Varade publitseerija
Literaturpreis
Der Freiheit das Wort
Varade publitseerija
Das Politische in der Literatur
Seit 1993 wird der vom ehemaligen Thüringer Ministerpräsidenten Prof. Dr. Bernhard Vogel ins Leben gerufene Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung in Weimar vergeben. In kürzester Zeit ist der Preis zu einer festen Größe im literarischen Leben in Deutschland und darüber hinaus geworden. Geehrt werden Autoren, die der Freiheit ihr Wort geben. Die Auszeichnung wird jährlich in Weimar vergeben.
Der Literaturpreis bringt in besonderer Weise das Selbstverständnis der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Ausdruck, die es sich zur Aufgabe macht, politisches Handeln an den Grundwerten der Freiheit und des Friedens zu orientieren, Politik in Offenheit und Toleranz zu praktizieren und Begabungen von wissenschaftlicher und von öffentlicher Relevanz zu fördern.
Unsere Kriterien
Grundsätzlich können veröffentlichte literarische Arbeiten aller Gattungen ausgezeichnet werden. Voraussetzung ist, dass die Autorinnen und Autoren der Freiheit ihr Wort geben. Somit ehrt der Preis Autorinnen und Autoren, die sich dafür einsetzen, der Freiheit und Würde des Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen, und deren Werke – das sind die Hauptkriterien der Preisvergabe – sowohl von politisch-gesellschaftlicher Bedeutsamkeit als auch von ästhetisch-literarischer Qualität zeugen. Die Preisträger reden keiner Partei das Wort, sondern bemühen sich um einen offenen und konstruktiven Dialog zwischen Literatur und Politik.
Unsere Jury
Die Preisträger werden von einer Jury ermittelt, die ab 2024 unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Friedhelm Marx tagen wird. Externe Vorschläge für Kandidatinnen und Kandidaten können nicht angenommen werden. Die Meinungsbildung der Jury erfolgt frei, unabhängig und allein auf der Grundlage ihrer fachlichen Kompetenz.
Mitglieder der Jury im Überblick
Prof. Dr. Friedhelm Marx ist Literaturwissenschaftler an der Universität Bamberg (Vorsitzender der Jury)
Prof. Monika Grütters Mitglied des Deutschen Bundestages | Wahlkreis Berlin-Reinickendorf
Staatsministerin für Kultur und Medien a. D.
Dr. Marit Heuß ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie am Institut für Germanistik der Universität Leipzig
Sandra Kegel ist verantwortliche Redakteurin im Feuilleton der F.A.Z.
Prof. Dr. Birgit Lermen ist emeritierte Professorin an der Universität zu Köln (Ehrenmitglied)
Dr. Wolfgang Matz ist Literaturwissenschaftler und Übersetzer
Unsere Preisträger
Die Preisträger sind Orientierungsinstanzen in Zeiten des Wertewandels. Sie haben, wie es in der Präambel unserer Satzung heißt, der Freiheit das Wort gegeben. Daß es die Freiheit auch und gerade heute, in Zeiten von Gewalt und Terror zu verteidigen gilt, haben alle Preisträger in ihren Werken deutlich gemacht. Auf sie bezieht sich der Appell des spanischen Schriftstellers Jorge Semprúns, dass nun „Gedächtnis und Zeugnis Literatur werden“ können und werden sollen.
Für die Laudationes auf unsere Preisträger haben wir hoch angesehene Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik, aus der Literatur und den Medien gewinnen können. Auch die Laudatoren haben den Preis und seinen Wert beeinflußt. Ihre Reden sind, bei allen Unterschieden in der Rhetorik und Zugangsweise, persönliche Würdigungen des Preisträgers.
2024
Die Preisträgerin: Ulrike Draesner
Ulrike Draesners Großeltern kamen nach 1945 „flüchtlingsfremd“ aus Schlesien in Bayern an. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft, Anglistik und Germanistik in München, u.a. bei dem ehemaligen Vertrauensdozenten und ersten Literaturpreis¬laudator der Konrad-Adenauer-Stiftung, dem Germanisten Prof. Dr. Wolfgang Frühwald, und in Oxford hat Ulrike Draesner 1992 eine mediävistische Doktorarbeit geschrieben.
Sie hatte mehrere Poetik- und Gastdozenturen inne, in Birmingham und Oxford, Bamberg, Wiesbaden, Heidelberg und Frankfurt am Main (2017). Sie ist Mitglied der Berliner Akademie der Künste, der Nordrhein-Westfälischen-Akademie der Wissenschaften und Künste und der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. Seit 2018 ist sie Professorin für deutsche Literatur und literarisches Schreiben an der Universität Leipzig und Erasmus-Koordinatorin am dortigen Deutschen Literaturinstitut.
Jurybegründung: „Ulrike Draesner hat ein außerordentlich vielfältiges prosapoetisches und multimediales Werk vorgelegt. Es besteht aus Romanen und Erzählungen, Essays und Reiseberichten, Lyrik und Libretti, Rundfunkarbeiten und Kurzvideos.
Ihre literarischen Leitthemen reflektieren aktuelle politische Diskurse der Zeitgeschichte: das transnationale Gedächtnis von Flucht, Vertreibung und Exil (in der Trilogie); das soziale Wechselspiel der Geschlechterrollen und die Frage nach der eigenen Identität (in den Erzählungen Hot Dogs, 2004, und Richtig liegen, 2011); die Rolle von Sprache und Liebe im Anthropozän (in den Romanen Vorliebe, 2010, und Mitgift, 2002); die Auseinandersetzung mit Reproduktionstechniken (Organverpflanzung, Genbiologie, Datenspeicherung) und mit dem Menschenbild der Hirnforschung und der Transplantationsmedizin (in Essays und Gedichten); das Herausschreiben der Kunst aus der Tradition (in ihrer Migration und Populismus verarbeitenden Nachdichtung Nibelungen. Heimsuchung, 2016); die Verantwortung des Menschen für die Natur im Anthropozän (Der Kanalschwimmer, 2019).
Aus Ulrike Draesners Werk ragt die oben schon genannte Romantrilogie über die europäische Gewaltgeschichte heraus. Sie zieht darin eine nachhaltige Summe aus der Trauer- und Trauma-Geschichte von Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert. Sie selbst zählt sich, im Anschluss an Sabine Bodes Kriegsenkel (2009), zu den „Nebelkindern“, die im Schweigen der Kriegskinder und Kriegs-Zeitzeugen groß wurden. Die Verwandelten wurde in der Kritik als Roman gewürdigt, der das Gedächtnis der Generationen erneuert: über Mütter im Krieg, verwandelte Töchter und aufklärende „Nebelkinder“, eine Geschichte über starke weibliche Biographien und über die Gewalt, die ihnen in der europäischen Zeitgeschichte angetan worden ist. Draesners Spiele (2005) ist der erste Roman der deutschen Literatur über das Terrorattentat in München 1972, den globalen Terrorismus und Verschwörungs¬theorien nach 9/11.
In formaler Virtuosität, nach intensiver biographischer Recherche und mit enormer poetischer Imagination zeugt Ulrike Draesners Schreiben von der Freiheit der Kunst. In ihrem Roman Schwitters setzt sie mit Schwitters‘ Merz-Bau jener Freiheit der Kunst in der Weimarer Republik ein Denkmal, die durch die antisemitische Eliminierung jüdischen Lebens abgebrochen wurde. Zu ihrem Schreiben sagte sie in den Bamberger Vorlesungen Zauber im Zoo (2007): „Das Recherchierte, das bereits Fiktion ist (Auswahl, Bericht, Konstruktion einer Geschichte) muss über-erfunden werden in Atmosphäre und inneres Verstehen. Gedächtnis und Wahrnehmung, Zeugenschaft und das Zielen auf Wirklichkeiten rücken – uns – in den Blick“.
Ulrike Draesners Werke halten – mit hochentwickeltem Sprachbewusstsein – die literarischen Signale politischer Vorgänge in Zeitenwenden fest und bestärken die Erneuerungskraft der Literatur: „Wir sind hineingeflogen worden in eine Zeit, in der das Beharren auf Kultur wieder nötig sein wird“, schreibt sie in ihrem Essay über Thomas Mann, 2002). Und in dem Gespräch über Deutschland (2024) das sie mit dem New Yorker Übersetzer und Philosophen Michael Eskin geführt hat, plädiert sie für eine „critical Germanness“. Das meint für sie aber kein kritisches, sondern ein kundiges „Deutschsein, das erlaubt, Geschichten zu erzählen statt Etiketten zu verteilen“, „ein Deutsch mit Zusätzen, mit Geschichte, mit Verantwortung, Anerkennung von Differenz – und mit Humor statt Reinheitsgebot“, auch und besonders sprachlich.“
2023
Der Preisträger: Lutz Seiler
Was hat Lutz Seiler in Adenauers Schuppen zu suchen? Wie kommt er zu den Bildern, von denen er erzählt? Wohin strahlen seine Romane und Gedichte aus? Und welche Rolle überhaupt spielt Literatur in Wendezeiten? Antworten gibt die Dokumentation des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung 2023. Sie enthält, nach dem Grußwort von Norbert Lammert, die Laudatio der Kunsthistorikerin Marion Ackermann, die Dankrede Lutz Seilers und ein Interview mit dem Autor.
Jurybegründung: „Lutz Seiler gilt als rundum gewichtiger Autor, dessen Werke von poetischer Sprachkraft und zeitpolitischer Intensität zeugen. Sowohl in der Lyrik (zuletzt ‚schrift für blinde riesen‘, 2021), in den Essays und vor allem in den größeren Prosawerken, den beiden Romanen ‚Kruso‘ und ‚Stern 111‘, die kurz vor und nach dem Mauerfall spielen, hat er der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur neue Impulse gegeben. Seine literarische Aufarbeitung des Übergangs von der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ist überraschend anders, politisch sensibel und literarisch hochinnovativ. Er erzählt von der Neuordnung der Menschen in einer Zeitenwende und davon, wie Freiheit angesichts von großem politischem Normenwandel möglich ist.“
2022
Die Preisträgerin: Barbara Honigmann
Vertrauen in die jüdische Biographie, Vertrauen in die deutsche Sprache und die europäische Kultur: Das hob der Stiftungsvorsitzende Prof. Dr. Norbert Lammert bei der Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung an Barbara Honigmann am 3. Juli 2022 hervor. Die mit 20.000 Euro dotierte Auszeichnung wurde – nach zweijähriger Corona-Pause – wieder im Musikgymnasium Schloss Belvedere in Weimar verliehen. Die Laudatio hielt Prof. Dr. Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum in Berlin (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
Jurybegründung: „Barbara Honigmann erzählt Kapitel aus der Geschichte des Exils, der DDR und des Judentums in Deutschland und Europa. Ihre jüdische Perspektive auf die großen politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts wirft in besonderer Weise die Fragen nach Identität und Fremdheit, nach Integration und Ausschluss auf. Barbara Honigmanns Romane und Essays (zuletzt das Vaterbuch Georg, 2019, und der Essayband Unverschämt jüdisch, 2021) sind Bekenntnisse zur Migrationsgesellschaft, Chronik ihrer Familienhistorie und Narrative einer jüdischen Kultur, die sich als ‚kosher light‘ versteht und nach eigenen Worten einen neuen Ort jenseits eines ‚immerwährenden Antisemitismus-Diskurses‘ sucht. Mit Witz und leichthändigem Humor, in lapidarer Klarheit, ohne „das Unmögliche, das Unstimmige“ auszuklammern (Dankrede zum Kleist-Preis), porträtiert Barbara Honigmann das literarische Gesicht unserer Zeit.“
2021
Aufgrund der COVID-19-Pandemie wurde der Preis im Jahr 2021 nicht vergeben.
2020
Der Preisträger: Hans Pleschinski
Wer eine Botschaft hat, soll Hemingway gesagt haben, solle zur Post gehen. Hans Pleschinski sieht das offenbar anders. Mit seinen Botschaften von einer anderen, positiv besetzten europäischen und deutschen Geschichte bedankte er sich am Freitagabend, dem 5. November, für den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der Stiftungsvorsitzende Prof. Dr. Norbert Lammert hieß den Preisträger in der Berliner Akademie der Stiftung als heiter aufgeklärten Europäer willkommen, der in seinen Romanen und Übersetzungen „Geschichte verlebendige“.
Jurybegründung: „Hans Pleschinskis Erzählungen, seine Übersetzungen, Brief- und Tagebuch-Editionen aus dem Zeitalter Voltaires, dessen aufgeklärte Heiterkeit auf sein eigenes Schreiben ausstrahlt, verlebendigen eine zivilisierte Gesprächskultur. Der Roman Brabant (1995) versammelt die demokratischen Europa-Diskurse im Bild einer vielfältigen, multinationalen Kulturgesellschaft. Den Romanen Königsallee (2013) über Thomas Mann und Wiesenstein (2018) über Gerhart Hauptmann gelingt es, Nachkriegszeit und junge Adenauer-Republik in den späten Biographien der Nobelpreisträger wachzurufen. Hans Pleschinski erzählt davon, wie viel uns die Freiheit wert ist, indem er angesichts der politischen Herausforderungen unserer Zeit eine ethische Verantwortung für gute Ordnung, für Recht und Freiheit übernimmt.“
2019
Die Preisträgerin: Husch Josten
Am 16. Juni 2019 wurde Husch Josten in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Prof. Dr. Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
Jurybegründung: „Die Schriftstellerin Husch Josten greift heikle Themen unserer Gegenwart auf: Terrorismus und Fundamentalismus in Europa, Globalisierungsangst und Glaubensmut, ideologische Verfestigung und religiöse Indifferenz, Freiheit des Gewissens und Menschenwürde. Diese großen Themen behandelt sie fundiert und bestens recherchiert, nie aber lehrmeisterlich, vielmehr lakonisch und leicht, spannungs- und humorvoll, eingebettet in die Lebensgeschichten von Menschen, die uns faszinieren. So beleuchtet sie in ihren jüngsten Romanen Hier sind Drachen (2017) und Land sehen (2018) den Zusammenhang zwischen der Freiheit als ‚Sinn von Politik‘ (Hannah Arendt) und der Freiheit zum persönlichen Bekenntnis. Ihre Werke vereinen das Bedürfnis nach Erkenntnis mit der Notwendigkeit einer moralischen Zeitzeugenschaft. Husch Josten erinnert an die enorme Bedeutung des literarischen Erzählens im Informationszeitalter und verteidigt den Wahrheitsanspruch der Dichtung.“
2018
Der Preisträger: Mathias Énard
Am 6. Mai 2018 wurde Mathias Énard in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Annegret Kramp-Karrenbauer, Generalsekretärin der CDU (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
Jurybegründung: „Mathias Énard ist ein virtuoser und vielsprachiger Vordenker der orientalischen Renaissance. Überzeugt davon, dass Europas Kompass nach Osten zeigt, erzählt er Geschichten von der Faszination der Europäer für die Kultur der arabischen Welt. Seine Romane öffnen die imaginäre „Schatztruhe“ der orientalischen Kultur für Europa und die Welt. Damit stiften sie ein Narrativ von „Miteinander und Kontinuität“, das prägend ist für unser Verständnis von Freiheit und Demokratie. Mathias Énard setzt sich für die deutsch-französische Freundschaft und für die wechselseitige Inspiration zwischen Orient und Okzident ein. Geboren in Frankreich, in Spanien wohnend, kundig in mehreren europäischen Sprachen, schreibt er an einem Werk des Friedens, das, auch im Gedenken an das Ende des „Grande guerre“ vor 100 Jahren, für Europa und darüber hinaus von wegweisender Bedeutung ist.“
2017
Der Preisträger: Michael Köhlmeier
Am 25. Juni 2017 wurde Michael Köhlmeier in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Aleida Assmann.
Jurybegründung: „Michael Köhlmeier ist ein begnadeter Fabulator, der auch als Nacherzähler klassischer Mythen und biblischer Geschichten sowie im mündlichen Erzählen überzeugt. Virtuos beherrscht er die Gattungen und Medien der Narration: von Märchen über Legende, Schelmenroman, Erinnerungsfiktion und Generationenepos bis zur zeitkritischen Novelle. Seine Romane und Novellen stellen die Frage nach Herkunft und Wertbeständigkeit, sie orientieren sich umsichtig am Wissen unserer Zeit und bedenken zentrale Herausforderungen der Gegenwart: Migration und Gewalt. Zwischen Tragödie und Idylle findet Michael Köhlmeier einen originellen Weg von poetischer Freiheit in politischer Verantwortung.“
2016
Der Preisträger: Michael Kleeberg
Am 05. Juni 2016 wurde Michael Kleeberg in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Prof. Dr. Jürgen Flimm, Intendant der Deutschen Staatsoper Unter den Linden (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
Jurybegründung: „Die literarische Meisterschaft von Michael Kleeberg liegt in ebenso eleganten wie eindringlichen Gesellschaftsporträts unserer Gegenwart Seine Romane und Erzählungen (zuletzt ‚Das amerikanische Hospital‘, 2010, und ‚Vaterjahre‘, 2014) gehen der Identität des europäischen ‚Mutbürgers‘ auf den Grund, der sich mit dem globalisierten Fortschritt abgefunden hat, aber weiterhin des Trostes von Kunst und Metaphysik bedarf. Als Citoyen in der deutsch-französischen Tradition ist Michael Kleeberg ein politisch aufmerksamer Erzähler seiner Zeit, nach eigenen Worten ,skeptisch, ironisch, der Freiheit mehr verpflichtet als der Gleichheit.“
2015
Die Preisträgerin: Marica Bodrožić
Am 31. Mai 2015 wurde Marica Bodrožić in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der Literaturwissenschaftler und Autor Rüdiger Görner.
Jurybegründung: „Die 1973 in Svib (im heutigen Kroatien) geborene Schriftstellerin leiste mit ihren epischen und essayistischen Werken einen maßgeblichen kulturellen Beitrag zur Neuordnung Europas nach 1989. Von der Transformation eines Europas der Nationen in eine multipolare Welt und von dem gefährdeten Weg der Freiheit in den südost- und mitteleuropäischen Staaten erzähle sie auf eine eindringliche, realistische und zugleich poetisch-phantasievolle Weise, so in den Erzählungen Tito ist tot (2002) und Der Windsammler (2007), in den Romanen Das Gedächtnis der Libellen (2010), Kirschholz und alte Gefühle (2012) und Mein weißer Frieden (2014) sowie in dem Essay Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern (2007). Marica Bodrožićs literarischer Blick in die europäische Raum- und Zeitgeschichte durchbreche starre Freund-Feind-Bilder, um dahinter Probleme von Arbeitsmigranten, multiethnische und religiöse Konflikte sichtbar zu machen. Das Schreiben zwischen den Kulturen sei selten so nuancenreich und so bildkräftig praktiziert worden wie in Bodrožićs Büchern.“
2014 und früher
Der Preisträger: Rüdiger Safranski
Am 31. Mai 2014 wurde Rüdiger Safranski in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Prof. Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien des Landes Berlin (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
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2013
Der Preisträger: Martin Mosebach
Am 23. Juni 2013 wurde Martin Mosebach in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Lyriker Dr. Heinrich Detering.
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2012
Der Preisträger: Tuvia Rübner
Am 10. Juni 2012 wurde Tuvia Rübner in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Adolf Muschg.
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2011
Der Preisträger: Arno Geiger
Am 18. September 2011 wurde Tuvia Rübner in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt die Literaturkritikerin, Autorin und Journalistin Dr. Meike Feßmann.
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2010
Der Preisträger: Cees Nooteboom
Am 12. Dezember 2010 wurde Cees Noteboom in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Prof. Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
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2009
Der Preisträger: Uwe Tellkamp
Am 06. Dezember 2009 wurde Uwe Tellkamp in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der Philosoph und Theologe Prof. Dr. Richard Schröder (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
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2008
Der Preisträger: Ralf Rothmann
Am 18. Mai 2008 wurde Ralf Rothmann in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielten der Theaterregisseur und Intendant Matthias Hartmann sowie der Autor und Dramaturg Dr. Thomas Oberender.
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2007
Die Preisträgerin: Petra Morsbach
Am 10. Juni 2007 wurde Petra Morsbach in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Dr. Jiří Gruša, Direktor der Diplomatischen Akademie Wien und Präsident des Internationalen PEN (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
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2006
Der Preisträger: Daniel Kehlmann
Am 18. Juni 2006 wurde Daniel Kehlmann in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der Mathematiker Prof. Dr. Roland Bulirsch.
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2005
Der Preisträger: Wulf Kirsten
Am 22. Mai 2005 wurde Wulf Kirsten in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der Autor, Jurist und Kulturhistoriker Dr. Manfred Osten, ehemaliger Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung.
