if it is Warren or Bernie and you don’t have coronavirus, I think Trump might sneak by. But if it’s Biden, my IRA has tanked [IRA ist eine Geldanlage, Anm. des Verf.] and we’re going to have a complete disruption because of coronavirus, I think it’s a totally different story.” (zitiert nach New York Times, 13. März 2020)
„Things have changed,“ hat Bob Dylan einst gesungen, und in der Tat ist innerhalb weniger Wochen die Botschaft Trumps “Keep America Great ” unbrauchbar geworden. Angesichts der Doppelkrise könnte es geschehen, dass auch weitere, auf Wirksamkeit getestete Slogans kaum noch verfangen, oder kaum Gehör finden. So betont etwa Joel Benenson, der mehrere Meinungsumfragen für die Demokraten durchgeführt hat, dass “niedrige Zustimmungsraten [Trumps] bedeuten, dass die Wahl ein Referendum über ihn ist, und bisher verliert er [nach den Umfragen]” (zitiert nach New York Times vom 16. Mai 2020).
Trumps Gegenkandidat wird höchstwahrscheinlich Joe Biden sein, eine formale Bestätigung des Parteitags im August steht noch aus. Dass ihm alle Protagonisten der demokratischen Partei ihre Unterstützung zugesichert haben, erleichtert ihm die finanzielle Ausstattung seines Wahlkampfes. Und das ist dringend nötig. Denn Trump, der seit Beginn seiner
Amtszeit ein sehr umtriebiges und erfolgreiches fundraising betreibt, nicht zuletzt angefeuert von rund 400 öffentlichen Großveranstaltungen seit Januar 2017, ist hier um mehrere Nasenlängen voraus.
Trotz aller Erfahrung gilt der ehemalige Vizepräsident und US-Senator Joe Biden insgesamt als “schwacher Kandidat mit vielen Defiziten und erwiesenen Mängeln bei manchen Entscheidungen in seiner langen politischen Laufbahn,” wie es die Journalistin Ruth Marcus formuliert. Erst vor kurzem wurden Vorwürfe seiner ehemaligen Mitarbeiterin Tara Read publik, er habe sie im Jahr 1993 belästigt. Biden wies die Anschuldigungen vehement zurück. Dass sie im Wahlkampf aber wieder auftauchen und ob noch andere Dinge Biden belasten können, etwa manche Mitarbeit an Bundesgesetzen als US-Senator in der Vergangenheit oder Tätigkeiten als Vizepräsident im In- und Ausland, befürchten so manche in seiner Partei. Trump und seine Kampagnenmanager sind bekannt dafür, jeden vermeintlichen oder tatsächlichen Fehltritt Bidens auszuschlachten. Der Wahlkampf dürfte nicht mit Samthandschuhen ausgetragen werden.
Biden hat versucht, sich im Vorwahlkampf als “sichere Wahl” zu positionieren, als jemand, der Amerika wieder zusammenführen kann nach den schwierigen Trump-Jahren. Da dies angesichts des pessimistischen Grundklimas in Amerika nicht reichen dürfte, hat seine Kampagne nun im Mai reagiert und erste größere Vorschläge vorgelegt, wie man die USA neu aufstellen müsse. Er hat bereits begonnen, einige Ideen aus den Programmen von Elizabeth Warren und Bernie Sanders aufzunehmen – auch weil er dringend auf die Anhänger der beiden Senatoren zugehen muss. Gleichzeitig hat Biden erkannt, dass ihm aufgrund seines relativ hohen Alters viele Vorbehalte entgegenschlagen. Erfahrung sei ja prima, aber ob er dem Amt denn mit bald 78 Jahren noch gewachsen sei, ist die mal leiser, mal lauter zu vernehmende Frage seiner Partei und potentieller Wähler. Einher damit geht fehlender Enthusiasmus für einen Kandidaten, der im Gegensatz zu Bill Clinton 1992 oder Barack Obama 2008 kaum Aufbruchstimmung vermitteln kann.