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2004
Die Preisträgerin: Herta Müller
Am 16. Mai 2004 wurde Herta Müller in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Dr. Joachim Gauck, Vorsitzender des Vereins "Gegen Vergessen – Für Demokratie" (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
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2003
Der Preisträger: Patrick Roth
Am 22. Juni 2003 wurde Patrick Roth in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Prof. Dr. Ruprecht Wimmer, Präsident der Katholischen Universität Eichstätt und Präsident der Thomas-Mann-Gesellschaft (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
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2002
Der Preisträger: Adam Zagajewski
Am 02. Juni 2002 wurde Adam Zagajewski in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Dr. Martin Meyer, Leiter des Feuilletons der Neuen Zürcher Zeitung (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
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2001
Der Preisträger: Norbert Gstrein
Am 13. Mai 2001 wurde Norbert Gstrein in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der Schriftsteller und ehemalige spanische KulturministerJorge Semprún.
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2000
Der Preisträger: Louis Begley
Am 14. Mai 2000 wurde Louis Begley in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der Historiker, Museologe, Publizist und Politiker Prof. Dr. Christoph Stölzl.
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1999
Der Preisträger: Burkhard Spinnen
Am 16. Mai 1999 wurde Burkhard Spinnen in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Annette Schavan, Ministerin für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
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1998
Der Preisträger: Hartmut Lange
Am 10. Mai 1998 wurde Hartmut Lange in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der Philosoph und Essayist Dr. Odo Marquard.
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1997
Der Preisträger: Thomas Hürliman
Am 03. Juli 1997 wurde Thomas Hürliman in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der Regisseur, Manager, Kulturpolitiker und Intendant Prof. Dr. August Everding.
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1996
Der Preisträger: Günter de Bruyn
Am 15. Mai 1996 wurde Günter de Bruyn in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Dr. Wolfgang Schäuble, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Mitglied im Bundesvorstand der CDU Deutschlands (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
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1995
Die Preisträgerin: Hilde Domin
Am 11. Mai 1995 wurde Hilde Domin in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der deutsch-polnischer Autor, Publizist und Literaturkritiker Dr. Marcel Reich-Ranicki.
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1994
Der Preisträger: Walter Kempowski
Am 03. Mai 1994 wurde Walter Kempowski in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der Politikwissenschaftler, Publizist und Politiker Prof. Dr. Hans Maier (CSU).
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1993
Die Preisträgerin: Sarah Kirsch
Am 15. Mai 1993 wurde Sarah Kirsch in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Prof. Dr. Wolfgang Frühwald, Literaturwissenschaftler, Hochschullehrer und Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (zum Zeitpunkt der Preisverleihung).
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Biographien und Werdegänge unserer Preisträger
Auf der nachfolgenden Karte finden Sie eine Übersicht mit Biographien und Werdegängen aller unserer Preisträger.
Interaktive Karten
Sarah Kirsch
* 16. April 1935 in Limlingerode
† 5. Mai 2013 in Heide
„Trauriger Tag“ – Nachruf
Sarah Kirsch war im Mai 1993 die erste Trägerin des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der Verleihungsort entsprach ihrem Wunsch, er möge möglichst nahe an ihrem Geburtsort Limlingerode im Südharz liegen. Bei der Feierstunde im Weimarer Goethehaus setzte sie an die Stelle der rituellen Dankrede kurzerhand das dichterische Wort. Gedichte zu lesen, das wiederum war nach Sarah Kirschs eigenen Worten das, was sie „am besten“ kann. Am 5. Mai 2013 ist die Dichterin verstorben.
Sarah Kirschs literarisches Werk, das in Gesamtausgaben bei der Deutschen Verlags-Anstalt und in einer zuletzt noch wachsenden Reihe faszinierender Kurzprosabände vorliegt, wurde gewürdigt von Kritikern und Laudatoren, von Autorenkollegen und von Germanisten – und vor allem von begeisterten Lesern. Zahlreiche Auszeichnungen erhielt die Dichterin, etwas zu spät den Büchnerpreis 1996. Ihr erstes Buch, der Lyrikband „Landaufenthalt“, aus dem Jahr 1967 gab das seither leitende Thema vor: das Verhältnis des Menschen zur versehrten Natur.
Mensch und Natur im Anthropozän
„Wer Gedichte schreibt, die davon ausgehen, dass die Welt heil ist, streut sich und anderen Sand in die Augen“. Dieser Selbstaussage getreu, ist Sarah Kirschs Dichtung antiidyllisch, sie erfordert „Nachdenklichkeit und Geduld“, wie ihr Laudator Wolfgang Frühwald in Weimar betonte. Was Sarah Kirsch in den 1980er Jahren über die „aussterbenden Bäume, Löcher im Himmelsgewölbe, die heillos werdende Luft und die vergifteten Wasser der Erde“ schrieb, klingt wie eine vorweggenommene Chronik heutiger Klimakatastrophenberichte. Niemand hat so klarsichtig – und zugleich der Schönheit der leidenden Natur bewusst – den „sanften Schrecken“ (Adalbert Stifter) und die vielfach unsichtbaren Risiken des Anthropozäns benannt.
Im Herzen ihres Werkes steht der Mensch, der für das Staatswesen ebenso verantwortlich ist wie für seine Umwelt. Zwischen Mensch und Bürger, öffentlicher und privater Person gibt es keine Trennung. „Hätte ich keine politischen Interessen, könnte ich keinen Vers schreiben“, bekannte sie einmal. Doch diese Interessen sind kein politischer Klartext, sondern poetische Aussage, bildhaft formuliert und aufs Nachdenken, nicht aufs Nachbeten angelegt.
Deshalb ist Kirschs Sprache spröde und knapp. Sie reduziert die Poesie auf das Maß an Notwendigem. Wunderbar – und das durchaus im Sinne magischer Verse und „Zaubersprüche“ (so heißt ihr neben „Erlkönigs Tochter“ vielleicht schönster Lyrikband aus dem Jahr 1973) – ist diese Sprache, weil sie das Unvereinbare mit leichter Hand zu vereinen weiß. Aus norddeutscher Mundart, archaischem Ausdruck, historischen oder märchenhaften Einsprengseln, schnoddrigen Redewendungen, intelligenten Sprachspiele und zarten Bildern entsteht der vielgerühmte „Sarah-Sound“.
Biographie
Geboren wurde Sarah Kirsch unter dem Namen Ingrid Bernstein am 16. April 1935 im Pfarrhaus zu Limlingerode, dem „letzten Amtsitz“ ihres Großvaters vor dem Ruhestand, wie sie in ihrer autobiographischen Kindheitsgeschichte „Kuckucksnelken“ (2006) schreibt. Mit dem Wahlnamen „Sarah“ protestiert sie gegen das große Unrecht, das den Juden in Deutschland angetan wurde. Das Studium der Biologie, das sie nach einjähriger Arbeit in einer Zuckerfabrik in Halle begann und 1959 mit dem Diplom abschloss, schärfte ihren Blick für die Natur. Das literarische Handwerk lernte sie von 1963 bis 1965 in Leipzig, am damaligen Institut für Literatur „Johannes R. Becher“. Fern jeder literarischen Schule, schrieb sie unangepasste Gedichte und freche Geschlechtertauschgeschichten („Die Pantherfrau“, 1974). Mit Kollegen veranstaltete sie, seit 1968 in Ostberlin lebend, in den 1970er Jahren über die innerdeutsche Grenze hinweg ostwestliche Schriftstellertreffen, auf denen Manuskripte gelesen und diskutiert wurden; auch in ihrer eigenen Wohnung, einem Hochhaus auf der Berliner Fischerinsel. Der Freund und Kollege Hans Joachim Schädlich berichtet, dass die Vorbereitungen der Treffen von der Stasi abgehört wurden.
Nicht aber das, was die Autoren lasen. „Der Inhalt der Beratungen konnte nicht aufgeklärt werden“, heißt es hilflos in den Stasi-Akten. Wie denn auch! In dem Gedicht „Trauriger Tag“ aus dem Jahr 1967, das noch heute in Schullesebüchern steht, tigert die Dichterin durch die ummauerte Stadt, buchstäblich „wie ein Tiger im Regen“, sie brüllt „am Alex den Regen scharf“ und gesellt sich an der Spree, den Blick nach links, also nach Westen gerichtet, zu den „ehrlichen“ Möwen. „Und wenn ich gewaltiger Tiger heule / Verstehn sie: ich meine es müßte hier / Noch andere Tiger geben“.
Die gab es aber damals nicht. Die Staatssicherheit, so allgegenwärtig und schrecklich sie war, hat das in erschreckender Weise nicht verstanden. Als es 1976 endlich zu einem Aufheulen der Gewaltigen des Wortes kam, als im Westen Reiner Kunzes „Wunderbare Jahre“ erschienen, als Wolf Biermann ausgebürgert wurde und die Autoren, an erster Stelle Sarah Kirsch, dagegen bei der Staatsspitze der DDR protestierten, da antwortete der Staat seinerseits mit gewaltigen Drangsalierungen.
Sarah Kirsch sah damals keinen anderen Ausweg, als fortziehen „aus dem Haus der Stadt dem Land / Und vielleicht noch weiter für immer“. 1977, am 28. August, dem Geburtstag Goethes, verließ sie, den soeben bewilligten Ausreiseantrag in der Tasche, mit ihrem Sohn die DDR. Der aus ihrer Sicht „gottlob! versunkenen deutschen demokratischen DDR“ weint sie keine Träne nach. Unter den Kritikern der „Ostalgiker“, die lange noch von einer DDR schwärmten, wie sie denn hätte gewesen sein können, aber in Wirklichkeit niemals war, war sie eine der unerbittlichsten.
Nach einem Intermezzo in Westberlin (1977 bis 1983) ließ sich Sarah Kirsch in Tielenhemme in Schleswig-Holstein nieder, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Mit vielen Katzen bewohnte sie dort ein Schulhaus, schrieb mit „Sepiatinte aus dem Tintenfass für altmodische Füller“ (aber auch mit dem Laptop), malte Aquarelle, wanderte durch die Moorwiesen und Felder und reiste, solange sie konnte, vorzugsweise Richtung Norden, woraus dann so schöne Journale entstanden wie die Tagebruchstücke aus „Islandhoch“ (2002) oder aus „Regenkatze“ (2007).
In dem Journal „Märzveilchen“ (2012) findet sich im Januar 2002 der Eintrag: „Die Frau Lindgren ist gestorben, mit 94. Die bekommt einen wunderbaren Stern wo sie sich niederlassen kann, wer denn sonst“. Von Sarah Kirsch, gestorben mit 78, bleiben ihre Gedichte, ihre Prosa, ihre Aquarelle.
Autor: Michael Braun
Stand: 2013
Walter Kempowski
* 29. April 1929 in Rostock
† 5. Oktober 2007 in Rotenburg an der Wümme
Literatur als Erinnerung – Nachruf
Haus Kreienhoop ist ein großes Anwesen in einem kleinen Dorf im niedersächsischen Nartum. Hier, in seiner 700 Quadratmeter großen Bücherarche, wohnte und schrieb Walter Kempowski seine kollektive Chronik „Das Echolot“. Für die ersten vier Bände des neunbändigen Werks, das seinesgleichen sucht in der deutschen Gegenwartsliteratur, erhielt Walter Kempowski am 3. Mai 1994 den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, gerade „zur rechten Zeit“, wie der Autor in seiner Dankrede sagte. Am 5. Oktober 2007 ist der große deutsche und europäische Chronist im Rotenburger Krankenhaus seinem Krebsleiden erlegen.
Biographie
„Das Echolot“ hat Kempowski zu einem geachteten Autor gemacht. Bekannt war er lange schon, wie die jüngste Ausstellung „Kempowskis Lebensläufe“ in der Berliner Akademie der Künste dokumentiert. 1929 als Sohn eines Rostocker Reeders geboren, wurde er drei Jahre nach Kriegsende wegen vermeintlicher Spionage verhaftet und in Bautzen zu 25 Jahren Haft verurteilt. Acht Jahre verbrachte er hinter den Gittern des „Gelben Elends“. Auf dem Gefängnishof horchte er auf das vielfältige Gesumme in den Zellen. Die vielen unbekannten Stimmen: Wer hört auf sie, wer sammelt sie ein, wer gibt sie weiter? Dies ist die Ausgangssituation des „Echolots“: „Wir müssen aufheben, was nicht vergessen werden darf … Es ist unsere Geschichte, die da verhandelt wird“.
Nach acht Jahren kam Kempowski frei, ging nach Göttingen zum Literaturstudium und war dann 20 Jahre lang als Dorflehrer in Nartum tätig. Er muss ein schrulliger und skurriler Lehrer gewesen sein, wie aus den Romanen Jean Pauls entsprungen, lehrreich, ohne belehrend zu sein, geistreich, aber oft fernab der Zeitgeistmoden. 1975 erschien sein bekanntester Roman, „Tadellöser und Wolff“, der später erfolgreich verfilmt wurde, eine Schicksalsgeschichte des deutschen Bürgertums im 20. Jahrhundert. Das Thema der deutschen Chronik ließ ihn nicht mehr los. Mit welchen moralischen Verrenkungen der Alltag im „Dritten Reich“ überstanden wurde, das verstand er ebenso eindringlich zu beschreiben wie eine Haupterblast der Deutschen, die Flucht vor ihrer historischen Verantwortung, ihre Unfähigkeit, sich genau zu erinnern, ihre Probleme im Umgang mit der Freiheit.
Erinnerungsliteratur avant la lettre
An das „Echolot“ verwandte Kempowski fast ein Vierteljahrhundert, die längste und beste Schreibzeit seines Lebens. Das Werk ist eine Collage von Dokumenten, Briefen, Biographien, Tagebuchauszügen aus der Zeit des Nationalsozialismus, intra et extra muros. Tagebuchnotizen von Goebbels stehen neben autobiographischen Aufzeichnungen von Thomas Mann, alliierte Befehle von Churchill neben Briefen von unbekannten Soldaten. Der Fokus der Erinnerung liegt auf Stalingrad und Auschwitz, den Epizentren des Tätergedächtnisses und des Opfergedächtnisses auf dem europäischen Erinnerungskontinent. Die Stimmen von Kriegsteilnehmern, Flüchtlingen, Emigranten, Juden, Alliierten bilden ein heterogenes Kompendium ihrer Zeit und geben ein besseres und spannenderes Geschichtsbuch ab als jede historiographische Monographie. Kempowski lässt den Zeitzeugen ihre originale Stimme, ihr Leiden an Deutschland im Krieg, ihre Hoffnung auf ein friedlicheres Europa.
Der Rückzug des Autors aus der Zitatencollage ist gelegentlich als Verlust an Originalität gedeutet worden. Das Gegenteil ist richtig. Walter Kempowski macht nichts Anderes als das, was Walter Benjamin bei seinem „Passagenwerk“ vorschwebte: eine große menschliche Tragödie in Originaltönen aufzuzeichnen. Die Kunst des Autors als Regisseurs liegt darin, die eingesammelten Stimmen auszuwählen und in eine Choreographie zu bringen, in der sie für sich, mit den anderen Zeitzeugen und zugleich zu uns, den Nachgeborenen, sprechen. Er zieht, wie Martin Mosebach hellsichtig bemerkt hat, den „moralischen Vorhang weg, der die erhabene Sinnlosigkeit der Geschichte unseren Augen entzog. Er hat den Deutschen einen historischen Blick ohne Geschichtsphilosophie gelehrt“.
Darin ist das „Echolot“ hochaktuell. Kempowski zählt auf die Erinnerung – und darauf, dass sie jemand hört. Das gilt auch für die Fortsetzung, die den letzten Kriegswochen im Januar und Februar 1945 gilt, einschließlich des alliierten Bombenangriffs auf Dresden, und dem Band „Abgesang, 1945“, der das gigantische Projekt beschließt: er beginnt am Tag von Hitlers Geburtstag und endet mit der totalen Kapitulation NS-Deutschlands. Kempowskis neunbändiges Werk ist Erinnerungsliteratur im besten Sinne, es stiftet, nachdem die Zeitzeugen gestorben sind, die Zukunft der Erinnerung, aus der wir lernen können: nicht, wie es eigentlich gewesen ist, sondern wie Menschen ihre Zeit sprachlich aufgenommen und gedeutet haben. Kempowski ist der Archivar, Chronist und Erzähler der europäischen Erinnerung.
Letzte Werke
„Letzte Grüße“ (2003) und „Alles umsonst“ (2006) heißen die Romane, die Kempowski in den letzten Jahren seines Lebens geschrieben hat. Die Titel sind Signale: nicht eines melancholischen Alterswerks, sondern eines Lebens im Zeichen der Erinnerung, die so realistisch ist, dass sie ihr eigenes Scheitern, also das Vergessen, stets mit einzukalkulieren weiß. Dass es oft um Flüchtlingstragik und Vertreibungselend geht, ist in Kempowski eigener Biographie begründet. Mit der Ehrenbürgerschaft seiner Vaterstadt Rostock, die ihm nach Auskunft des Verlags auch eine offizielle Trauerfeier ausrichten will, ist ihm eine späte Genugtuung widerfahren.
Seiner schweren Krankheit zum Trotze hat Kempowski immer wieder Literaturseminare und Lesungen in Haus Kreienhoop abgehalten – wenn er nicht mehr konnte, las seine Frau weiter – und Besucher empfangen, im Sommer 2014 auch den Verfasser dieser Zeilen: Da saß er am Fernseher und schlug nach Fliegen, während er den Kritikern beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt zuhörte. Sein „Echolot“ hat die Tiefen und Untiefen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts ausgelotet. Das 21. Jahrhundert kann aus dieser literarischen Geschichtsschreibung von unten nur lernen.
Autor: Michael Braun
Stand: 2007
Hilde Domin
* 27. Juli 1909 in Köln
† 22. Februar 2006 in Heidelberg
Dichterin des Dennoch
Ihre Gedichte hat sie stets zweimal gelesen, auch in Weimar, als sie 1995 den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung bekam: einmal für die Mitwelt, einmal für die Nachwelt. Es sind lyrische Hinterlassenschaften, die es wert sind, behalten und auswendig gelernt zu werden. Was Hilde Domin ihren Zeitgenossen zu sagen hatte, gilt auch heute: Es ist nicht umsonst, unverzagt aufzubegehren, sich souverän einzumischen, auch mit Humor, anzuschreiben gegen den Vorauskonformismus („wenn man heute so gebettet sein möchte, wie man morgen liegen möchte“) und sich ins Zeug zu legen für mehr Brüderlichkeit – trotz, oder gerade wegen der Unsolidaritäten in aller Welt.
Unbequem zu sein, das war Hilde Domins Problem nie. Gerne saß sie zwischen den Stühlen. Dort war der Platz für ihren „Mut zum Dennoch“ (Ulla Hahn). „Der Baum blüht trotzdem“, so hieß ihr letzter Lyrikband (1999). Am 22. Februar 2006 ist die große Kölner Dichterin, 96jährig, verstorben. An dem Geburtshaus in der Riehler Straße erinnert heute eine Plakette an Hilde Domin. Um die Ecke wohnte Heinrich Böll. Ihre Kölner Wohnung war so groß, dass die Kinder im Flur mit Rollschuhen laufen konnten. Schon in der Schule fiel die Frühbegabte auf. Sie verfasste Aufsätze in Reimen und hielt im Anwaltstalar des Vaters eine so kritische Abiturrede, dass die Schulleitung erwog, ihr das Abschlusszeugnis wieder abzuerkennen. Als sie im März 1929 am Merlo-Mevissen-Gymnasium unter dem Vorsitz des damaligen Oberbürgermeisters Konrad Adenauer ihr mündliches Abitur ablegte und vom Schulrat für ihr Paneuropa-Engagement eine Note herabgestuft wurde, zerriss sie zuhause aus Zorn ihr taubenblaues Samtkleid. Den ersten Bundeskanzler hat sie in ihrer Weimarer Dankrede 1995, zur Verleihung des Literaturpreises der Adenauer-Stiftung als Versöhner der Völker und Freiheitsdenker gewürdigt.
Hilde Domins Lebenslauf ist untrennbar von ihrem Exil. 1932 verließ sie mit ihrem späteren Mann, dem Hispanisten Erwin Walter Palm, das nationalsozialistische Deutschland. Ihr Vater, ein jüdischer Anwalt, war von den Nazis öffentlich verhöhnt worden. Über Italien und England gelangte die Studentin in die Dominikanische Republik, ein zwielichtiges Paradies. Der Diktator Trujillo hoffte dort mit den Emigranten aus Europa sein Land „aufzuweißen“, verfolgte aber alle Andersdenkenden.
Im Exil wurde Hilde Domin zur Dichterin. In den postum edierten Briefen mit ihrem Mann kann man lesen, wie schwer diese dichterische Selbstgeburt war. Nicht nur in fremden Sprachmilieus, auch gegen die Ignoranz ihres Mannes, der selbst gerne ein weltberühmter Poet geworden wäre, setzte sich Hilde Domin durch.
1961 kehrte Hilde Domin nach Deutschland zurück. Kein Zufall war es, dass ihre erste Dichterlesung in Köln stattfand. Der Festsaal des Kölnischen Stadtmuseums in der Zeughausstraße war gut gefüllt. Als Hilde Domin auf den Appellhofplatz und das „Gericht mit den großen neuen Glastüren“ blickte, kam ihr die Idee zu dem Gedicht „Köln“. Sie hat es Böll gewidmet. Es ist ein poetisches Dokument von Flucht und Vertreibung, ein Migrationsgedicht. „Ich schwimme in diesen Straßen“, heißt es über die für sie „versunkene Stadt“: „Andere gehen.“
Hilde Domins „Dennoch“-Gedichte setzen Zeichen der Hoffnung wider alle Hoffnung. Etwa in den drei Liedern zur Ermutigung (1961). Das erste beginnt mit dem traurigen Bild von den tränennassen Kissen mit verstörten Träumen. Dann folgt das „Dennoch“: „Aber wieder steigt / aus unseren leeren / hilflosen Händen / die Taube auf“. Die Hände sind hilflos, sie sind sogar leer. Aber die emporsteigende Taube ist kein Dichterzaubertrick, sondern Symbol poetischen Vertrauens. Der Vogel ist Zeichen eines Wunders, einer sehr irdischen Gnade, die dem Menschen ebenso zufallen kann wie das größte Unglück. Deshalb ist Domins Hoffnungspoetik nicht mit dem Glauben zu verwechseln. Sie ist keine konfessionell denkende Dichterin. Es geht ihr darum, Modellerfahrungen auch aus der jüdischen und christlichen Exil-Tradition zu artikulieren, Beispiele, mit denen der Dichter den politisch wachen, brüderlich denkenden Menschen im Leser anzusprechen bemüht ist. Dazu bedarf es nicht vieler Worte und keiner komplizierten Sprache. Hilde Domins „einfache Worte“ „riechen nach Mensch“. Der Kern dieser dialogischen Poetik ist das Vertrauen darauf, dass es ein Du gibt, das sich von einem Ich anrufen lässt.
Aufschlussreich ist auch das Gedicht Sisyphus aus dem Jahr 1967: ein jenseits der Philosophie des Absurden angesiedelter Aufruf, den Stein bergaufwärts zu rollen, obwohl es sinnlos scheint; eine Ermutigung zum Neuanfang. Auf diese Weise sind Hilde Domins Gedichte „Depeschen aus der Agentur der praktischen Vernunft“, wie Iso Camartin anlässlich der Verleihung des Heidelberger Preises für Exilliteratur an Hilde Domin (1992) sagte.
Hilde Domins Exil-Gedichte erinnern an Flucht und Vertreibung, ohne Wehmut, mit dem Mut zum Dennoch und zur zweiten Chance. Worin diese Chance besteht, das haben ihr selbst die kritischsten ihrer Kollegen bescheinigt. Es ist eben Hilde Domins „Sanfter Mut“ zu einem Dennoch, das auf Taubenfüßen daherkommt, aber tiefe Spuren hinterlässt und allem entgegentritt, was den Menschen daran hindert, ein Mensch zu sein. „Sanfter Mut“, so heißt das Dennoch-Gespräch, das Erich Fried der Kollegin in den 1980er Jahren gewidmet hat: „Du würdest auch noch dem Tod leise entgegentreten!“ - „Leise? Vielleicht. Aber entgegentreten.“ Das ist gesagt „auf der Kippe zwischen Furcht und Zuversicht. Balancierstange die ratio“.
Autor: Michael Braun
Stand: 2016
Günter de Bruyn
* 1. November 1926 in Berlin
† 4. Oktober 2020 in Bad Saarow
Schriftsteller der Einheit – Nachruf
Günter de Bruyn ist der vierte Träger des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung. 1996 hielt ihm Wolfgang Schäuble, seinerzeit Fraktionschef der Unionsparteien, im Weimarer Nationaltheater die Laudatio. Am 4. Oktober 2020 ist Günter de Bruyn verstorben.
„Als Poesie gut“, damit soll der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. einmal begründet haben, warum er eine militärische Denkschrift ablehnte. Günter de Bruyn hat Episoden wie diese geliebt und gesammelt. Warum? Weil sich damit ganz wunderbar, leicht-ironisch und zugleich lehrreich vom Verhältnis von Literatur und Politik erzählen lässt, von der Blütezeit Preußens bis zum wiedervereinigten Deutschland. Am 4. Oktober, einen Tag nach dem 30. Jahrestag der Deutschen Einheit, ist Günter de Bruyn, 93-jährig, gestorben.
Geboren wurde Günter de Bruyn am 1. November 1926 in Berlin. Er arbeitete als Schullehrer und als wissenschaftlicher Bibliothekar, bevor er in den 1960er Jahren zum Schreiben kam. Mit den eigenen Anfängen hat sich de Bruyn kritisch auseinandergesetzt. Den ersten Roman „Der Hohlweg“ nannte er später einen „Holzweg“. Er scheute sich nicht, den eigenen Mut zu relativieren und die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit zu thematisieren. Das belegen eindringlich seine Romane. Sie sind Zerrspiegel der sozialistischen Erziehungsdiktatur und zugleich Lehrstücke des freien Denkens. Die Gelehrtensatiren „Buridans Esel“ (1968), „Preisverleihung“ (1972), „Märkische Forschungen“ (1978) und der Demenz-Roman „Neue Herrlichkeit“ (1984) erzählen davon, wie die DDR sein wollte und wie sie hingegen wirklich war: realistische Gesellschaftsromane eines Autors, den man den Fontane der DDR nannte.
Als die Mauer fiel, stand Günter de Bruyn auf der Seite der freundlichen Mahner. Zwischen „Jubelschreien, Trauergesängen“ (so heißt sein Essayband von 1991) bekannte er sich zu einer Position der deutschen Kulturnation, die sich, so argumentierte er, mit guten Gründen der Freiheit und des Friedens freuen sollte, durch die die Vereinigung des lange geteilten Landes zustande gekommen sei. Einen „Schriftsteller der deutschen Einheit“, so hat Wolfgang Schäuble, damals Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 1996 bei seiner Laudatio im Weimarer Nationaltheater den Autor genannt, als er dort den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhielt: für seine autobiographischen, essayistischen und erzählenden Werke, die – so die Begründung für den Preis – „mit leiser Deutlichkeit, mit Menschenfreundlichkeit und Humor der Freiheit das Wort“ geben.
Günter de Bruyn hat seine kulturpolitische Haltung beglaubigt, indem er seine Autobiographie über seine Jugend in Berlin („Zwischenbilanz“, 1992) und seine Zeit in der DDR („Vierzig Jahre“, 1996) vorlegte. Umsichtig und klarsichtig schreibt er da über sein Leben in zwei Diktaturen, geht ins Gericht mit falschen Erinnerungen und kreidet mit Jean Paul, über den er eine mehrfach aufgelegte Biographie geschrieben hat, den „Kraftmenschen“ an, dass sie „die Kraft der Wahrheit vermissen lassen, also der Butterblume gleichen, aus welcher, da die Kühe sie nicht fressen, 'niemals Butter wird'“.
Die Autobiographie ist das Gelenk, das die Romane der Phase I mit den Preußenbüchern der Phase II verbindet. Seit den 1990er Jahren hat Günter de Bruyn sich als Erforscher der preußischen Geschichte hervorgetan; er erzählt, was der Historiker Christopher Clark beschreibt: wie Preußen dank seiner Kultur ein europäischer Staat war, bevor er ein deutscher wurde. De Bruyns Bücher behandeln Schicksale, Bücher und Menschen aus Berlins Kunstepoche um 1800. Es geht um die Prachtallee Unter den Linden, um die Adelsfamilie Finckenstein, um die charismatische Preußenkönigin Luise. Und, immer wieder, um märkische Landschaften. „Abseits“, so der sprechende Titel seines Buches von 2005, vom Kulturbetrieb forschte und schrieb der Autor in einem brandenburgischen Dorf, wo er seit 1967 lebte, getreu der Maxime des von ihm geschätzten Chamisso: „in dieser rasenden Zeit zieh' ich mich in Demut zurück“.
Sicherheit, Freiheit und Frieden im Staate sind auf Literatur begründet. Dessen hat uns Günter de Bruyn in seinen Romanen und Geschichtserzählungen intensiv vergewissert. Mit seinem letzten Buch ist Günter de Bruyn wieder zum Roman zurückgekehrt. „Neunzig Jahre“ (2018) spielt im August 2015, mitten im Jahr der Willkommenskultur. Der Roman erzählt von einem langen Leben im kurzen 20. Jahrhundert und den Lektionen aus der Geschichte für die Gegenwart, es geht um katholischen Glauben und Gewissensnot, Fortschrittsangst und Mut zu Altbewährtem, um die Grenzen des Genderns und die Schönheit der deutschen Sprache: „Als Poesie gut“.
Autor: Michael Braun
Stand: 2020
Thomas Hürlimann
* 21. Dezember 1950 in Zug
Inlandskorrespondent, Verhängnisforscher und „Welttheater“-Autor
Ein fünfzehnjähriger Klosterschüler klettert während der Sonntagsmesse in den Dachstuhl der Klosterkirche. Dort faltet er ein Papierflugzeug und lässt es durch die kleine Öffnung in der Kuppel ins vollbesetzte Kirchenschiff segeln. Auf dem Papier steht geschrieben: „Die Religion ist der Wille zum Winterschlaf“.
Biographie
Der Junge, der auf diese Art seine Mutprobe für den „Club der Atheisten“ ablegt, ist Thomas Hürlimann. 1951 ist er in Zug in der Schweiz geboren, seine Schulzeit (1963-1971) hat er im Einsiedler Stiftsgymnasium verbracht, wo er den „Himmel als Deckel, die Religion als Terror“ empfand. Man kann sich vorstellen, wie das fliegende Nietzsche-Zitat seinerzeit in die Kirchengemeinde eingeschlagen hat. „Zwei Jahre später, Anno 1968“, schreibt Hürlimann, „besetzten wir das Rektorat und verbrannten unsere Kutten. Wir verlangten freien Ausgang, Pommes frites wollten wir essen und Cola trinken und die Stones hören“.
Ende der siebziger Jahre wohnte Thomas Hürlimann dem wochenlangen Sterben seines 20jährigen Bruders Matthias bei. Diesen existentiellen Todesschrecken schrieb er sich mit seiner ersten Novelle Die Tessinerin von der Seele. Die Novelle erzählt eine Geschichte über die Grenzen des Lebens, eindringlich, mit hoher Präzision und mit filmisch genauer Schnitttechnik („der Schnitt bestimmt den Stil“, schreibt Hürlimann einmal). Mit der Tessinerin eröffnete Egon Amman seinen Zürcher Verlag, dem Hürlimann bis zu dessen Auflösung 2010 die Treue gehalten hat.
Familie und Verhängnisforschung
Das Schlüsselerlebnis des Sterbens steht im Zentrum von Thomas Hürlimanns Werken. Es ist untrennbar verbunden mit dem Thema der Familie, deren Geschichte immer miterzählt wird – seiner Familie. Thomas Hürlimann gehört zu den Autoren, die ihren Stoff nicht erfinden, sondern finden: in Familiengeschichten, die in Literatur verwandelt werden. Der Bruder, der Vater, die Mutter, der Onkel (der Stiftbibliothekar von St. Gallen): Sie sind, zuletzt der Prälat, gestorben. Aber sie leben weiter – in den Geschichten, die der Schriftsteller-Sohn erzählt. Die Eltern spielen unter ihren Realnamen Rollen in dem ersten Stück Großvater und Halbbruder (1980). Die Romane Der große Kater (1998) und Vierzig Rosen (2006) bilden mit der Novelle Fräulein Stark (2001) eine autobiographisch grundierte Schweizer Familiengenealogie, mit Glanz und Elend, wie sie ähnlich auch in anderen zeitgenössischen europäischen Romanen erzählt worden ist, etwa von Peter Esterhazy, aber vielleicht nirgends so innerschweizerisch wie hier. Deshalb ist auf dem Holzweg, wer nur die Realbezüge der Romane entziffert und ihren symbolischen Mehrwert außer Acht lässt. Thomas Hürlimann, der „Inlandskorrespondent“, ist ein Meister leitmotivischer Bezugsketten und mehrfachcodierter Bilder.
Der Tod der Familie, der Tod in der Familie: Das Bindemittel, das diese Thematik zusammenhält, ist das Verhängnis. Der „Verhängnisforscher“ Thomas Hürlimann, der die Wörter nicht nur ernst, sondern wörtlich zu nehmen pflegt, hat dieses Wort so erklärt: Das „Verhängnis“ kommt „aus der Furcht des Kutschers vor dem Durchbrennen des Gespanns. Jagt es dem Abgrund entgegen, reißt es die Kutsche mit – sie ist mit den Pferden verhängt“. Und das Hauptverhängnis unseres weltweit vernetzten Zeitalters ist die Zeit, deren ungeheure Beschleunigung beim Zappen durch mehr als hundert Fernsehkanäle und bei der Echtzeitkommunikation im Internet gar nicht mehr wahrgenommen wird. Die Zeit, schreibt Hürlimann, „wird nur noch selten von Glocken geschlagen“, sie strömt nicht mehr, sondern steht im Digit, der kleinsten elektronischen Informationseinheit, still, Punkt für Punkt.
Viele Geschichten und Stücke Hürlimanns beginnen damit, dass der Tod in eine Gemeinschaft eintritt, im wahrsten Sinne – so wie der Arzt sagt: „Der Tod ist eingetreten“, ein ungebetener, heimlicher, Familienfassaden einreißender Gast, vielleicht Der letzte Gast, wie in dem gleichnamigen Stück von 1990. Der Tod lässt niemanden in Frieden ruhen in Hürlimanns Werken, schon gar nicht den, der wegsieht und ihn den Spitalzimmern und der palliativen Hochleistungsmedizin überlässt. Mehrfach ist davon die Rede, dass die Augen der Verstorbenen mit einem Heftpflaster zugeklebt werden: „Verendet ein Mensch, verendet die Welt“, heißt es. Der Augen-Blick des Todes ist der blinde Fleck unserer Weltwahrnehmung.
Komödien in Weh-Dur
Hürlimann geht es darum, die Würde des Menschen im Angesicht des Todes zu retten. Seine Totentänze sind Symbole der gebrechlichen Einrichtung der Familie, deren Struktur mit Begriffen wie „patchwork“, „Ausnahmeerscheinung“, „Restfamilie im Wohlfahrtsstaat“ beschrieben worden ist. Heilig ist diese Familie schon lange nicht mehr. Die Ursituation dieser entgötterten Spätmoderne findet sich in dem Stück Carleton von 1996. Der Agronom Carleton ist in seine Heimatstadt Kansas City zurückgekehrt, ihm verdankt Amerika den wetterbeständigen russischen Weizen, aber statt eines triumphalen Empfangs erwartet den Heimkehrer das Hinterhofmilieu einer Stadt ohne Kirche und mit einem Gott, der sich nur noch im Korn und im Geld verbirgt. So zappeln die metaphysischen Antennen vieler Hürlimann-Figuren ins Leere. „Der Himmel wurde geschlossen, Gott für tot erklärt, und das war möglich, weil ihn die Menschen als Seinsgeber nicht mehr brauchten“, resümiert die kleine Poetologie Das Holztheater (1997). Aber der Autor ist kein Adept einer pantragischen oder auf christliche Versöhnung getrimmten Tradition; er steht zwischen Rolf Hochhuth und Thomas Bernhard, zwischen christlich modernisiertem Trauerspiel und grotesker „Komödientragödie“. Seine Stücke, hat ein Theaterkritiker gesagt, sind „Komödien in Weh-Dur“.
Hürlimanns bevorzugtes Mittel, das Ernste erträglich zu machen, ist die Situationskomik. Sein Humor ist manches Mal abgründig, zumal wenn er politischen oder religiösen Fragen gilt. Zum Beispiel in der (Dürrenmatt gewidmeten) Kurzgeschichte „Der Tunnel“, wenn die feiernden und pokulierenden Politiker im Eidgenössischen Jubeljahr 1991 in ihrem Extrazug zwar grandiose Auftritte, aber keine Abtrittsmöglichkeit, sprich: eine Toilette haben – ihr Publikum sind Schüler, die, als der Zug notgebremst und jeder Mann herausgekommen ist, die Nationalhymne schmettern, „aber mit geschlossenen Augen“. Oder wenn (in Der große Kater) der apostolische Nuntius beim Galadinner des Schweizer Bundespräsidenten religiöse Fragen unter der Hand in kulinarische verwandelt und die göttliche Vorsehung mit dem – da sind sich alle geladenen Gäste sicher – zweifellos am Ende aufgetragenen Dessert veranschaulicht. Die Figuren des „katholischen Atheisten“ Thomas Hürlimanns, der in dem berühmten Fragebogen der F.A.Z. als meistbewunderte Reform den „Übergang vom Korsett zum Dessous“ angibt, diese Figuren Hürlimanns sind keine Verächter sinnlicher Erkenntnis. (Nach dem Autor ist übrigens eine Zürcher Brauerei benannt, als Beweis kann ich Ihnen nachher den passenden Bierdeckel zeigen.)
Auch in der Satellitenstadt, der 1992 erschienenen Geschichtensammlung, ist kein Platz für religiöse Gefühle, christliche Wunder oder biblische Wandlungen. Die Humoreske „Onkel Egon und der Papst“ demonstriert, wie das Fernsehen Ende der fünfziger Jahre als Epiphanie der Medienmoderne die Wohnzimmer erobert. Es wird dort verehrt wie ein höheres Wesen. Der Kniefall der Zuschauer gilt nicht dem Papst, der auf dem Bildschirm den Segen urbi et orbi spendet; nein, sie fallen vor dem Medium nieder, dem „Wunder der Television“. Das ist eine bezeichnende und im Grunde tragikomische Situation. Das „Wunder der Wandlung“ hat sich von der Messe in die Medien verlagert. Auf dieser säkularen Bühne der Verwandlung entdeckt Hürlimann die Komik in den traditionellen Tragödien, gerade auch in denen der Bibel.
Bei Autoren des absurden Theaters ist Thomas Hürlimann in die Schule gegangen. Darin steht er Beckett näher als Brecht. Dissonanz und Dialektik sind die Strukturgesetze seiner Stücke. Durch Lachen bessern wollen sie nicht, nur Einsicht geben. Deshalb fehlt den frühen Lehrstücken, Großvater und Halbbruder oder Der Gesandte, auch jegliche wohlfeile Lehre. Diese Stücke zielen auf das fatale Doppelleben, auf die historischen Lebenslügen der Schweiz und ihre Neutralitätspolitik, die in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts ins Schussfeld der öffentlichen Diskussion geriet. Mit der „Gewissensqual aus zweiter Hand“, die Max Frisch der Schweiz schon 1965 attestierte, rechnet Hürlimann ohne moralischen Urteilszwang ab. Warum der Großvater, der den sich als Hitlers Halbbruder ausgebenden Flüchtling während des Krieges beschützt hat, nach dem Krieg als Nazifreund beschimpft wird, warum der Gesandte der Schweiz, der während des Krieges in Berlin mit bedenklichen Schachzügen die Schweiz beschützte (getreu dem Motto, dass man nicht die eigene Bank überfällt), nach der Heimkehr aus dem Krieg schlicht vergessen (und darüber wahnsinnig) wird, dafür findet die Geschichte keine Erklärung. Die opportunistische Person wechselt gerne ihre Masken, nicht nur im Theater. Die Literatur jedenfalls ist zur Demaskierung solcher Lügen da. Ihr Pflichtteil ist es, solche „weggelogenen Geschichten wiederzufinden“.
Politische Romane
Vierzig Rosen heißt der bislang jüngste Roman von Thomas Hürlimann. Es ist, nach der Novelle Fräulein Stark, sein erfolgreichster. An die 100.000 Exemplare sind verkauft, Übersetzungen gibt es schon in zwei Sprachen. Zugleich läuft der Roman auf ein schon erwähntes thematisches Großmassiv von Hürlimanns Prosa zu: auf die Zeit. Wenn der Tod die Geburt des Erzählers ist, dann ist die knappe Zeit, in der von ihm erzählt wird, reiche Zeit, gewonnene Lebenszeit.
Vierzig Rosen werden Marie an jedem Geburtstag zugestellt, pünktlich um neun in der Früh. Sie sind ein Geschenk ihres Gatten Max, der hoch hinaus will in der Politik. Sein merkwürdiges Geschenk dient als Ritual, um das Altern der Liebe aufzuhalten, um die „Vergänglichkeit an die Wand zu spielen“. Marie spielt die Rolle der parkettsicheren Politikerfrau zu perfekt, um diesen charmanten Betrug platzen zu lassen. Die Rosenkönigin im Kleid von Pucci, ihr Kavalier im Dinnerjackett, so steuert das Paar im Grand Hotel der Regierungshauptstadt zielbewusst zum Tisch der politischen „Gruppe Eins“. Hier hat es der Mann endlich geschafft – mit und dank seiner klugen, schönen Frau.