Biden versucht, dieses Manko zunehmend zu entkräften mit dem Hinweis, dass er selbst sich als Übergang, als “transitional president”, sieht. Die Partei und ihre Anhänger erwarten von Biden nun auch deshalb einen zukunftsweisenden Namen einer Kandidatin zur Vizepräsidentschaft. Er hat sich bereits festgelegt, eine Frau zu nominieren. Im engeren Kreis scheinen momentan die US-Senatorin Kamala Harris aus Kalifornien oder Gretchen Whitmer, Gouverneurin von Michigan, zu sein. Mit Harris würde Biden ein Signal zu dem starken Wahlblock der African-Americans aussenden, und mit Whitmer eine Kandidatin nominieren, die Michigan zurück in die “blauen”, also demokratisch gewonnenen Bundesstaaten, führen könnte. Denn Michigan ist 2016 ebenso wie Wisconsin und Pennsylvania “rot”, also republikanisch, geworden. Nur eine richtige Kombination der Staaten, die ihre Wahlmänner- und -frauen in die Wahlversammlung (electoral college) schicken, führt zum Gesamterfolg. Kurzum, sollten diese drei Staaten von Biden nicht gewonnen werden können, ist ein Weg zur Präsidentschaft kaum zu erkennen. Ähnliches gilt mit Blick auf andere Regionen für Donald Trump: Sollte der Präsident etwa das wahlleutereiche Florida oder gar Texas verlieren, bliebe er sehr wahrscheinlich ein one-termer. Ihm ist das bewusst. Deshalb hat er schon weitere Besuche gerade in Florida und Pennsylvania angekündigt.
Welche Formate des Wahlkampfs sind möglich?
Die Doppelkrise bietet beiden Kandidaten die Möglichkeit, beim Wahlvolk zu punkten. Dabei hat Trump die vielfältigeren Optionen. Gerade in Zeiten der “sozialen Distanz”, wo alle klassischen Formate wie Hallenveranstaltungen oder canvassing bis auf Weiteres nicht umsetzbar sind, sogar die Parteitage im August als fernsehtaugliches Massenereignis in Frage gestellt werden, kann sich der Präsident trotzdem stets als “Krisenmanager” in Szene setzen, obwohl auch er dem Vernehmen nach darunter leidet, dass Veranstaltungen in riesigen Sportarenen bis auf Weiteres nicht möglich sind.
Einer von Trumps größten Vorteilen ist die fast völlige Kontrolle über die konservativen Fernseh- und Radiokanäle. Seine Berater hoffen, dass kleine gezielte Hinweise dort zu einem Steppenbrand insgesamt führen, den die Gegenseite kaum löschen kann. Und der Präsident hofft, mit dem China-Thema einen weiteren Trumpf im Ärmel zu haben, der das Wahlvolk davon ablenken könnte, sich zu oft auf die Mängel seiner Amtszeit zu konzentrieren.
Joe Biden dagegen muss bisher in seinem Haus in Delaware verbleiben, da Reisen noch nicht erlaubt sind. Dieses Verbleiben im Startblock ist zwar kein Fehlstart, aber der Kandidat verliert wichtige Zeit. Das hat ihm bisher nur deshalb nicht geschadet, weil Donald Trump selbst wiederholt Fehler vorgeworfen wurden, als er etwa bei Pressekonferenzen abrupt manche Journalisten attackierte, er vorschlug, die Injektion von Desinfektionsmitteln zu prüfen, oder freimütig erklärte, ein Malariamittel als Corona-Prophylaxe einzunehmen. Eines hört man von demokratischen wie republikanischen Parteistrategen nun häufiger: Viele Politikberater fragen sich, ob angesichts der realen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen Kampagnen dieses Jahr überhaupt ausschlaggebend für den Wahlerfolg sein werden. “Falls man die Dinge nach ihrer Wichtigkeit zu ordnen versucht, dann sind Sachen wie eine kollabierende Wirtschaft oder weltweite Pandemie sicher wichtiger als das eine oder andere Kampagnenvideo”, meint beispielsweise Addisu Demissie, der mehrere political campaigns für die Demokraten geleitet hat.
Ähnlich artikuliert es auch der Republikaner Tim Miller, der 2016 für den ehemaligen Gouverneur Jeb Bush gearbeitet hat. “You can have the greatest machinery in the world, but if a campaign is not right for the times, it doesn’t matter”, wurde Miller von der New York Times zitiert (16. Mai 2020) – und Miller dürfte aus schmerzlicher Erfahrung sprechen, war er doch vor vier Jahren mit seinem Kandidaten Bush gegen Trump unterlegen, dessen Kampagne noch heute als teilweise chaotisch, ideenarm und personell unterfüttert eingestuft wird.