Aber wiederum um den Preis eines Familiendesasters. Am Geburtstag der Mutter bleibt der sterbenskranke Sohn zu Hause; die Eltern wissen, dass er sterben wird. Die nächste Station des Blumenboten, der das prächtige Bouquet am Morgen überbringt, ist der Friedhof. Die Zeit lässt sich nicht aufhalten und nicht beherrschen, weder mit Pünktlichkeit noch mit Perfektion – sie verrinnt unerbittlich, weil es niemanden gibt, um den man sie bitten kann. Es gibt eigentlich die reine Gegenwart gar nicht, schreibt Augustinus (im zehnten Buch der Confessiones), nur Vergangenheit und Zukunft, und zwar im Modus der Erinnerung oder der Erwartung.
Die Gegenwart, die Hürlimann in seiner Familientrilogie beschreibt, ist eins mit der Mode des gesellschaftlichen Parketts und der modernen Schweizer Bundespolitik; und auf beiden tanzen Marie und Max in erfolgssicherem Gleichschritt. Hier lüftet die Zeit ihre Maske. „Modérn“, wusste Karl Kraus, lässt sich durch eine leichte Akzentverschiebung auch als „módern“ lesen. „Was heute en mode ist, wird morgen passé sein“, schreibt Hürlimann.
In dem Roman gibt es ein wichtiges Zeichen für die Zeit. Es ist das Familienwappen der Familie Katz, das in der Form einer offenen Schere über dem Haus hängt. Als jüdische Emigranten sind Maries Vorfahren aus Galizien in die Schweiz eingewandert. Dort haben es die „Seidenkatz“ in der Konfektionsbranche zu Ruhm und Reichtum gebracht. Doch die gekreuzten Klingen, die so gut zu dem seinen Aufstieg dem Abschneiden alter Zöpfe verdankenden Max passen, stehen auch für den Krebs, der den Sohn dahinrafft.
Wo bleibt das Positive, kann man auch hier fragen? In dem Roman liegt es in der Musik und in der Liebe. Sie sorgen für die Verbindung mit dem Himmel, der auf der Erde nicht zu haben ist. Auch die Geschichten, die von der Literatur erzählt werden, sind ein Mittel gegen die Vergänglichkeit. Auch wenn sie nicht unbedingt versöhnen, so verbinden sie doch eine Erzählgemeinschaft, die für die Zukunft der Erinnerung sorgt: der Erinnerung an die Familiengeschichte, zumal ihren jüdischen Zweig, an die Geschichte der Schweiz, an die Geschichte Europas und des Abendlandes.
Autor: Michael Braun
Stand: 2011
Hartmut Lange
* 31. März 1937 in Berlin
Die Kunst des Novellisten
Wenn es einen Autor gibt, der die in der Nachkriegszeit lange totgesagte Gattung der Novelle rehabilitiert und ihr neues Leben eingehaucht hat, dann ist es Hartmut Lange. Abseits von modischen Strömungen schreibt er – seit 1980 – eine makellos klare, detailgenaue, an Kleist geschulte Prosa. Dabei kommt ihm die langjährige Erfahrung als Dramatiker sehr zugute. Der 1937 in Berlin geborene Lange begann seine literarische Laufbahn als Hacks-Schüler und Hoffnungsträger des politisch engagierten DDR-Theaters. Doch der jeder ideologischen Vereinnahmung abholde Querdenker hatte weder an den Bühnen der DDR, der er 1965 den Rücken kehrte, noch an den westdeutschen Theatern Fortune. Nun ist eine stattliche Ausgabe von Langes Gesammelten Novellen erschienen. Sie präsentiert das bislang in zwölf Einzelausgaben greifbare Prosawerk in seiner ganzen „Geschichtenvielfalt“, wie sie der Gießener Philosoph Odo Marquard 1998 in der Laudatio zur Literaturpreisverleihung der Konrad-Adenauer-Stiftung entfaltet hat. Hervorzuheben sind die von der Kritik außerordentlich geschätzte Novelle Das Konzert (1986), ein Requiem auf die Berliner Opfer der Judenvernichtung, die Italienischen Novellen (1998) und die jüngsten Künstlernovellen Die Bildungsreise (2000) und Das Streichquartett (2001).
Langes Helden besitzen alles, was sie brauchen: Geld, Bildung, ein Leben – mit oder ohne Lebensgefährtin – nach ihren schönsten Vorstellungen. Doch immer bricht in diese prästabilisierte Harmonie die Existenzangst, die Sinnfrage, die Einsicht in das „Sein zum Tode“ (Marquard) ein. Diese Erkenntnis wirft Langes Grenzgänger, die auffällig oft an Erkrankungen des Gehapparates leiden, aus ihrer Bahn und führt die Novellen zu einem pointierten, überraschenden Ende, das trotz des modernen Inhaltes nicht anders als klassisch genannt werden kann. Das „unerhörte Ereignis“ in Langes Novellen ist stets der Einbruch des Rätselhaften in die Welt des Gewöhnlichen. Sie sind ab- und hintergründige Geschichten der Verunsicherung und weisen aus unserer Welt hinaus, „in der die Dinge immer nur das bedeuten, was sie sind“.
Die Ausgabe [Hartmut Lange, Gesammelte Novellen. In 2 Bänden, Zürich: Diogenes, 2002 – Anm.d.Red.] beleuchtet Hartmut Langes große Themen: die Rolle der Musik, das Verschwinden des Subjektes, die Rehabilitierung des Metaphysischen. Und sie erfüllt alle Voraussetzungen, aus einem anerkannten endlich auch einen bekannten Autor zu machen.
Autor: Michael Braun
Stand: 2002
Burkhard Spinnen
* 28. Dezember 1956 in Mönchengladbach
Hiob in Berlin - Der Roman Rückwind
Wie viel Schicksal verträgt ein Mensch? Und wie wird man mit Hiobsbotschaften fertig in Zeiten, die auf Resilienz, auf Widerstandskraft statt auf religiöse Instanzen schwören? Burkhard Spinnen hat dazu eine bemerkenswerte epische Versuchsanordnung aufgebaut. Sie ist feinsinnig in der Struktur, verwinkelt, aber nicht verwickelt, außerdem hochgradig spannend und mit Figuren besetzt, die wie am Schnürchen agieren: als „Handpuppen aus dem Material der Gegenwart“, wie Spinnen bei einem Gespräch über den Roman in der Katholischen Hochschulgemeinde in Köln sagte.
Hartmut Trössner, die Hauptfigur von Spinnens Romans, ist sozusagenmit einemgoldenen Löffel im Mund geboren worden. Er hat Unternehmensgeist, Ausdauer, Situationsgeschick und Glück. Er wird millionenumsatzschwerer Hersteller von Windrädern. Und erfolgreicher Fernsehproduzent. Seine Frau ist eine populäre Schauspielerin, sein Sohn wohlgeraten in jeder Hinsicht.
Und dann schlägt das Schicksal zu. An einem einzigen Tag im April 2018 geht Trössners Unternehmen pleite, sein Sohn ertrinkt im Schwimmbad, seine Frau kommt bei einem Unfall ums Leben, sein Haus brenntv ollkommen ab.Trössner begibt sich, durchaus suizidgefährdet, in eine Klinik und fährt dann mit dem Zug nach Berlin. Hier beginnt die eigentliche Erzählung. Und eine erste auffällige Lesart des Romans. Trössner ist ohne Zweifel ein moderner Hiob, den ein Lottogewinn „von hinten“ trifft. So unwahrscheinlich sich das in der Verkettung mehrerer Unglücksfälle anhört, so sehr ist so etwas doch prinzipiell möglich.
Burkhard Spinnen stellt seine Figur in das Umfeld der modernen Medien. Und hier beginnt eine zweite Lesart. Trössners Frau hat die Hauptrolle in einer politischen Fernsehserie gespielt, die um eine extreme rechtspopulistische Partei kreist, die „Partei der Politischen Christen“, kurz „PPC“:„Ausländerfeindlich, nationalistisch, markige Sprüche, erzielt ein zweistelliges Wahlergebnis“, so heißt es. Natürlich ist diese Partei fiktiv, aber es gibt Parallelen zu den Rändern der real existierenden politischen Parteienlandschaft. Hier liegt der eigentliche Kniff von Spinnens Erfindungsspiel. Im Medium der Fernsehserie, die höchste Einschaltquoten hat und sozusagen einen Roman im Roman installiert, kommt es zu einer politischen Okkupation der Religion – eines Christentums ohne Kirche, ja, sogar ohne Gott.
Im Namen des Parteiprogramms der „PPC“ werden nicht nur die abendländischen Traditionen von Aufklärung und Nationalismus ausgeschlachtet. Auch die demokratischen Spielregeln werden umgekehrt, um sie gewissenlos gegen Pluralismus, Toleranzdenken und Kosmopolitismus einzusetzen. Nicht aber um eine politische Parabel geht es Spinnen, sondern um die Politik im Medium. Macht das Fernsehen die bessere Politik? Und womöglich ein wirkungsvolleres Christentum? Was geschieht, wenn die Schauspieler politischer Figuren nicht nur mit ihren Vorbildern verwechselt werden, sondern selbst in die Rollen der von ihnen Dargestellten schlüpfen? Es ist der hiobartige Held selbst, der sich diesen Fragen stellt, indem er an den Drehort der Serie, in Berlin. Das Ende ist zu furios,um hier verraten zu werden. Es spielt im Finanzministerium und erfüllt alle Kriterien eines guten „Tatort“-Thrillers.
Das alles ist unaufdringlich kunstvoll komponiert. Ein brillanter Roman, erschreckend realistisch, erzähltmit diskreter Ironie und scharfsinniger Zeitdiagnostik, ein Buch genau für und über unsere Zeit.
Autor: Michael Braun
Stand: 2019
Louis Begley
* 6. Oktober 1933 in Stryj
Von der Suche nach einem guten Leben
Von der Philosophie hat die Literatur die Idee des glücklichen Lebens geerbt. Doch an die atlasschwere Aufgabe, davon zu erzählen, trauen sich heute nur noch wenige Autoren ernsthaft heran. Auch Louis Begley misstraut großen Gefühlen und gefälligen Happy endings. Seine Romane befassen sich mit den Katastrophen des Glücks, mit Familiendesastern, Krankheit, Tod, Liebesverrat, Erinnerungs- und Hoffnungsverlust.
Biographie und Werk
Neun Romane hat Louis Begley geschrieben, den ersten 1991, im Alter von 68 Jahren, den autobiographisch geprägten Roman Wartime lies (1991; Lügen in Zeiten des Krieges, 1994). Der zehnte Roman erscheint im Herbst, pünktlich zu des Autors 80. Geburtstag, bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung: „Erinnerungen an eine Ehe“. Auch hier schreitet Louis Begley seinen Themenkreis souverän aus. Es geht – durchaus in Anlehnung an Ingmar Bergmanns Film „Szenen einer Ehe“ – um Heiratshindernisse und Ehrensachen, um Moral und Berufserfolg, um das wunschlose Unglück der besseren Gesellschaft. Der Erzähler ist nicht zufällig ein Schriftsteller. Nicht ohne eine höchst sympathische Selbstironie beschreibt er seine Nöte, von den Fakten zu den Fiktionen zu kommen. Er will für einen Roman recherchieren, ohne die Wahrheit zu verfälschen, muss aber zu dem, was er kennt und erinnert, vieles hinzudichten, um eine spannende Geschichte zu erzeugen.
Louis Begleys eigene Lebensgeschichte liefert den Stoff, aus dem seine Romane entspringen, ist aber auch Fiktion im Sinne des Titels seines lebensklugen Kafka-Buches Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe (2008). Geboren wurde Louis Begley unter dem Namen Ludwik Begleiter als einziges Kind polnisch-jüdischer Eltern am 6. Oktober 1933 in der ostgalizischen Provinzstadt Stryj, die zwischen den Weltkriegen polnisch war und heute zur Ukraine gehört. Im Sommer 1941 besetzten deutsche Truppen das von der Roten Armee geräumte Land. Im Schlagschatten der Wehrmacht rückten die Vernichtungstruppen der Sicherheitspolizei nach. Louis Begley floh mit seiner Mutter, getarnt als polnische Katholiken.
Als der Krieg zu Ende war, wanderte Louis Begley Anfang März 1947 mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten aus. In New York anglisierte er seinen Namen, begann ein Jurastudium in Harvard und wurde ein erfolgreicher Anwalt in der Kanzlei „Debevoise & Plimpton“ an der Wall Street.
Zum Schriftsteller wurde Begley 1989, als er sich für vier Monate aus der Kanzlei zurückzog, um sein erstes Buch zu schreiben. Wartime lies ist keine Lebensbeichte, sondern ein Erinnerungsroman, der die eigenen Erlebnisse verdichtet und umwandelt. Die Lügen in Zeiten des Krieges, derer sich der junge Romanheld Maciek mitsamt seiner Tante Tania bedient, sichern ihr Überleben in feindlicher Umgebung und zeigen zugleich die Macht der Erinnerungsfiktion. „Ich habe mit der Stimme des beobachtenden Maciek versucht, Schicht für Schicht totale Unmenschlichkeit, das Grausen, den Horror mit einem konstanten Erzählton in Sprache umzusetzen“, sagte Begley 1994 in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung.
Nach dem Romandebüt entstand eine Folge von philosophischen Romanen, über die Christoph Stölzl anlässlich der Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung an Louis Begley sagte: „Wahrscheinlich wird man Begleys in einem kurzen Jahrzehnt geschriebene Suite der transatlantischen Gesellschaftsromane einmal so losgelöst von ihrer Entstehungszeit lesen wie die Berliner Zyklen Fontanes oder die moderne Odyssee des Bürgertums bei Thomas Mann.“
Begleys Figuren sind mittlere Helden, klaglose Hiobgestalten, kafkaeske Banker und Broker, Anwälte und Autoren; Unsympathisch sind diese Figuren nicht, deren Erfolgsbilanzen regelmäßig bei den eigenen Herzensaffären versagen. „Schiffbruch“, so Begleys Romantitel von 2003, ist ihr Schicksal, Erinnern an eine amour fou ihr Programm, stoisches Entsagen ihre Konklusion.
Ben heißt der vielleicht repräsentativste unter diesen Helden – neben dem philosophierenden und mit Jack Nicholsen auch verfilmten Pensionär Schmidt, dem zwei wunderbare Romane (1996 und 2001 in deutscher Übersetzung erschienen) gewidmet sind. Ben spielt die Hauptrolle in Begleys zweiten Roman, The Man Who Was Late (1992). Er ist ein „jüdischer Flüchtling“, der in Amerika das gute Leben erlernen will, aber sich in den Widersprüchen zwischen Selbsthass und Glücksverlangen verheddert. Glück hat er durchaus in der Welt des „bargeldlosen Wohlergehens“, zumal bei den Frauen. Aber er kann damit nicht glücklich sein.
Im Zentrum von Begleys literarischem Werk steht die Frage nach der Zukunft der humanistischen Werte. Was geschieht, wenn die persönlichen „Vorstellungen vom Guten und Menschenwürdigen“ von Intrigen, Manipulationen und Vorverurteilungen durchkreuzt werden, hat er in einem Buch über den „Fall Dreyfus“ (2009) untersucht. Es trägt, vielsagend und warnend genug, den Untertitel „Teufelsinsel, Guantanamo, Alptraum der Geschichte“. Das gute Leben ist ja kein Geschenk. Es muss erzählt werden, durch die Katastrophe hindurch, die ja im wörtlichen Sinne eine Glückswende bedeutet. Der neue Roman lässt darauf hoffen, dass der Autor auch in seinem neunten Lebensjahrzehnt nicht damit aufhören wird, von der Suche nach dem Glück zu erzählen.
Autor: Michael Braun
Stand: 2013
Norbert Gstrein
* 3. Juni 1961 in Mils bei Imst
Luftschiffer, Aeronauten, Höhenflieger
Luftschiffer in der Literatur sind traditionell traurige oder komische Helden. Vom Absturz bedroht, den Elementen ausgeliefert, hängen sie zwischen Himmel und Erde, und nur selten gelingt es ihnen, dem Ikarus-Schicksal zu entrinnen, an dem der Mythos die göttliche Strafe für Hybris und Größenwahn statuiert. Der Fall des Ikarus oder des Euphorion symbolisiert dabei auch das Scheitern des Künstlers, der zu hoch hinaus will mit seinem Werk. Neben dieser tragischen Motivgeschichte gibt es einen zunächst schmalen, mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften dann zusehends stärkeren Traditionsstrang, in dem aeronautische Projekte als Stoff für Abenteuergeschichten fungieren und wichtige Motive vor allem für die utopische Romanliteratur des 19. Jahrhunderts stiften. Nach einer technikbegeisterten Phase der Literaturgeschichte am Anfang des 20. Jahrhunderts, die von den populären Flugschauen inspiriert ist und in Gabriele d’Annunzios Fliegerroman Forse che sí forse che no (1910) einen Höhepunkt fand, kommt es zu einer „Transformation“ des utopischen Romans. In der Science-Fiction-Literatur haben Weltraumfahrer den Platz der Luftschiffer eingenommen, die Stratosphäre ist terra cognita, und aus den einstigen Herausforderungen für Flugpioniere sind in den etwa 70 Jahren, die zwischen den stotternden Flugversuchen der Gebrüder Wright in Kitty Hawk (1903) und dem ersten kommerziellen Concorde-Flug (1976) liegen, Routinen für Billig- und Vielflieger geworden.
Um so mehr verwundert, dass Norbert Gstrein 1993 mit seiner Novelle O2 den Ballonfahrerstoff wiederbelebte und damit sowohl beim Publikum wie auch bei der Kritik Erfolg hatte. Das Thema kehrt zurück in eine Medienwelt nach den Utopien, die alles als machbar erscheinen lässt. Das historische Ereignis, der Ballonaufstieg in die Stratosphäre aus dem Jahre 1931, wird in den vielfältigen – fiktiv ausgeschmückten – Reaktionen der Beteiligten in der Luft und auf der Erde gespiegelt. Auf diese Weise ist die Novelle eine epische Lektion über das Verhältnis zwischen Fakten und Fiktion. Sie demonstriert die Frage, wem eine Geschichte gehört – den Medien, den Historikern, den Dichtern – und was diese aus ihr machen.
Geschichten und Gegengeschichten
Verzerrung und Verfälschung einer Geschichte durch die Perspektiven von Gegengeschichten ist von Anfang an ein Thema der erzählerischen Werke Gstreins. Das Motto von Thomas Bernhard, das über Gstreins erstem Roman Das Register (1992) steht, deutet auf die Herkunft dieses Themas: „Wie viele unserer Talente hätten wir zu erstaunlicher Größe in uns entwickeln können, wären wir nicht in Tirol geboren worden und aufgewachsen“. Tirol und die Alpen, die dörfliche Enge und die zerstörerische Wirkung des Massentourismus sind die Koordinaten von Gstreins ersten Büchern. Doch es gibt mehr zu entdecken als den negativen Heimat-Roman und die Anti-Idylle. Gstreins Debüterzählung Einer (1988), die vom Leben eines Gastwirtssohnes am Rande der Dorfgesellschaft handelt, entwickelt die Pathographie einer Persönlichkeitszerstörung. Jakob ist „Einer“, der immer der Prügelknabe ist, ungeliebtes Kind, misshandelter Internatsschüler, gehemmter Liebhaber, verspotteter Skilehrer und schließlich apathischer Trinker, ein Fremder sogar im eigenen Elternhaus, in dem seine Geschichte aus den Perspektiven wechselnder Personen rekonstruiert wird. Das Rätsel bleibt: Jakob wird von einem Inspektor abgeholt, „nach einer begangenen Untat oder einem Missgeschick“ (E 113).
Identitätsverlust durch gesellschaftliche Zwänge aber ist nur die eine Ebene der Erzählung. Das wahre Seelenelend, von dem Gstreins Erzählungen wie von einem Spitalgeruch durchtränkt sind, spiegelt sich in der Sprachnot seiner Figuren. „Der Sprache fehlten die Worte“ (A 32), heißt es programmatisch in der Erzählung Anderntags (1989), in der es um unglückliche Selbstfindung und allmähliches Verstummen geht. Der dreißigjährige Ich-Erzähler Georg versucht die Liebesbeziehung zu seiner tödlich verunglückten Freundin aufzuarbeiten. Doch die „Mißverständnisse im Sprechen“ führen unausweichlich zu einer „wachsenden Brutalität [...] – auch in der Sprache“ (A 96ff.). Jorge Semprún, Norbert Gstreins Laudator bei der Preisverleihung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Weimar, hat präzise beschrieben, wie diese Sprache Gstreins
„die konventionellen Redensarten und Sprachroutinen zerstört, um alles, was zum Schweigen – also zum Verlust und zum Verschwinden – verurteilt schien, im fabelhaften Licht des Ausgesprochenen darzustellen, wenn es auch, möglicherweise, ein zweideutiges, sogar zwiespältiges Licht bleibt“.
Geschichten aus der österreichischen ,Provinz‘
Einen entscheidenden Schritt zu der Thematik von O2 markiert der Roman Das Register. Wiederum erscheinen die Leitmotive der vorangegangenen Erzählungen, das Scheitern am Österreichischen, Welt- und Selbstekel, Identitätsverlust und Sprachnot; wiederum führt die Handlung in die Talwelten Südtirols, in denen „Generationen auf demselben Fleck lebten, nicht aus dem Dorf herauskamen“ (A 13), wo sonntags „das Klappern der Touristenfiaker tief im Magen weh tat“ (A 52). Doch Gstrein distanziert sich – deutlicher als zuvor – von klischeehafter Tourismuskritik und larmoyanter Österreichschelte. Er präsentiert, der Poetik des Romans entsprechend, einen größeren Weltausschnitt, erweiterte historische Kontexte und psychologisch differenzierte Figuren. Erzählt wird im Stil einer Tiroler Familienchronik von einem ungleichen Brüderpaar, das in die Welt aufbricht, um „Erfolg um jeden oder fast jeden Preis“ (R 125) im Skisport zu suchen bzw. um sich in den Biographien berühmter Mathematiker zu vergraben. Es fällt nicht schwer, dahinter Daten aus Gstreins eigener Familiengeschichte auszumachen. Sein Bruder ist erfolgreicher Skisportler, er selbst studierte Mathematik in Stanford, Erlangen und Innsbruck.
Das Register ist zweifellos Gstreins autobiographischstes Buch, „eine Art fiktive Autobiographie“, wie der Autor selbst sagt. Der Titel spielt an auf die Gewohnheit des Vaters, peinlich genau über alle Ausgaben „seit der Geburt“ Buch zu führen, woran sich die selbstquälerische Frage knüpft: „Ob wir so viel wert waren?“ (R 83) Durch die Aufarbeitung eines Vaterkomplexes stößt der Roman zu einer „Soziologie des Provinzlebens“ und zu einer „Wesensbestimmung der österreichischen Mentalität“ vor, als deren Kern sich ein patriarchalisches Muster ergibt, das sich in der politischen Geschichte des Landes manifestiert. Gegenüber dem Großvater, einem jener neureichen „Fremdenverkehrspioniere“, ist der Vater, ein verkrachter Lehrer, nur ein „domestizierter, degenerierter Abkömmling“ (R 62).
„Vorgeschichten“: Ballonfahrten in der Literatur
Es hat durchaus Methode, wenn sich O2 buchstäblich aus dem vertrauten Ambiente der österreichischen Gegenwartsliteratur erhebt und der in den vorhergehenden Werken Gstreins angesprochenen Hoffnung, „weiterzufahren, über alle Grenzen hinaus“ (R 17), in Form des Ballons Gestalt gibt. Symbol der Distanzierung von der ,klassischen‘ Österreichthematik ist der Ballon, mit dem der Piccard am 27. Mai 1931 zu jenem „legendären Stratosphärenflug“ aufbricht, von dem später in dem „Bericht“ Der Kommerzialrat (1995) im Stil der „Bauernkitsch- und -lügenliteratur“ (O 74f.) erzählt werden wird.
Piccards Ballonfahrt hat eine Vorgeschichte, die als rekurrierendes, intertextuelles Element mitspielt, „weil jede Geschichte eine Vorgeschichte hatte, und jede Vorgeschichte wieder eine, wieder und wieder“ (O 22). Zum einen wird sie als „Chronique scandaleuse rund um den legendären Stratosphärenflug des Schweizer Physikers Auguste Piccard [...]“ (K 53) in Gstreins Kommerzialrat thematisiert, wo sie als prahlerische Autobiographie des Volksschullehrers Schatz fingiert wird, der wiederum als Perspektivfigur in O2 aufgetreten ist – eine signifikante nachholende intertextuelle Selbstreferenz.
Zum anderen beginnt diese Vorgeschichte – wenn man einmal absieht von den Experimenten Leonardo da Vincis, der 1513 in Rom heißluftgefüllte Heiligenfiguren gen Himmel steigen ließ, und Francesco Graf Lana di Terzis, der 1670 ein Vakuumluftschiff erfand – schon am 5. Juni 1783 in Annonay mit dem ersten öffentlichen (noch unbemannten) Ballonaufstieg durch die Gebrüder Jacques-Etienne und Joseph-Michel Montgolfier beginnt, nur wenige Monate später gefolgt von Jacques Alexandre César Charles‘ Wasserstoffballon in Paris. Die Reaktionen auf die Weltsensation reichten „von tiefster Verehrung vor den Leistungen der Entdecker bis zu triefendem Spott über die Folgewirkungen, von religiösen Zweifeln bis zu euphorischen Zukunftserwartungen“ und ergriffen auch Goethe, der sich nicht nur für die naturwissenschaftlich-technischen Aspekte der Ballonflüge in Frankreich und in deutschen Städten interessierte und selbst an Experimenten teilnahm, sondern ihnen auch eine ästhetische Seite abgewann: als Gleichnis für Größe und Grenze des Künstlertums:
„Wer die Entdeckung der Luftballone miterlebt hat, wird ein Zeugnis geben, welche Weltbewegung daraus entstand, welcher Anteil die Luftschiffer begleitete, welche Sehnsucht in soviel tausend Gemütern hervordrang, an solchen längst vorausgesetzten, vorausgesagten, immer geglaubten und immer unglaublichen, gefahrvollen Wanderungen teilzunehmen [...].“
Ballonfahrt als Fiktion
Der Flug, die Vorbereitungen, die Vorversuche und die Auswertung der Ergebnisse, die Piccard in seinen Erinnerungsbüchern Zwischen Erde und Himmel (1946) und Über den Wolken, unter den Wellen (1954) im trockenen Jargon des Fachwissenschaftlers beschrieben hat, liefern das Gerüst von Gstreins Novelle. Es geht ihm nicht um dokumentarische Wiedergabe gesicherter Daten und Fakten, sondern darum, „wie beim Erzählen eine neue Art von Realität konstruiert wird“ (W 10). Ein Indiz für die Fiktionalisierung des Stoffes ist die Aussparung des Namens von Piccard, der in der Regel mit „Professor“ (15, 18, passim) tituliert wird. Ein von der Presse multiplizierter Lebenslauf stellt ihn vor:
„Gebürtig in Basel, studierte er an der ETH Zürich und war dort Privatdozent und Professor, vor seiner Berufung nach Brüssel. Den Ausschlag, sie anzunehmen, gab nicht nur, daß er Vorstand des Physikalischen Instituts wurde, sondern vor allem die Zusicherung eines Freibudgets. [...]. Davor hatte er selbst die ersten Ballonflüge unternommen, als Mitglied des Schweizerischen Aeroklubs, und war dabei, sich in Fliegerkreisen einen Namen zu machen, nicht zuletzt mit seinen vielbeachteten Vorträgen ‚Die Stabilität der Flugzeuge‘ und ‚Theorie der Höhenflüge und maximale Geschwindigkeiten‘“ (O 22f.).
Der Flug, der am frühen Morgen in Augsburg begann, 17 Stunden dauerte und gegen 21 Uhr auf einem „zerschrundeten Gletscher“ auf dem Gurglferner in Tirol endete, wird in Gstreins Novelle als Kette von Malheurs, als „,Geschichte mancher Mißverständnisse‘“ (O 19f.) geschildert, von dem „Leck“ (O 14) in der Kabinenwand über die verhangene Ventilleine (O 33), die Sauerstoffknappheit (O 59) und die beständige Kontrolle des Druckausgleichs bis zu der beinahe verunglückten Landung. Neben den technischen Details fallen die Naturbeschreibungen besonders auf, etwa der Flug über ein Alpenrelief:
„in alle Himmelsrichtungen breiteten sich unter uns Ketten von Gipfeln aus, es war ein richtiges Meer, schneebedeckt, oder ohne Schnee, an den schroffsten, abweisendsten Stellen, ein Anblick, tatsächlich zum Atemanhalten, und es gab keine Worte, die ihm gerecht werden konnten“ (O 114f.).
Die Wahrnehmung der Welt aus der ungewöhnlichen Perspektive aus 16 Kilometern Höhe wechselt zwischen Bewunderung und Neugierde, „anstrengende[m] Schauen“ (O 17) und Erschauern (O 143) angesichts der von oben erblickten Bergketten, Wolkenformationen und Himmelsausschnitte. Dieser Wahrnehmungswechsel wird aber meist als bedrohlich erfahren, als Verlust des vertrauten Standpunkts, als Verlassen des Raum- und Zeitkontinuums, in das zurückzukehren wie die Landung auf einem „anderen Planeten“ anmutet (O 146). Eine Sprache für die „Beschreibung des Transparenten“ jenseits defizitärer Beobachtungen und Mangelerfahrungen (etwa der Sauerstoffnot) zu finden, ist schwierig. Die Besatzung des Ballons verliert sich, beeinflusst durch die Höheneuphorie, in der Lektüre von Fortsetzungsgeschichten aus der Zeitung und in der Trivialität von selbstmitleidigen oder prahlerischen Liebesgeschichten, „amourösen Anekdoten“ (O 62) und „billigsten Klischeebildern“ (O 132), über die der Professor kurz vor der Landung Stillschweigen zu wahren befiehlt.
Luftfahrt als Himmelfahrt
Gleich anfangs wird der Ballon als „überraschender Mond“ beschrieben (O 8). Diese zwischen Romantik und Astronomie schillernde, an Robert Walsers visionär-postromantische Ballongeschichte erinnernde Metaphorik ist Ausdruck einer Grenzerfahrung. Auch bei Gstrein führt die Ballonfahrt in „eine zauberische, schwindelerregende Höhe“, in eine „Welt ohne Menschen“ (O 149), aber religiöse Bilder werden in der transzendental obdachlosen Welt der Lufteroberer strikt abgelehnt. Gleichwohl wirken sie gerade in dieser Negation unterschwellig fort, etwa wenn Piccard „gottähnlich in [s]einem Unvermögen“ (O 39) beschrieben wird oder die neue Wahrnehmung Anlass ist, „wenn schon nicht an Gott, so doch an die Vierdimensionalität des Raums zu glauben“ (O 72f.).
Piccards Ballonreise ist eine Himmelfahrt ohne Gott und ohne Religion (vgl. O 120f.). Sie reflektiert die Austreibung der Fantasie aus der Luftfahrt, die seit 1900 in der „Hand der Denker und Attentäter“ zusehends ökonomischen und militärischen Zwecken dienstbar gemacht wurde, wie Karl Kraus festhält: „Den Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt“. In einem grandiosen, wiederum an Robert Walsers Sprache geschultem Bild hat Gstrein im sechsten Kapitel der Novelle diese Entzauberung der Luft dargestellt. Das Gewitter, das sich am Abend über Augsburg abspielt, steigert sich zu einem apokalyptischen Strafgericht des Himmels, das Augsburger Münster erscheint wie „ein riesiges Schiff, kieloben, eine Arche Noah, gekentert“ (O 152). Nur an dieser Stelle schaltet sich ein auktorialer Erzähler ins Geschehen ein, der aus einer metasprachlichen Perspektive den Vergleich dieses „ganz gewöhnliche[n] Unwetter[s]“ (O 149) mit der Apokalypse kommentiert. Es geht um das Prinzip des ,richtigen‘ Erzählens, bei dem es auf Wahrheit, nicht auf Faktentreue, auf die Darstellung der „Konstruiertheit der Realität“ (W 10) ankommt. Deshalb sind der Geschichte „Heils- und Rettungsphantasien“ (O 152) fremd. Piccard bleibt den Elementen – und seinen eigenen elementaren Bedürfnissen – ausgeliefert, die er vergeblich zu vermessen und zu berechnen sucht. In den Lüften, einer „anderen Welt“, herrschen andere Gesetze.
Entzauberung der Luft
Peter Sloterdijk hat – unter dem Eindruck der Luftattacken auf das World Trade Center am 11. September 2001 – in seinem Essay Luftbeben (2002) nachgewiesen, wie die Praxis des Terrors mit den Angriffen auf die Atemräume zusammenhängt, in denen der moderne Mensch lebt. Im Zeitalter der atmosphärischen Gifte, der von Pasteur und Koch entdeckten Mikroben und der erstmals in Form von Chlorgasen im Ersten Weltkrieg (1915) eingesetzten ABC-Waffen habe „die Luft ihre Unschuld verloren“. In der Literatur findet Sloterdijk einen Schlüsseltext, der diesen Verlust der Vorstellung der ,freien Lüfte‘ beschreibt: Elias Canettis Wiener Rede aus Anlass des 50. Geburtstages von Hermann Broch (1936). Canetti erblicke in Broch den prophetischen Warner vor einer Zerstörung der lebenserhaltenden Atmosphäre:
„Die größte aller Gefahren aber, die in der Geschichte der Menschheit je aufgetaucht ist, hat sich unsere Generation zum Opfer erwählt. Es ist die Wehrlosigkeit des Atems [...]. Man macht sich von ihr schwer einen zu großen Begriff. Für nichts ist der Mensch so offen wie für die Luft. In ihr bewegt er sich noch wie Adam im Paradies [...]. Die Luft ist die letzte Allmende. Sie kommt allen gemeinsam zu. Sie ist nicht vorgeteilt, auch der Ärmste darf von ihr nehmen [...]. Und dieses Letzte, das uns allen gemeinsam war, soll uns alle gemeinsam vergiften“.
Aufschlussreich hier ist weniger die Kritik an der Utopie der Gleichheit, sondern das aus diesen Überlegungen hergeleitete Prinzip der atmosphärischen Vielheiten in Brochs Romanpoetik. Broch legitimierte sein multiperspektivisches Schreiben mit einer neuen Interpretation des „entfremdungskritischen Motivs der Moderne“: der „atmosphärischen Getrenntheit der Menschen untereinander“.
Auch in Gstreins Novelle wird diese atmosphärische Konstellation von Anfang an als grundlegend störanfällig inszeniert. Nicht in den Ballon, der „frei in der Luft“ steht wie ein „phantastisch großer Tropfen“, und seine „Gondel“ werden die ersten Einblicke gegeben. Dieses Geschehen über den Köpfen der Zuschauer ist abgehoben von dem „Stimmengewirr“, das sich auf dem Boden unter den Vertretern verschiedener sozialer Gruppen abspielt:
„Fabrikvorstand und Direktion – Direktor und Direktorstellvertreter –, Wissenschaftler, allen voran Meteorologen und Physiker, Luftfahrtsachverständige, Aeronauten, Piloten oder wie sie sich nennen, Militärs sind darunter, in Uniform und in Zivil, Geheimdienst, Behördenvertreter, Honoratioren, und nur der Schickeria ist es noch zu früh“ (O 8).
Der später folgende Bericht über das Geschehen im Innern der Aluminiumkapsel ist erzählperspektivisch verfremdet durch den Wechsel von der personalen Sichtweise eines „wir“, als dessen Sprecher man aufgrund der teils unterwürfigen, teils kritischen Bemerkungen ohne weiteres den Assistenten des Professors identifizieren kann, zu einer auktorialen Erzählweise. Dieser Wechsel erfolgt plötzlich und häufig, um die „Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten“ (W 65) des auf Identifizierung mit den Gondelinsassen bedachten Lesers zu brechen. Die rezeptionssteuernde Strategie zielt auf Sprachkritik. Es soll bewusst werden, wie die Insassen der luftdichten Aluminiumkapsel von nur 2,10 Metern Durchmesser an ihren Wortblasen zu ersticken drohen.
Der Roman ist wie „ein molekulares Gewebe“ aufgebaut. In sieben Kapiteln wechseln sich die Entdecker der Stratosphäre mit den Bewunderern und Neidern ab, die ihren Flug begleiten und kommentieren. Diese Parallelhandlungen sind verklammert durch die Ballonfahrt, aber auch durch die Versuche, eine Sprache für die ungewohnten Wahrnehmungen in der Stratosphäre zu finden. Ob es die amourösen Abenteuer sind, von denen die Aeronauten ebenso schwärmen wie ihr vermeintlicher Retter Schatz, oder ob es der Neid der Angestellten ist, mit dem sowohl der Assistent des Professors wie auch der Chauffeur der Honoratioren das Treiben ihrer Vorgesetzten verfolgen: immer werden die Unterschiede zwischen den Perspektiven in der „Ballongeschichte“ (O 72) so verwischt, dass nicht der Standort des Erzählers wichtig ist, sondern sein Status. Gstreins Figuren sind unzuverlässige Chronisten, Verfasser konjekturaler Geschichten, die alternativlos sind, weil es die eine und richtige Geschichte nicht gibt.
Deshalb bleiben alle Beteiligten Statisten eines grotesken Geschehens. Sie möchten etwas sagen: der prestigesüchtige Direktor der Augsburger Firma, von deren Boden der Ballon startet, die sensationsgierigen Journalisten, die Herrenriege der Honoratioren, die mit dem Chauffeur Zeeh den Ballon verfolgen, der angeheiterte Pädagoge, der in Begleitung von zwei Dorfschönheiten zum unfreiwilligen Entdecker der notgelandeten Aeronauten wird. Alle Figuren wollen mehr sein, als sie sind: der Direktor versucht sich als Verfasser einer Jubelbroschüre, der Chauffeur spielt sich als Rennfahrer auf, der Lehrer als Lebensretter und Frauenheld. Auch das Bild Piccards als „Himmelsstürmer, Hochstapler oder Held“ (O 21) bleibt diffus. Kein Expeditionsmut, sondern ein fragwürdiger, ja suspekter Forschungsheroismus scheint dahinter auf, der die fatalen Aspekte des utopischen Denkens offenbart: „der projektive Größenwahn, der Anspruch auf Totalität, Endgültigkeit und Neuheit“.
„Lebensstellvertreter“
In einem Gespräch mit dem Österreichischen Rundfunk vom 17.11.1993 hat Gstrein seine Helden als „Lebensstellvertreter“ bezeichnet. Anders als die meisten, denen dies als lebensunmöglich erscheint, vertreten sie eine Utopie, die den Himmel auf Erden verspricht. Man glaubt nicht unbedingt an diese Helden, aber „man braucht sie“. Bezeichnenderweise jedoch endet der Höhenflug der Forscher mit einer unsanften Landung, „ohne Heils- und Rettungsphantasien“ (O 152). Sie finden am Himmel nichts, was nicht schon in ihnen selbst zu finden wäre. So ist der Ballon eine im wahrsten Sinne ‚leere‘ Metapher, leer und auf den ersten Blick nichts-sagend wie der Novellentitel.
O2 ist die chemische Formel für (molekularen) Sauerstoff, eines „farb-, geschmack- und geruchlos[en]“ Gases (O 14), das als größter Bestandteil der Luft das irdische Leben ermöglicht und sichert. In der Ballonfahrt ist ab einer bestimmten Höhe die Sauerstoffzufuhr für die Passagiere ebenso überlebensnotwendig wie der Druckausgleich in der Kabine. Dies ist aber nur der äußere Grund für den Novellentitel, auf den in immer wiederkehrenden Verweisen auf Meteorologie, Temperatur, Luftdruck angespielt wird.
Die formelhafte Verkleidung des Sauerstoffs dient auch der Entzauberung der Luft, die sich in den mehrfachen Geschehen auf dem Boden und am Himmel als schleichender Prozess vollzieht. In den buchstäblich atemraubenden Tätigkeiten im Ballon und den nicht minder atemlosen ,irdischen‘ Jagden nach Erfolg, Berühmtheit und Liebe wird die Luft zum Raum, der mit unbedachten „Gesprächen über Banalitäten“ (O 118), Verdächtigungen, Übertreibungen und Mutmaßungen gefüllt und nur noch in plötzlicher Stille wahrgenommen werden kann.
Ballon und Medien
Deshalb erzählt die Novelle auch von der Luft als einem Medium. Medien sind Instanzen der Vermittlung von Nachrichten und haben bei der Übertragung auditiver, visueller und dann auch audiovisueller Signale immer auch eine quasi-militärische Rolle gespielt. Mit dem Ballon hat die Luft in Gstreins Novelle die vornehmliche Aufgabe, Nachrichten zu transportieren. Die Landung der Stratosphäreneroberer wird deshalb auf den letzten Seiten der Novelle als grandioses Medienereignis beschrieben. Aus der Augsburger Zeitung wird ein (vermutlich historischer) Bericht wiedergegeben, der in erster Linie nicht von der Ballonfahrt, sondern von der Berichterstattung handelt, die sich im Rausch der beschleunigten Moderne vollzieht:
„Außergewöhnliches leistete die Filmberichterstattung der Ufa. Mit den ersten Reportern war am Tag nach der Landung auch einer ihrer Kameramänner an Ort und Stelle, und er zögerte nicht, es ging ruck, zuck, Aufstieg zum Gletscher, Aufnahme, und am Abend raste er zurück nach München. Das Flugpostflugzeug war schon weg. Sonderflug am nächsten Morgen, Start um 10, Landung in Berlin um 2 Uhr. Film entwickeln, Film kopieren, Film schneiden und zusammensetzen. Text auf Tonband sprechen, Ton entwickeln, Ton kopieren. Originaltonaufnahmen waren aus technischen Gründen nicht möglich. Als in der Hauptstadt die Lichter angingen und die Leute in die Filmpaläste strömten, waren, tatsächlich nicht einmal achtundvierzig Stunden nach der Landung in einem weltvergessenen Alpental, die ersten Bilder in der Tonwoche, verwackelt, verschwommen, zugegeben, von Ballon und Gondel, von dem müde lächelnden Fliegern vor einer Haufen von Neugierigen, und es war ein Triumph der Technik, es war mehr, es war etwas Amerikanisches, es war Hollywood mit seinem Glanz“ (O 170f.).