Zu beobachtende Senatswahlen
Wenn der Verfasser dieses Berichts in Bethesda, Maryland wählen geht, dann erhält er einen Wahlzettel und muss sich Dutzende Male zwischen den Kandidaten zu unterschiedlichsten Ämtern entscheiden. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es üblich, dass weites Stimmen-Splitting betrieben wurde, man also für den (republikanischen) Gouverneur stimmte und dann für den (demokratischen) Kongressabgeordneten, oder umgekehrt. Dies gibt es laut Untersuchungen kaum noch. Das heißt, die Nominierung Joe Bidens könnte auch für andere Kandidaten seiner Partei einen Vorteil darstellen. Denn ihm kann nicht so leicht das verfemte Etikett “Sozialist” angeheftet werden, wie etwa Bernie Sanders oder Elizabeth Warren. Dieser so genannte “coattail-“ oder “down-ballot”-Effekt könnte ausschlaggebend sein bei einigen umstrittenen Senatswahlen.
“Ich glaube, dass eine Nominierung von Sanders die Möglichkeiten der Demokraten, den Senat zu übernehmen, sehr begrenzt hätte”, analysiert denn auch Nathan Gonzales, Herausgeber von Inside Elections (zitiert nach Washington Post 27. April 2020). Dort steht die republikanische Mehrheit auf dem Spiel. Da Donald Trump jenseits der eigenen Anhängerschaft als unpopulär gilt, könnte er republikanischen Amtsinhabern kaum helfen, so lautet die allgemeine Meinung. “Because he is not in a position to rally the country in a way a president traditionally would [be] in a situation like this”, meint etwa auf Nachfrage der republikanische Berater Terry Nelson zur Ausgangslage. Laut Umfragen sind vor allem die republikanischen Senatssitze in Arizona (Amtsinhaberin Martha McSally), in Maine (Amtsinhaberin Susan Collins), in North Carolina (Amtsinhaber Thom Tillis) und Colorado (Amtsinhaber Cory Gardner) gefährdet. Bei den Demokraten könnte der Sitz in Alabama (Amtsinhaber Doug Jones) verloren gehen. In nur zwei US-Bundesstaaten, in denen Donald Trump 2016 die Mehrheit erreichte, müssen sich demokratische Senatoren der Wiederwahl stellen, in Alabama und in Michigan (Amtsinhaber Gary Peters). Deshalb scheint ein Kippen der knappen Mehrheiten im Senat möglich.
Der Wahlkampf dürfte also spannend werden. In welcher Form dann am 3. November die Wahlen stattfinden können, ist offen. Falls Wahllokale aufgrund der Ansteckungsgefahren geschlossen bleiben müssen, bleibt nur die Briefwahl. Darauf ist die USA aber noch gar nicht vorbereitet, angefangen bei Papier- und Briefumschlagsmangel für die Stimmzettel. Auch sind die Vorgaben in den einzelnen US-Bundesstaaten unterschiedlich. Trump seinerseits hat schon vor aus seiner Sicht möglichem Wahlbetrug gerade bei dieser Form der Stimmabgabe gewarnt. Mehrere Untersuchungen widersprechen dem US-Präsidenten; dessen Kritik an der Briefwahl kann ihre Wirkung in den nächsten Monaten aber dennoch entfalten. In der Tat deutet sich ein sprunghafter Anstieg des Wunsches nach Briefwahl an, und zwar unabhängig von Parteivorlieben. Dann wird Amerika in großem Umfang streiten, wie denn die Wahlen stattfinden sollen. Die Doppelkrise fordert dazu auf, breit die Themen anzusprechen, wie sich Amerika in Zukunft aufstellen will. Sie hat nach Ansicht vieler die Schwächen der Gesamtarchitektur Amerikas offengelegt. Von demokratischer Seite wird es weitreichende Forderungen geben, Reformen in der Gesundheitsversorgung anzustreben und die Aufsicht von Banken und Konzernen zu verbessern. Die Republikaner dagegen dürften Donald Trumps Marschrhythmus folgen. Der Präsident hält den Taktstock fest in der Hand, wird dabei aber immer für eine Überraschung gut sein, wohin die Truppe marschiert.teemad
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Auslandsbüro Washington D.C.
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