Die Pointe dieses Epilogs liegt nicht nur darin, dass es dem Kameramann dank modernster Transportmittel gelingt, die Nachricht binnen 48 Stunden aus dem Alpental in die Metropole zu bringen und einem neugierigen Publikum vorzustellen; dabei scheint die Leistung des Flugzeugs die des Ballons zu übertrumpfen. Bemerkenswert ist auch die Hervorhebung der 1917 als Gemeinschaftsunternehmen des deutschen Militärs gegründeten Universum-Film-Aktiengesellschaft. Es war die von der Ufa nationalistisch eingefärbte Wochenschau, die seit dem Januar 1932 mit einem Tonsystem, das damals als das beste galt, „die ersten Bilder in der Tonwoche“ lieferte. In kunstvoller Brechung macht Norbert Gstrein das neue Medium zum Thema: Wenn es eine Wahrheit gibt, dann nur „in der Unscheinbarkeit der Randzonen und der Zufälligkeiten der Staffage“, in der Vielfalt von Gerüchten und Vermutungen, Zeitungsberichten und Filmaufnahmen. So ist O2 nicht nur historische Novelle und phantastische Erzählung, sondern auch ein Lehrstück aus der Frühgeschichte der modernen Medien über das Zusammenspiel von Fakten und Fiktion, Original, Fälschung und Kopie.
Autor: Michael Braun
Stand: 2006
Anmerkungen:
(Aufgrund der besseren Lesbarkeit wurde hier auf der Webseite auf die Auflistung von Fußnoten verzichtet. Im Originalaufsatz sind diese jedoch enthalten.)
Adam Zagajewski
* 21. Juni 1945 in Lemberg
† 21. März 2021 in Krakau
Gedichte wie Gebete – Nachruf
Wie er zum Gedicht kam, beschreibt Adam Zagajewski einmal in seinen Erinnerungsbildern „Ich schwebe über Krakau“ (2000): ihm war da klar geworden, dass man „selbst das Gebet formen“ kann. Schreiben ist wie Beten, nur ohne gefaltete Hände. Und so traute er sich zu, seiner Lyrik, Essayistik und seinen autobiographischen Schriften ein metaphysisches Obdach zu geben. Und einen kosmopolitischen Pass. Der sprachgewandte Weltbürger, der überzeugte Europäer, der sozusagen kosmo-polnische Dichter ist am 21. März 2021 in Polen verstorben.
Adam Zagajewski wurde 1945 in Lemberg geboren und kehrte, nach zwei Jahrzehnten in Paris (1982-2002), wieder in sein Vaterland zurück. In den USA unterrichtete er viele Jahre am Englischen Department der Houston University und an der University of Chicago. Zagajewskis Lyrik war religiös musikalisch, aber immer auch politisch engagiert, niemals auf den Zinnen einer Partei: „Ich will politische Eindrücke in meiner Lyrik vertiefen, aber nicht Partei für aktuelle Ereignisse ergreifen“, sagte er im KAS-Interview . Er focht für die Freiheit des Wortes. Noch im Januar 2016 publizierte er in der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcka“ ein regierungskritisches Gedicht. Wenige Tage nach „9/11“ brachte er sein Gedicht „Versuch, die verstümmelte Welt zu besingen“ (englisch, in „The New Yorker“, 17.09.2001) heraus. Er war ein Wortführer der „Generation 68“, deren Programm er in dem Manifest „Die nichtdargestellte Welt“ (1974) ausformulierte. Vier Jahre später beteiligte er sich an der Arbeit der „Fliegenden Universität“, einer vom Staat unabhängigen, halblegalen Hochschulinstitution.
Adam Zagajewskis Werk gehört zum literarischen Kanon Polens und hat Eingang in Lexika und Schulbücher gefunden. Geistig den Nobelpreisträgern Czesław Miłosz und Wisława Szymborska nahestehend, ist Zagajewskis Werk inspiriert von Religion, Philosophie und Politik. Seine Dichtungen sind historisch tief in der Geschichte Europas verankert und zugleich von großer Modernität. Ironisch und melancholisch, mit der „leisen Musik der letzten Fragen“, wie der damalige NZZ-Feuilletonchef Martin Meyer in seiner Laudatio auf den Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung am 2. Juni 2002 in Weimar sagte, schreibt Zagajewski die moderne Geschichte der internationalen Poesie weiter: in den Lyrikbänden „Mystik für Anfänger“ (1997) und „Die Wiesen von Burgund“ (2003), in dem Roman „Der dünne Strich“ (1983), der auf einen Berlin-Aufenthalt des Autors zurückgeht, in den politischen Essays „Solidarität und Einsamkeit“ (1986) und in zahlreichen Essays in der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“.
Adam Zagajewski hat, nach dem Literaturpreis der Stiftung, weitere wichtige Preise bekommen, den Eichendorff-Literaturpreis (2014), den Heinrich-Mann-Preis (2015) und den Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste (2019). Als er 2015 in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen wurde, ein Ritterschlag für Schriftsteller, bedankte er sich mit einem poetischen „Selbstbildnis“. Darin heißt es, in der Übersetzung aus dem Polnischen von Karl Dedecius, mit der für Adam Zagajewski charakteristischen Selbstskepsis: „nicht alle Wege der hohen Welt / kreuzen sich mit den Pfaden des Lebens, das, vorerst, / mir gehört“.
Autor: Michael Braun
Stand: 2021
Patrick Roth
* 25. Juni 1953 in Freiburg im Breisgau
„Schreiben ist Totenerweckung“
In seiner vierten Frankfurter Poetikvorlesung berichtet Patrick Roth von den frustrierenden Versuchen Alfred Hitchcocks, sich morgens an das zu erinnern, was er nachts an Umwerfendem und Sensationellem geträumt, aber nach dem Aufwachen immer wieder vergessen habe. Um dies künftig zu vermeiden, legte er sich Block und Bleistift auf den Nachttisch. Als ihm am Morgen beim Rasieren einfiel, daß er wieder einmal einen ungeheuren Traum geträumt und ihn gleich danach, noch mitten in der Nacht, aufs Blatt notiert habe, stürzte er zum Block und fand darauf folgende Worte geschrieben: „boy meets girl“.
Diese Anekdote über die Entstehung einer der wohl berühmtesten Erfolgsformeln aus der Traumfabrik Hollywood gibt Auskunft nicht nur über die Quellen, aus denen Patrick Roth seine Stoffe schöpft: Neben dem Film und der Literatur sind es die Bibel und die Tiefenpsychologie. Mit fast traumwandlerischer Sicherheit formuliert der Autor hier auch ein Grundprinzip seines Erzählens: den Leser etwas von der „Faszination des Stoffes“ erspüren zu lassen, dessen Spuren er in „Traum, Tagtraum, in Einfall, Phantasie“ (FP 12) nachgeht und den er zu bergen, zu werten und zu erzählen sich anschickt. Daß dies bei einem Schriftsteller, der sein filmisches Handwerk von bedeutenden amerikanischen Regisseuren gelernt und zahlreiche Drehbücher und Hörspiele geschrieben hat, nicht ohne ein pointensicheres Maß an Spannung funktioniert, versteht sich von selbst.
Biographie
Patrick Roth zog es 1975 – nachdem er Sprach- und Filmstudien in Paris betrieben und ein Studium der Anglistik, Romanistik, Germanistik an der Universität Freiburg begonnen hatte – als DAAD-Stipendiat nach Los Angeles, wo er an der University of Southern California seine Anglistik- und Filmstudien fortsetzte und als Regisseur und Drehbuchautor an verschiedenen Filmprojekten mitwirkte. Heute lebt er im Norden der Stadt, in Sherman Oaks, unweit von Hollywood, dem „Tal der Schatten“, von dem ein Großteil seiner Geschichten erzählen. Ins Tal der Schatten: Das ist auch der Titel seiner Poetikvorlesungen, die er im Frühjahr 2002 in Frankfurt gehalten hat. Als Arbeitsjournal und Werkstattprotokoll, bei dem man dem Autor bei der Stoffsuche und -findung über die Schulter schauen kann, und als Selbstporträt, das des Dichters Suche beschreibt, hat dieses Buch eine geradezu aufschließende Funktion für Patrick Roths Seelendramen.
Bekannt wurde Patrick Roth in den neunziger Jahren durch seine Christus-Trilogie mit ihrer „effektvollen Inszenierung menschlicher und göttlicher Rätsel“. Diese drei Prosawerke gehören nicht in den Kontext traditioneller christlicher Dichtung. Ästhetische Konfessionen und rhetorische Deklamationen in Glaubenfragen, wie in den Werken von Stefan Andres, Werner Bergengruen, Rudolf Alexander Schröder oder Reinhold Schneider, sind Roths Christus-Romanen fremd. Es geht ihm nicht um eine Restauration überlieferter christlich-humanistischer Werte, nicht um eine Evokation christlicher Hoffnung auf eine andere, ‚heilere‘ Welt. Kein antiquarisches Interesse an den Geschichten der Bibel ist hier leitend, kein selbsternannter fünfter Evangelist führt hier die Feder. Wenn sich Patrick Roth an die großen biblischen Themen Tod und Auferstehung, Glaube und Angst, Schuld und Vergebung, Grausamkeit und Gottesliebe wagt, dann geht es ihm, mit Brecht gesprochen, um eine „Berichtigung alter Mythen“. Bewußt weicht er von der biblischen Überlieferung ab, erzählt er von Mysterien und Wundern, die nicht in der Bibel stehen. Seine neuen Versionen und Varianten alter Geschichten stehen in der Tradition jener fabelfrohen apokryphen Testaments-Erzählungen, die aus Furcht vor häretischen Auslegungen in früher Christenheit aus dem kirchlichen Kanon gestrichen wurden. Und selbst wo Roth eng am Kanon bleibt, entdeckt er durch die seinem Erzählen eigentümliche Logik und Kombinatorik unerschlossene Seitenpfade, etwa eine Kontrafaktur zur Legende um die Heiligen Drei Könige oder einen vergessenen Bibelvers in der Geschichte von Magdalena am Grabe. Patrick Roth verwandelt die Überlieferungsgeschichte der biblischen Erzählungen in eine Ereignisgeschichte von großem zeitdiagnostischem Wert.
Christus-Trilogie
Das Zentralthema der Christus-Trilogie, mit der Roth die Bemühungen der ästhetischen Moderne um das Mysterium von Mensch und Gott fortsetzt, ist das Geheimnis von Heilung, Totenerweckung und Auferstehung. Der erste Band, die Christus-Novelle Riverside (1991), rekonstruiert eine in der Zeit nach Jesu Tod spielende Heilungsgeschichte. Der aussätzige Diastasimos wird rein, indem er die Grenzen seines Ichs in einer Begegnung mit dem „Knechtgott“ (R 85) zu überschreiten lernt. Er beobachtet, wie Jesus mit seinen Jüngern Johannes und Judas auf dem Weg von Jericho nach Jerusalem verhaftet und von einem römischen Hauptmann ins Kreuzverhör genommen wird. Als das Leugnen nicht hilft, greifen die Jünger, um ihren Herrn zu retten, zum äußersten Mittel „gottserbärmlicher“ Liebe: sie peitschen „ihren Heiligsten [...] wie einen Hund“. Diastasimos wundert sich darüber, wie „irrsinnig und verzweifelt groß“ diese „GottesLiebe“ sein muß (R 82), und mehr noch, daß Jesus seinen Aussatz buchstäblich auf sich nimmt. Mit Versatzstücken der biblischen Passion, der dreifachen Leugnung, der Verspottung und des Verhörs, verwandelt Roth diese Wundergeschichte in ein „Gleichnis“ von der rettenden Kraft des Glaubens, der erlebt, am eigenen Leibe erfahren werden muß und „im Schreiben und Aufnotieren verloren geht“ (R 87).
In dem Roman Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten (1993) erfolgt ein Zeitsprung in die amerikanische Gegenwart. Der Titelheld, der von einem kalifornischen Wüstenkaff zum nächsten zieht, um an offenen Gräbern Tote ins Leben zurückzurufen, ist mehr als ein selbsternannter Nachfolger Christi, mehr als nur ein verrückter Wunderheiler. Die Pointe der Geschichte von Johnny Shines liegt darin, daß er in zermürbenden Dialogen und quälenden Selbstbefragungen die tote Schwester, die er in einem Akt tragischen Versehens erschossen hat, zum Leben erwecken muß. Erst als Johnny Shines „alles gestanden, alle verstanden und Tag gemacht hatte“ (JS 162), vermag er sich von dieser Atlaslast der Erinnerung zu befreien. Doch das Mysterium der Totenerweckung bleibt verhüllt – so wie sich die Legenden um das leere Grab der Schwester ranken: „Einige in Blade vermuten, jemand habe die Überreste der Toten, nachdem das Erdbeben den Sarg offengelegt hatte, entwendet. Andere: die Leiche des Mädchens sei weder geraubt noch je ausgegraben worden. [...] Manche sprachen von einem Wunder. Die schrieben es meinem Bruder zu“ (JS 163). Immerhin lüftet dieser letzte Satz das Geheimnis der Erzählperspektive: als Erzählerin und Gesprächspartnerin Johnnys erweist sich die totgeglaubte und wiederweckte Schwester.
Das Schlußstück der Trilogie, der Roman Corpus Christi (1996), führt wiederum an den Beginn christlicher Zeitrechnung zurück, an den ersten Ostersonntag – und unterstreicht damit die geschlossene Komposition der gesamten Christus-Trilogie. Mit Tirza, die sich mit dem toten Jesus ins Felsengrab einschließen läßt, um in einer grandiosen Traumvision das Geheimnis von Tod und Auferstehung zu erfahren, hat Patrick Roth abermals mit feinen Strichen eine fiktive Frauenfigur aus dem biblischen Kontext gezeichnet. Mit ihrem Gesprächspartner, dem Zweifler Thomas, der anders als sie, die „ganz erinnert, unverloren“ (CC 179), nach einem handfesten „Beweis“ (CC 102) für die Auferstehung seines Herrn verlangt, steht darüberhinaus ein Prototyp des modernen Menschen auf dem Prüfstand. Thomas will sehen, damit er glauben kann. Dieses Credo ist hineingesprochen in unser visuelles Zeitalter, in dem die Grenzen zwischen Fiktion und Realität so verschwommen sind, daß man Glauben und Wissen nur noch schwer unterscheiden kann.
Die Bibel ist zweifellos ein zentraler Schlüssel zu Patrick Roths Werk. Er teilt nicht die Bibelskepsis der literarischen Moderne, die Gott für ein „schlechtes Stilprinzip“ hält. Wenn er biblische Figuren mit ihrem Hader und mit ihrer Hoffnung in die Welt von heute hineinstellt, schwebt ihm keine Botschaft vor, die predigend oder moralisierend zu verkünden wäre. Entscheidend für die Beglaubigung seines Konzepts ist vielmehr das Erzählen selbst, in dem sich archaische Bilder mit Elementen der zeitgenössischen Popkultur und des Films kreuzen. So mischt sich in Johnny Shines eine apokryphe Version der Legende von Daniel in der Löwengrube mit Reminiszenzen an John Fords Westernklassiker Der Mann, der Liberty Valance erschoss. In diesem dicht gewebten System aus Analogien und Oppositionen entsteht Raum für neue Erzählungen, die nach symbolischer Deutung verlangen. Inmitten einer transzendental obdachlos gewordenen Welt, in der für Götter und Wunder kein Platz mehr zu sein scheint, will der Erzähler buchstäblich irremachen am säkularisierten Bewußtsein von der Machbarkeit der Dinge, will er den vordergründigen Schein menschlicher Selbstherrlichkeit durchbrechen. Sein „mythographisches Schreiben“ (Hans-Rüdiger Schwab), das sich auf die Suche nach den narrativen Ursprüngen des Christentums begibt, erweitert den Horizont des neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriffs und schärft die Sinne für die unter den Errungenschaften der technisierten und globalisierten Moderne verschütteten existentiellen Fragen des Menschen.
Für dieses mythographische Schreiben gibt es drei Schlüsselbegriffe in Roths Privatmythologie, die in seinen Frankfurter Vorlesungen eingehend beschrieben und in je einem Werk der Christus-Trilogie anschaulich inszeniert werden. Es sind Augenblicke der Aufhebung jener Dissoziation, die als Entzweiung mit der Welt und sich selbst eine fundamentale Erfahrung der entzauberten Moderne bildet, Augenblicke, als deren Vorbilder wiederum höchst bezeichnende Figuren aus Bibel und Mythos namhaft gemacht werden. Die „Magdalenen-Sekunde“ ist der Augenblick der Wiedererkennung, in dem sich Mensch und Gott nach schmerzlicher Trennung „einander wieder bewußt“ werden (FP 111). Magdalena am Grabe, die den toten Jesus sucht und den Auferstandenen findet, und der Einsiedler Diastasimos, dessen Aussatz Jesus auf sich nimmt, vollziehen dieses „Drama der Wandlung“, indem sie sich einander zuwenden. Die „Orpheus-Sekunde“ ist die negative Entsprechung der „Magdalenen-Sekunde“: eine „Sekunde des Versagens“. Ihr erliegt Johnny Shines, dem es lange Zeit nicht gelingt, seine eigene Schuld ins Bewußtsein und damit die totgeglaubte Schwester ins Leben zurück zu holen. Ihr erliegt auch Orpheus, der sich gegen das Verbot der Götter umwendet und „aus Unreife, aus fehlender Einsicht“ (FP 43) die schon aus der Unterwelt gerettet geglaubte Geliebte wieder verliert. Ihr widersteht Lou Sedermann, der „glücklichere Orpheus“ in Roths erster Poetikvorlesung, der aus dem Haus, in dem vor 25 Jahren, nach fünfzigjähriger Ehe, seine Frau gestorben ist, einen Feigenbaumzweig mitnimmt. Der Feigenbaum zeugt in der Bibel von einem sicheren Leben (1 Kön 5,5) und von der Nähe Gottes (Mt 24,32f.). Mit diesem Zeichen, ohne von dessen Bedeutung zu wissen, rettet der alte Mann „die Erinnerung vor der Nostalgie“ (FP 44). Die „Thomas-Sekunde“ schließlich ist der Moment, da Thomas den Finger in die Wunde des Auferstandenen legt (Joh 20) und so am eigenen Leibe das Wunder des Corpus Christi erfühlt, das er zu glauben sich weigerte. In dieser Thomas-Sekunde fallen, folgt man Roth, Schreiben und Erleben ineins, wird Schreiben zur „Totenerweckung“ (FP 14).
„Das Lebende steht im Toten, das Tote im Lebenden, ineinander und nebeneinander“: Kaum ein zeitgenössischer Erzähler hat das Memento mori unserer Zeit – und den darin enthaltenen Aufruf zur Individuation – so eindrücklich und so nachhaltig beschrieben. Auch die deutsch-amerikanischen Erzählungen in der 2001 erschienenen Sammlung Die Nacht der Zeitlosen beschreiben Erweckungserlebnisse der besonderen Art. Ereigniszeit und -ort der fünf Geschichten ist die Erdbebennacht von Los Angeles am 17. Januar 1994. Zwischen „Sonnenuntergang“ (sundown) und „Sonnenaufgang“ (sunrise) steht die „Nacht“ (night) der drei mittleren Geschichten, die mit den Rahmenerzählungen durch ein Katastrophen-Erleben verklammert sind, in dem das Dasein aus der Zeit gerissen wird und sozusagen in vertikaler Ausrichtung erfahrbar wird. Unter den oberflächlichen Erschütterungen, die das Erdbeben anrichtet, werden die persönlichen Krisen und die geschichtlichen Heimsuchungen des 20. Jahrhunderts sichtbar. Auch die „Nacht der Zeitlosen“ in der um den Tatort Dallas und den Mord an John F. Kennedy kreisenden Titelerzählung ist ein Gang ins „Tal der Schatten“, zu den Mythen und Archetypen unserer Existenz, die ans Tageslicht zu heben eine Hauptaufgabe des Erzählers bleibt.
Die Synthese gelingt in der Sprache, die an der Bibel geschult und doch sehr modern ist, die sich der sokratischen Dialogtechnik ebenso souverän bedient wie des psychoanalytischen Gesprächs und die dem Genre der apokryphen Bibellegende mit Mitteln filmischer Suspense-Technik neue Reize abzugewinnen vermag. Patrick Roth ist ein mit detektivischer Freude am Detail erzählender Autor, dessen Spannungsbögen das Erzählen geradezu voranjagen. Nicht minder zu bewundern ist, wie er mit dem ‘Auge der Kamera’ zu schreiben versteht.
Das trifft auch für Patrick Roths autobiographisch grundierte Erzählung Meine Reise zu Chaplin (1997) zu, eine cineastische Erweckungsgeschichte. Am Neujahrstag des Jahres 1976 macht sich der Erzähler auf den Weg ins schweizerische Vevey, um das Unmögliche möglich zu machen: einen Besuch bei dem großen Filmemacher und Schauspieler Chaplin. Es geht diesmal um einen – dem Chaplin-Film City Lights (1930) entlehnten – schlagartig belichteten Moment des Wiedererkennens, den ihm „heiligsten Moment der Filmgeschichte“ (MR 71), in dem Patrick Roth das Sichtbare im Unsichtbaren zu beschreiben versteht, eine Stunde der wahren Empfindung.
Dichtung als Expedition in den dunklen Kontinent unserer Seele, als Archäologie des Mysteriums des Menschen: So läßt sich die Poetik des Autors beschreiben, die im Kern auf eine paradoxe, aber immer mögliche Wiederbegegnung des Menschen mit jenem Anderen zielt, das er als fremd, als geheimnisvoll, als unheimlich empfindet. Patrick Roths Erzählungen stellen diese Urszenen von Wiederbegegnung und Wiedererkennen im wahrsten Sinne des Wortes auf die Probe. Sie suchen nach Bilderbrücken vom Unbewußten zum Bewußten, von der Fragmentierung zur Ganzheit, von der Abgewandtheit der Menschen zur Zugewandtheit. Sie führen aus der Gewohnheit unserer vier Wände hinaus und eröffnen uns eine Quint-Essenz, eine qualitativ neue Erfahrungsstufe jenseits vertrauter Wahrnehmungen – im Sinne der ethischen und poetischen Maxime in der fünften Poetikvorlesung: „Mit dem Wissen vom Bösen leben, sich am Guten bescheiden: No fiction“ (FP 170).
Autor: Michael Braun
Stand: 2003
Anmerkungen:
(Aufgrund der besseren Lesbarkeit wurde hier auf der Webseite auf die Auflistung von Fußnoten verzichtet. Im Originalaufsatz sind diese jedoch enthalten.)
Herta Müller
* 17. August 1953 in Nițchidorf
„Freiheit des Wortes“
Gute Literatur bedarf der Freiheit des Wortes. Davon zeugt das Werk von Herta Müller auf eine einzigartige Weise. Es hat die Ceauşescu-Diktatur, aus der die 1953 im banatdeutschen Nitzkydorf geborene Autorin nach langen Schikanen 1987 in die Bundesrepublik floh, überlebt, im eigentlichen Sinne auch überwunden. Herta Müller hat den Alltag der Diktatur mit Mut, Scharfsinn und jenem Vertrauen in das freie künstlerische Wort beschrieben, das sich von keiner Macht etwas weismachen, schon gar nicht unterdrücken lässt.
Werk und Biographie
Das Werk von Herta Müller gehört zu den bedeutenden Oeuvres der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. Es besteht aus drei Romanen, sieben Bänden mit Kurzprosa und Erzählungen sowie vier Bänden mit Essays und Reden, die allesamt in einem Zeitraum von 20 Jahren erschienen sind.
Herta Müllers zentrales Thema ist die Geschichte der erst national-, dann realsozialistischen Diktatur. Ihre Erfahrungen mit der Tätergeneration der Eltern, der deutschen Minderheit in Rumänien und den Funktionären, Spitzeln und Mitläufern der Ceausescu-Diktatur hat sie vor und nach ihrer Ausreise in die Bundesrepublik (1987) mit unnachgiebiger Konsequenz protokolliert, in epischer und essayistischer Form gestaltet: z. B. ihre Entlassung als Übersetzerin wegen ihrer Weigerung, mit der Securitate zusammenzuarbeiten; die Schikanen, die sie in Berufen als Kindergärtnerin und Lehrerin erleiden mußte; die Bespitzelung durch ihre beste Freundin; die Zensur und Verhinderung ihrer literarischen Arbeiten.
Sie selbst schreibt: „Bücher über schlimme Zeiten werden oft als Zeugnisse gelesen. Auch in meinen Büchern geht es notgedrungen um schlimme Zeiten, um das amputierte Leben in der Diktatur, um den nach außen geduckten, nach innen selbstherrlichen Alltag einer deutschen Minderheit und um deren späteres Verschwinden durch die Auswanderung nach Deutschland.“
Der Themenkreis der banatschwäbischen Dorfwelt bestimmt die ersten Werke von den Kurzgeschichten des Debütbandes Niederungen (1982) bis zu dem Prosaband Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt (1986). In dieser Prosa geht es um das exemplarisch erfahrene Leiden durch die repressive Normalität des Dorfes, die geprägt ist von kollektivem Anpassungsdruck, Denkverhärtung, Aberglaube, Nationalismus und Geschichtsblindheit. Die formale Konsequenz sind literarische Anti-Idyllen, kritische und satirische Dorfchroniken.
Die zweite Phase des Werkes, eigentlich eine Übergangsphase, ist geprägt von der Auswanderung nach Deutschland, der Erfahrung der Heimat in der Fremde und der Fremde der Heimat. Der historische Horizont wird erweitert: In den Prosaskizzen Barfüßiger Februar (1987) und in dem Band Reisende auf einem Bein (1989) wird nicht nur die politische Situation in Rumänien stärker miteinbezogen (Personenkult, Korruption, Psychoterror), sondern auch die – von vielen Rumäniendeutschen verschwiegene – Erinnerung an den Holocaust. Auch poetologisch hat Herta Müller in dieser Phase das Spektrum ihrer Produktion mit Essays und politischen Reden ausgeweitet.
Nach Sturz und Tod des rumänischen Diktators Ceausescu im Dezember 1989 ist Herta Müller in der Epik zu ihrem ursprünglichen Thema zurückgekehrt: „der vergangenen, rechten Diktatur, die in der Biographie des Vaters sitzt, und der bestehenden linken Diktatur, in der das eigene Leben läuft“. Doch findet sie dabei zu neuen Formen der Darstellung: der literarischen Reportage (Ende 1989 war sie für deutschsprachige Zeitungen in Rumänien unterwegs) und vor allem dem Roman. Der erste Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992) behandelt die Endzeit einer totalitären Diktatur; der mit seinen temporeichen Szenenwechseln der filmischen Erzähltechnik verpflichtete Roman entstand auf der Grundlage des Drehbuchs zu dem Spielfilm Der Fuchs der Jäger (Herta Müller und Harry Merkle). Der zweite Roman Herztier (1994), der in die siebziger und achtziger Jahre zurückführt und Kindheit, Studium und erste Berufsjahre in einem banatschwäbischen Dorf beschreibt, ist ein Buch über Angst und Verrat. Auch der dritte Roman Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (1997) kreist um die Traumatisierungen der Diktaturerfahrung.
Im letzten Jahrzehnt hat Herta Müller sich auch als Autorin lyrischer Bild-Text-Collagen und poetologischer Essays ausgezeichnet. Experimentiert sie in den Collagen mit dem Formeninventar der Postmoderne, so dokumentieren ihre Essays (Hunger und Seide, 1995; Der König verneigt sich und tötet, 2003) die politischen und historischen Bedingungen des Schreibens. Sie sind kritische Reflexionen über das gesprochene Wort: „Sprache war und ist nirgends und zu keiner Zeit ein unpolitisches Gehege, denn sie läßt sich von dem, was Einer mit dem Anderen tut, nicht trennen“.
Politische Bedeutung
Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler haben die politische Relevanz und den großen zeitdiagnostischen Gehalt von Herta Müllers Werk herausgestellt:
- Als Chronistin des Alltagslebens in der Diktatur schreibt sie mit an der Chronik von Exodus und Vertreibung. Ihre Zeitromane dokumentieren das osteuropäische Geschichtsgedächtnis. Sie schildern Probleme nationaler Minderheiten und Andersdenkender in der Diktatur. Darin sind sie „politische Lehrstücke“ (Verena Auffermann in ihrer Laudatio anläßlich der Verleihung der Zuckmayer-Medaille, 2002).
- Ihr Protest richtet sich gegen verordnetes Denken und entmündigtes Sprechen in der Diktatur sowie gegen jede dogmatische Festlegung. Sie ist eine unerbittliche Anwältin des persönlichen Grundwerts der Freiheit. Sie fordert dazu auf, Freiheit als Zukunftsaufgabe – nicht nur als Geschenk – wahrzunehmen und die richtigen Lehren aus der Diktaturgeschichte zu ziehen: „Jede Gesellschaft muß aus der Extremsituation lernen für die Normalität, aus der Diktatur für die Demokratie“.
- Für Michael Naumann setzt Herta Müller in der Dichtung das fort, was die Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts nicht vermochte: die „Überlebenstechniken in einer Schreckensherrschaft vorzustellen, die zwischen stiller Anpassung, Wegducken, Schweigen oder Flucht in gemeinsame seelische Selbstvergewisserung unter Dissidenten liegt“. Ihren Romanen habe sie – so Naumann – mit dem jüngsten Essayband eine beispielhafte „Poetik über Dichtung in Diktaturen“ zur Seite gestellt (Die Zeit, 5.2.2004).
Poetologisch-ästhetische Bedeutung
Der poetologisch-ästhetische Rang von Herta Müllers Werken ist in literaturwissenschaftlichen Sammelwerken, in Lexikonartikeln, Dissertationen und Laudationes hervorgehoben worden.
- Sie schreibt einen dinglich kompakten, bildlich konkreten Stil und eine glasklare, hartnäckige Sprache, die aus lebendig gewordenen Erinnerungen besteht und deren poetische Wahrheit aus Todesangst und Überlebenswut hervorbricht.
- Ihre Bücher enthüllen Autobiographisches. Allerdings ist dieser autobiographische Stoff verfremdet. Damit wird deutlich, daß dem Zerfall eines Staates und der Korrumpierbarkeit des Menschen der Sprachverfall vorausgeht. Herta Müllers Romane und Essays sind „Dokumente einer rigorosen Sprachskepsis“ (Friedmar Apel 2002). Auch die ins Satirische und Groteske verzerrte Darstellung des Banater Dorfmilieus ist zunächst von der Sprachkritik her motiviert. Banatschwaben ist für Herta Müller das, was Österreich für Thomas Bernhard war. Stoffreservoir und Motivvorrat, aber auch Reibungsfläche.
- Herta Müller kultiviert den ethnographisch-interkulturellen Blick auf das Fremde. Ihre Poetik des „fremden Blicks“ dokumentiert die Diktaturschäden vor allem bei Angehörigen ethnischer Minderheiten: „Fremd ist für mich nicht das Gegenteil von bekannt, sondern von vertraut. Unbekanntes muß nicht fremd sein, aber Bekanntes kann fremd werden“.
- Unter den emigrierten rumänischen Autoren des 20. Jahrhunderts (Canetti, Cioran) zählt Herta Müller zu den bedeutendsten. In der Gruppe der in den achtziger Jahren aus Rumänien ausgereisten Autoren hat sie als einzige eine bleibende Position im literarischen Leben behalten.
Nationale und internationale Würdigungen
Herta Müller hat in der Kritik landesweit und international große Anerkennung gefunden. Peter von Matt lobt die Lakonik ihrer Sprache: „Je trockener diese Berichte aus dem gewöhnlichen Leben daherkommen, um so eindringlicher, ergreifender wird das Erzählen“ (FAZ, 29.9.1992). Für Frank Schirrmacher zählt sie „zu den glaubwürdigsten Schriftstellern der Gegenwart“. Walter Hinck stellt in seiner Laudatio zur Kleistpreisverleihung (1994) heraus: „Herta Müller predigt keine Vergeltung, und sie verabscheut falsche Verdächtigung, aber sie läßt sich auch als Anwalt der Opfer durch keine falsche Versöhnung bestechen. Sie tut das ihre, daß unser Geschichtsgedächtnis klaren Kopf behält“
Müllers Werk ist mit zahlreichen angesehenen Literaturpreisen gewürdigt worden: dem aspekte-Literaturpreis (1984), dem Ricarda-Huch-Preis der Stadt Bernstadt (1987), dem Marieluise-Fleißer-Preis (1989), der Roswitha-Gedenkmedaille der Stadt Gandersheim (1990), dem Kritikerpreis Sparte Literatur (1992), dem Kleist-Preis (1994), dem Ida-Dehmel-Literaturpreis (1998), dem Franz-Kafka-Preis (1999), dem Cicero-Redner-Preis (2001), der Zuckmayer-Medaille (2002), dem Josef-Breitbach-Preis (2003); in Kürze wird ihr der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2004) verliehen. Die Ankündigung der Preisverleihung Ende 2003/Anfang 2004 hat in der Presse eine außerordentlich große Resonanz gefunden.
Unter den internationalen Auszeichnungen sind der Rauriser Literaturpreis (1985), der Kranichsteiner Literaturpreis (1991), der Europäische Literaturpreis „Aristeion“ (1995), der Literaturpreis der Stadt Graz (1997) und der IMPAC Dublin Literary Award (1998) hervorzuheben. Herta Müller ist Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung.
Ihre große internationale Anerkennung in der Wissenschaft dokumentieren eine Reihe von Gastprofessuren: an den Universitäten Hamburg und Bochum (1995), an der TU Zürich (2001) und im Deutschen Literaturinstitut Leipzig (2002). 1998 hatte sie die Gebrüder-Grimm-Professur an der GH Universität Kassel inne. Herta Müller war writer in residence an der University of Warwick (1992), am Dickinson College Carlisle (1996), an der University of Florida in Gainsville (1998) und am Literaturhaus Basel (2000). Hinzu kommen Poetikdozenturen an den Universitäten Paderborn (1989), Bonn (1996) und Tübingen (2001).
Autor: Michael Braun
Stand: 2004
Wulf Kirsten
* 21. Juni 1934 in Klipphausen bei Meißen
† 14. Dezember 2022 in Bad Berka
Wortbewahrer und Worterneuerer
Biographie
Der am 21.6.1934 als Sohn eines Steinmetzes in Klipphausen bei Meißen geborene Wulf Kirsten begann nach einer kaufmännischen Lehre ein Deutsch- und Russisch-Studium an der Universität Leipzig (1960-1964). Nach einer kurzzeitigen Tätigkeit als Lehrer und Referent im Bauwesen wirkte er von 1965 bis 1987 als Lektor im Weimarer Aufbau-Verlag.
Kirsten bewies Rückgrat in der SED-Diktatur, was dazu führte, daß er in der Literaturszene als lediglich geduldeter Autor nach eigenen Worten „geflissentlich ausgespart“ wurde. „Ich habe nie auf eine Doktrin gesetzt und geglaubt, daß Utopien Utopien sind“, sagt Kirsten.
Kurz nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns mußte Kirsten Lesungen in der Bundesrepublik ohne Angabe von Gründen absagen. Bis zum Januar 1977 war Kirsten im Erfurter Bezirksverband des DDR-Schriftstellerverbandes verantwortlich für die Nachwuchsarbeit. Nach seinem Rücktritt von dieser Funktion wurde gegen ihn ein Operativer Vorgang der Staatssicherheit der DDR eingeleitet (bezeichnenderweise mit dem Namen OV „Lektor“). Kirstens Protestbrief (vom 14.6.1979) an den Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes, Hermann Kant, gegen den Ausschluß von neun Berliner Autoren aus dem Verband ließ an Klarheit und Bestimmtheit nichts zu wünschen übrig.
In den Jahren der deutschen Einigung war Kirsten politisch aktiv. Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde er Ende 1989 in der Bürgerbewegung „Neues Forum“ aktiv, wirkte an der Auflösung der Weimarer Staatssicherheit mit und war als Mitglied des Ausschusses zur Untersuchung von Korruption und Amtsmißbrauch tätig. Für das „Neue Forum“ kam er bei den ersten freien Kommunalwahlen in der DDR (18.3.90) ins Weimarer Stadtparlament und war hier bis Oktober 1990 Fraktionschef.
Werke
Wulf Kirsten hat ein umfangreiches literarisches Werk vorgelegt, das aus einer Vielzahl von Lyrikbänden, aus Erzählprosa, Essays, Reden und Editionen besteht. Seine dichterische Existenz erfüllt sich vor allem in der Lyrik, die in dem zum 70. Geburtstag erschienenen Band „Erdlebenbilder“ (2004) gesammelt vorliegt. Nach dem erfolgreichen Lyrik-Debüt („Satzanfang“, 1970) wurde der von Reiner Kunze als „die größte Hoffnung der DDR-Lyrik“ gewürdigte Wulf Kirsten seit Mitte der 70er Jahre auch in der Bundesrepublik bekannt. Mit dem Gedichtband „Die Erde bei Meißen“ (1986) und dem im Jahr darauf verliehenen Peter-Huchel-Preis fand der Autor große öffentliche Resonanz auch in westlichen Medien.
Die Essays („Textur“, 1998) und Editionen dokumentieren die Lebensbilanz eines homme de lettres, eines exzellenten Kenners, Förderers und Vermittlers der deutschsprachigen Literatur. Davon zeugen Aufsätze über Dichterkollegen (z.B. Sarah Kirsch), Anthologien etwa über die deutsche Ballade und dokumentarisch exakt recherchierte Bücher wie „Die Schlacht von Kesselsdorf“ (1984). Kirstens Autobiographie „Die Prinzessinnen im Krautgarten“ (2000) erzählt von der Dorfkindheit zwischen Krieg und Kriegsende.
Politische und literarische Bedeutung
Kirsten hat sich einen Namen vor allem als Dichter einer im Obersächsischen verwurzelten Naturpoesie gemacht. „Die Erde bei Meißen“ ist Wurzel und Hauptstoff seines Werks. Kirsten ist der poetische Geschichtsschreiber dieser Region auf den Elbhöhen zwischen Dresden und Meißen, ein „lyrischer Landvermesser“ (Jochen Hieber). Seine Lyrik unterstreicht die Bedeutung eines Europas der Regionen. Seine Verbundenheit mit dörflicher Heimat und Arbeiteralltag ist dabei frei von provinzieller Selbstgenügsamkeit und der Deutschtümelei traditioneller Heimatdichtung. Die Landschaften in den Gedichten sind immer auch historische und kulturelle Landschaften. So gelingt ihm die Integration sozialer und historischer Bezüge, z.B. in dem Gedicht „september am ettersberg“. Der Weimar-Band „Der Berg über der Stadt“ (2003) ist ein Dokument der wechselvollen Geschichte eines exemplarischen deutschen Ortes und der Spannungen zwischen Goethe und Buchenwald.
Zugleich war und ist der Lyriker Kirsten – schon als Umweltschutz noch kein Thema war – Bewahrer einer zivilisatorisch und ökologisch bedrohten, von Kollektivierung, Planwirtschaft, Urbanisierung und Modernisierung zerstörten Landschaft. Diese seelenlos abgerichtete Landschaft erscheint als Machwerk des Menschen. Immer ist deshalb Kirstens Naturbetrachtung angelegt auf die Erhaltung einer menschenwürdigen Existenz. Walter Hinck hebt Kirsten „ökologisches Bewußtsein ohne den Hang zu ökologischer correctness“ hervor. So kann man Kirsten durchaus einen Erneuerer der Naturlyrik von ihrer politischen Potenz her nennen.
Kirstens Gedichte machen kritische Anmerkungen zum Sprachzustand der Gegenwart. Sein Bemühen um die deutsche Sprachkultur zeigt sich in der Widerständigkeit seiner poetischen Sprache ebenso wie in der Mitgründung des „Rats für deutsche Rechtschreibung“ (2004, u.a. mit Reiner Kunze und Thomas Hürlimann). Als Spracharchäologe – der seit 1962 an dem „Wörterbuch für obersächsische Mundarten“ mitarbeitet – schärft Kirsten den Blick auf unsere Zeit und appelliert an einen verantwortlichen Sprachgebrauch.
Damit wird deutlich: Sprachkritik ist ein Beitrag zur Gestaltung einer humanen Zukunft. Im Mittelpunkt der Gedichte steht die Zukunftsbeständigkeit der Sprache als humaner Wert. Kirsten selbst spricht von „Wortbewußtsein als Lebensbewußtsein, [der] Einheit von Sprache und Denken als moralischem Wortgefüge“. Indem Kirsten mundartliche Eigentümlichkeiten seiner Heimat und den „stimmenschotter“ einer geschichtsvergessenen Moderne sammelt, aufbewahrt und mitten in unsere Zeit stellt, vermag er die Vergangenheit in die Gegenwart hineinzuholen und die Widerstandskraft individueller Lebensgeschichten gegen Kollektivierung und ideologische Doktrinierung herauszustellen: „im handgepäck die kleinen wortrechte / ausgesiedelte lebensgeschichten“. Martin Walser schreibt: „Die Kirsten-Sprache ist eine Sprache, in der man sich verproviantieren kann gegen Geschwindigkeit, Anpassung, Verlust“.
Kirstens Poetologie ist geprägt durch Präzision, Gewissenhaftigkeit und dichterisches Verantwortungsbewußtsein. Programmatisch ist sein Vers: „auf wortwurzeln fasse ich fuß“. Seine Gedichte, die jedes Pathos, Bedeutungsschwere und Emotionalität vermeiden, sind körnig, rauh, ausdrucksstark und lebendig. Kirsten mißtraut allem, was glatt von der Zunge geht, und praktiziert eine Vers-Methode des scharfen Umreißens, der lakonischen Verknappung, der Engführung von Altem und Aktuellem. Er packt heiße Eisen an, doch bevorzugt leise, abwägende Töne. Die von ihm bevorzugte lyrische Form ist das narrative Gedicht, nicht der Spruch oder die Gedankenlyrik.
Wulf Kirstens Werke geben ein entschiedenes Votum ab für die die „Kunst als eine Tochter der Freiheit“ (Schiller) und für das humane Potential dichterischer Sprache. Als Wortbewahrer und Worterneuerer, Chronist und Zeitgenosse zählt er zu den bedeutendsten deutschen Dichtern der Gegenwart.
Autor: Michael Braun
Stand: 2005
Daniel Kehlmann
* 13. Januar 1975 in München
Der Weltvermesser
Biographie und Werk
Kehlmann wurde 1975 in München als Sohn des österreichischen Theater- und Fernsehregisseurs Michael Kehlmann und einer Schauspielerin geboren und lebt seit 1981 in Wien. Dort hat er Philosophie und Germanistik studiert, an einer Dissertation über das Erhabene bei Kant geschrieben und an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gearbeitet. Er hat zwei Pässe.
Der Debütroman Beerholms Vorstellung (1997), geschrieben von einem 21jährigen, fand positive Aufnahme in der österreichischen und deutschen Kritik, drang jedoch nicht in die großen Feuilletons vor. Das gilt auch für die Erzählungen Unter der Sonne (1998). Beide Bücher erschienen im österreichischen Deuticke Verlag. Der zweite Roman Mahlers Zeit (1999), den Kehlmann bei Suhrkamp herausbrachte, erfuhr in der Neuen Zürcher Zeitung hohes Lob als „Werk eines fertigen Schriftstellers“ (12.10.1999). Auch der nächste Roman Ich und Kaminski (2003), eine Satire auf den gegenwärtigen Kulturbetrieb, und die Novelle Der fernste Ort (2001), deren Reiz darin besteht, dass man sie man als kriminalistische Geschichte eines spurlosen Verschwindens lesen kann oder als philosophische Etüde über Sein und Zeit, wurden bei Suhrkamp publiziert.
2004/05 wechselte der Autor zum Rowohlt Verlag. Dort erschien der Essayband Wo ist Carlos Montúfar? (2005). Er enthält Aufsätze über Kehlmanns literarische ,Orientierungsgrößen‘: u.a. Stendhal, Tolkien, Salinger, Updike und Carver, die dem Autor eine kleine Poetik seines Schreibens liefern. Kernaussage im titelgebenden Aufsatz des Bandes ist, dass „die Wahrheit, wenn überhaupt, erst im nachhinein und aus der Entfernung sichtbar wird und dass das Erzählen, im Unterschied zur Geschichtsschreibung, anderes verlangt als Treue zu den Tatsachen“ (S. 18): nämlich Treue zur Wahrheit, auch wenn sie ,erfunden‘ werden muss, und zur Freiheit des Wortes, auch wenn es im Kontrast zur Wirklichkeit steht.
Die Vermessung der Welt (Rowohlt Verlag 2005) ist Kehlmanns erfolgreichstes Buch, ja der wohl erfolgreichste Roman der deutschen Literatur der letzten 60 Jahre, der inzwischen zu europäischer, ja zu Weltgeltung gelangt ist, „ein exquisites Lesevergnügen“ (NZZ, 18.10.05). Der Roman wurde schon vor seinem Erscheinen für den Deutschen Buchpreis nominiert, war Spitzentitel in den Bestsellerlisten (im Februar 2006 über 400.000 verkaufte Exemplare, merkwürdigerweise aber nur 14.700 in Österreich), hatte Übersetzungs- und Lizenzrechte in 20 Länder; und in Amerika, wo die deutsche Literatur der Gegenwart einen schweren Stand hat, erschien im Sommer 2006 bei Pantheon Books eine Übersetzung. Kommerzieller und künstlerischer Erfolg schließen sich nicht aus!
Unterdessen wurde der 30jährige Kehlmann als „größte Begabung der jüngeren deutschen Literatur“ (SZ, 24.9.05) gefeiert. Seit Enzensberger, Handke und Grünbein hat es in der deutschen Literatur keinen solch erfolgreichen jungen Autor mehr gegeben. Neu aber ist, dass Kehlmann im Gegensatz zu diesen Autoren, die Debüterfolge feierten, erst mit dem siebten Buch vom Geheimtipp zum Starautor wurde.
Auszeichnungen
Kehlmanns Romane und Erzählungen, die in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden, haben (Stand 2006) eine Reihe von Auszeichnungen erfahren: 1998 den Förderpreis des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, 2003 den Förderpreis des Österreichischen Bundeskanzleramtes, 2005 den Candide-Preis der Stadt Minden. 2000 erhielt er das Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin, 2001 hatte er die Mainzer Poetik-Dozentur inne. Der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung war die erste Auszeichnung für Daniel Kehlmann 2006!
Literarische und politische Bedeutung
- Kehlmanns Themen sind das Abenteuer der Wissenschaft, die Gefahr unzeitgemäßer Entdeckungen, die Beziehungen zwischen Kunst, Philosophie, Physik/Mathematik. In seinem Roman Die Vermessung der Welt (2005) verknüpft er Naturwissenschaft und Poesie in der historisch einmaligen [in Berlin im Jahre 1828], fiktiv reich ausgeschmückten Begegnung des Naturforschers Alexander von Humboldt mit dem „Fürst der Mathematik“ Carl Friedrich Gauß. Beide vermessen, was die Welt im Innersten und Äußersten zusammenhält: Humboldt kartographiert Mittelamerika, sammelt Pflanzen, erforscht Vulkane, besteigt den Chimborazo und findet den Orinoko-Kanal, Gauß bleibt im Königreich Hannover, kartographiert den Geist (eine frühe Version des mental mapping) und entwickelt die Lehre von der Krümmung des Raums, den Integralsatz u.a. bahnbrechende Formeln, beiden aber bleibt die Lebenskunst fremd.
- Kehlmanns Die Vermessung der Welt reflektiert die große Tradition der Weimarer Klassik: Die Werte von Menschenliebe, Freundschaft, Toleranz und Humanität werden in ihrer Größe gezeigt, aber auch in ihrer Begrenztheit für den interkulturellen Dialog der Moderne. Humboldt und Gauß gehören zu den „größten Botschaftern des humanistischen Weltbürgerprinzips“, aber sie haben auch „viel Chaos ausgeblendet“ (Spiegel-Interview mit Kehlmann, 5.12.2005). Der KAS-Stipendiat und Schriftsteller Andreas Maier hat deshalb im Hörbuch von der „Lebensuntauglichkeit“ dieser „Klassiker aus schierer Willensanstrengung“ gesprochen.
- „Was tut Wissenschaft der Welt an?“ (Kehlmann in Hamburger Morgenpost, 29.9.2005). Kehlmann zeigt, dass die Welt zu quantifizieren, zu berechnen und zu vermessen nicht bedeutet, sie auch zu verstehen. Ambivalenz des Wissen: Es kann durch Weltkenntnis befreien, aber auch durch rigorose Unterwerfung unter die Macht des Faktischen verknechten.
- Frage nach geistiger Freiheit und sozialer Verantwortung: Welche Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft haben Spitzenforscher, haben künstlerische Genies? Kehlmanns Anti-Helden sind allesamt durch Misanthropie oder Größenwahn gefährdet.
- Auffällig ist Kehlmanns Interesse an dem Phänomen der Hochbegabung. Immer wieder spielen Genies die Hauptrollen, im ersten Roman ein „Zauberlehrling“ an einem Elite-Internat, in Mahlers Zeit ein über seine Entdeckung des Geheimnisses der Zeit verrückt werdender Mathematiker. Im jüngsten Roman zeigt er, daß verfehlte Hochbegabung (der Kontrollzwang und die emotionale Armut Humboldts, die Menschen- und Familienfeindlichkeit von Gauß) zur Weltverwirrung führt. Auf diese Weise ist Kehlmanns Werk ein wichtiger Beitrag zur Elitendiskussion.
- Literarische Merkmale: Kehlmanns Erzählungen und Romane vereinen kunstvoll zwei Stränge der deutschen Literatur: die realistische Tradition (offener Schluß, Understatement, Lakonie, unspektakuläre Themen) und die der Phantastik und des experimentellen Romans (philosophische und naturwissenschaftliche Themen, ausgeschmückte Episodik, anekdotisches Erzählen). Hinzu tritt die von der Kritik landauf, landab gelobte Tugend des Humors.
- Ein Erfolgsmerkmal der Werke Kehlmanns ist die Verbindung von Sachbuch und Unterhaltungsroman: seine Bücher sind keine Romane über Ereignisse „von fernsehserienartiger Bekanntheit“, sondern Entdeckungsreisen in Wissenswelten, denen „man etwas entnehmen kann, was man noch nicht wußte“ (H.M. Enzensberger in FAZ, 26.1.06).
- Kehlmanns Werke übersetzen die Frage, was der Mensch ist, in die Sprache unserer Zeit: es geht um das Verhältnis von vita activa und vita contemplativa, von Empirie und Abstraktion, um die Relation von Geist und Körper, um die Notwendigkeit des Erinnerns und das Risiko des Vergessens, um Weltvermessung und menschliche Vermessenheit, um das Problem der Grenze von Wissen und Fortschritt.
- Kehlmann ist ein Brückenbauer zwischen den Kulturen, der sich spielerisch und unangestrengt in naturwissenschaftlichen und philosophischen Wissensgebieten bewegt und die Grenzen des heute im Kleinsten wie im Größten vermessenen Wissenskosmos plausibel macht. „Die spannendsten Abenteuer des menschlichen Geistes finden heute in den Naturwissenschaften statt“, sagt er im Spiegel (5.12.2005). Kehlmann schreibt an der Front der Probleme unserer Zeit, mit sanfter Ironie das Spektakel der Welt betrachtend. Er markiert den historischen Punkt, an dem das Projekt der Aufklärung durch Angriffe auf Menschenwürde und Freiheit gefährdet ist. Auf diese Weise üben seine Werke eine befreiende Wirkung auf den Leser aus.
- Zugleich stellt Kehlmann die entscheidende Frage nach der Quelle und Legitimation zeitgemäßer Werte: Wenn sich die Kluft zwischen naturwissenschaftlich geschulter und philosophisch-historisch ausgebildeter Elite immer weiter vergrößert, aus welcher Kultur kann der Mensch von heute dann noch ethische Maßstäbe herleiten? „Ich finde es zwar beeindruckend, bei Dostojewski zu lesen, ohne Gott gebe es keine Moral. Aber in der Praxis hilft uns das nicht, weil sich die seltsamsten Moralvorstellungen auf Gott berufen. Ich glaube, Kant hat recht, wenn er Gott aus der Ethik begründet – und nicht die Ethik aus Gott“ (Spiegel-Interview, 5.12.2005).
Autor: Michael Braun
Stand: 2006
Petra Morsbach
* 1. Juni 1956 in Zürich
„Diener der bessernden Wahrheit“
Als im Sommer 2006 Günter Grass sich und alle Welt an das bis dahin verschwiegene SS-Kapitel seiner Biographie erinnerte, kam auch, von den meisten unbeachtet, ein kleines Buch von Petra Morsbach unter dem Titel Über die Wahrheit des Erzählens auf dem Markt. Fast prophetisch nahm dieser Essayband, der nach vier Romanen der Autorin die poetologische Zwischensumme eines erstaunlich kontinuierlichen und vielseitigen Schaffens zieht, wesentliche Themen der seinerzeitigen Grass-Debatte vorweg: die Frage der geistigen Freiheit des Autors, sein Verhältnis zu Wahrheit und Religion, die Relation von Literatur und Kritik, das Besondere der literarischen Erinnerung.
Russische Anfänge
Wer ist Petra Morsbach, mit der das 2007 erschienene Handbuch Christliche Literatur für unsere Zeit eine stattliche Reihe kanonfähiger Autoren beschließt? Die 1956 in Zürich als Tochter eines Ingenieurs geborene Petra Morsbach studierte seit 1975 in München Theaterwissenschaften, Psychologie, Slawistik und hielt sich seit 1978 häufig in Russland auf. Sie erlernte die russische Sprache, studierte 1981/82 als Austauschwissenschaftlerin an der Leningrader Theaterakademie und promovierte 1983 über den Dramatiker und Erzähler Isaak Babel. Aus Liebe zur Oper – noch vor dem Magisterabschluss brachte sie mit Händels „Belshazzar“ (in deutscher Übersetzung) ihre erste Inszenierung heraus – arbeitete sie als Assistentin und Dramaturgin an verschiedenen Musiktheatern, dann dreieinhalb Jahre als freie Regisseurin. Ende 1990 quittierte sie das Regiefach, weil sie Regie über ihre eigenen Geschichten führen wollte. Und davon ist ihr Erfahrungsschatz zumal seit der Zeit in Russland randvoll.
Naturgemäß ist ihr erstes Buch Und plötzlich ist es Abend (1995) ein Russland-Roman. Doch der Ort des literarischen Debüts brachte zunächst kein Glück. Ein Kapitel aus dem Romanmanuskript, das sie bei den Klagenfurter Literaturtagen vorlas, wurde verrissen. Petra Morsbach ließ sich von den Absagen renommierter Verlage nicht abschrecken und gewann den entdeckerfreudigen Hans Magnus Enzensberger für ihren Roman. Enzensberger, entzückt von den epischen Qualitäten und der filmschnittartigen Szenentechnik des Romans, dem er „Döblinsches Format“ zusprach, vermittelte ihr eine Publikation im Eichborn Verlag. Das Buch wird ein Erfolg, ein Longseller, ein auch von der Kritik anerkanntes Werk der neueren deutschen Russland-Literatur.
Den Titel des Romans findet Petra Morsbach bei dem sizilianischen Nobelpreisträger Salvatore Quasimodo: „Ognuno sta solo sul cuor della terra / trafitto da un raggio di sole / ed è sùbito sera.“ – „Jeder steht allein auf dem Herzen der Erde / durchdrungen von einem Strahl Sonne / und plötzlich ist es Abend“. Aus diesem Nukleus erwächst das epische Großgeflecht, das kleinteilig in Kapitel gegliedert und damit auch übersichtlich erzählt wird. Im Mittelpunkt des Romans steht die Popentocher, Fabrikarbeiterin und Kantinenwirtin Ljusja, eine russische Mutter Courage, die sich mit wechselndem Geschick durch das Dickicht der sowjetischen Städte schlägt.
„Es geschieht ungeheuer viel in diesem Roman, und es geschieht viel Ungeheuerliches“, hob ein Rezensent hervor. „Immerhin“, resümiert Ljusja in einem der vielen Kurzkapitel des Buches, die sich lesen wie eine „Perlenkette von Kurzromanen“, habe sie bisher „intelligente, bedeutende Männer gehabt: den Literaten Bojarow, den Akademiker Tretjakow, den erfolgreichen Spekulanten Pascha. Sie waren zwar alle bescheuert, aber überdurchschnittlich begabt und unbedingt interessant. Und hiernach Iwan Sergejitsch, den russischen Wanja, den ehemaligen Tschekisten und Handlanger Stalins, den korrupten Apparatschik, der dem Wodka ergeben ist? Wäre das ein Abstieg, mal ganz abgesehen von der ungeklärten moralischen Frage?“
Sinn- und Glaubensfrage
Keine allmächtige Erzählerstimme hilft Ljusja aus der Not. Petra Morsbach lässt ihre Figuren ganz für sich und aus sich selbst sprechen, ohne sie in ihrem Milieu naturalistisch zu isolieren. Zugleich steht der Lebenslauf Ljusjas mit ihren wechselnden Partnerschaften exemplarisch für die moderne russische Geschichte, die von der Gründungsphase der Sowjetunion über die Stalinzeit bis zu ihrem Verfall miterzählt wird. Dabei geht es immer auch um die Sinn- und Glaubensfrage. So gibt ein ehemaliger politischer Sträfling und Emigrant im 400. Kapitel Gott die Schuld an der Misere der Menschheit, weil „er Abels Opfer annahm, das Kains aber verschmähte. […] Seitdem sind Dissonanz und Pein auf der Erde, und die armen Künstler bügeln es aus in ihren rührenden Versuchen, das heillose Durcheinander für ein paar Augenblicke zu harmonisieren“.[6] Petra Morsbach beschreibt ihre Figuren so, dass deren Lebensläufe im Ganzen tragisch, aber im einzelnen auch komisch sind. Tragikomik fasst, sagt sie, „die Widersprüche des Lebens zusammen, seinen Witz und seine Vergeblichkeit. Sie erschüttert und versöhnt gleichzeitig, wobei diese Gefühle einander nicht aufheben, sondern verstärken.“
Künstlerin der „dichten Beschreibung“
Fortan hat Petra Morsbach mit jedem weiteren Buch eine andere Lebenswelt erschlossen. Vor der Gefahr des Milieuromans, die Umwelt zum Schicksal zu stilisieren, bewahrt sie die „Kunst der dichten Beschreibung“. Diese Kunst ist eine des Erzählens. Sie nimmt die Welt sprachlich wahr. Der Opernroman, 1998 in Enzensbergers Reihe Die Andere Bibliothek erschienen, ist kein Insiderroman nur für Opernfreunde, sondern ein episches Drama aus der Welt der Musik in fünf Akten. Am Beispiel von fünf Repertoirestücken – von Wagners Tristan und Isolde bis zu Brahms Deutschem Requiem – inszeniert Morsbach die großen Hoffnungen und kleinen Lebenslügen eines Provinztheaterensembles von der Primadonna bis zur Kantinenwirtin, ohne dabei jemals den Blick hinter die Kulissen indiskret erscheinen zu lassen. Die Oper im Opernroman ist ein sozialer Miniaturkosmos, in dem die Regisseurin mit fast traumwandlerischer Sicherheit die Rollenfächer vergibt und die Extreme zusammenführt: „Erhabenes und Lächerliches, Intensität und Intrige, Begeisterung und Neid, Hingabe und Gier“.
Auch den Titel von Petra Morsbachs drittem Roman darf man nicht zu wörtlich nehmen. Die Geschichte mit Pferden (2001) ist, ganz ohne Reiterromantik, die weibliche Variation des Herr-und-Knecht-Themas, eine entlarvende Studie über soziale Ausbeutung und Lebenslügen. Die Erzählerin ist eine Frau in den nicht mehr besten Jahren, die eine Stelle als Köchin auf einem norddeutschen Reiterhof angenommen hat und dort erlebt, wie die Gäste und das Personal von der schicken Chefin und deren Mann nach Strich und Faden ausgenommen werden. Auch ringt die Heldin mit dem traumlosen Unglück ihrer eigenen Vergangenheit und sucht die Befreiung aus der „sinnlosen Liebe“ zu ihrem kranken Mann.
Der Cembalospieler (2008) ist ein Roman über den fiktiven Cembalospieler Moritz Bauer, der sein Augenlicht verloren hat. Der Fall von blinden Musikern, bei denen die Gabe des absoluten Gehörs sechsmal so häufig ausgeprägt ist wie bei ihren sehenden Kollegen, ist bekannt. Wir wissen von Neurologen, dass blinden musikalischen Genies ihr offenbar unzerstörbares Gedächtnis für Töne in besonderem Maße zugute kommt: sie hören nicht nur Melodien, sie hören geradezu mit den Melodien. Morsbachs Roman beschreibt die schmerzhafte Geburt des Künstlers aus einer unmusikalischen Familie, die anfangs nur Ignoranz und Hysterie für das Wunderkind übrig hat. Eindringlich wird geschildert, wie sich das junge Talent aus diesem Milieu befreit, Fugen in g-Moll komponiert, sich ein teures Instrument, eine exzellente Ausbildung und mit Bachs „Chromatischer Fantasie und Fuge“ ein Stück aus der Königsklasse des Cembalospiels erobert. Der zweite und deutlich längere Teil des Romans widmet sich der Konzertkarriere, die vom Kirchenmusikstudium über die Musikhochschule auf das europäische Konzertparkett führt. Dort sorgt eine Reihe privater Kunstmäzene für ein ausgepolstertes Reiseleben, zu dem neben Kreuzfahrten und Luxusvillen, Trüffeln und Champagner auch die lässige Toleranz der „besseren Gesellschaft“ gegenüber homosexuellen Partnerschaften gehört. Doch der Cembalist, am unteren Ende der oberen Zehntausend angekommen, erlebt ein wunschloses Unglück. Der Kurswert seines Genies, das sich zu je 40 Prozent aus Fleiß und Beziehungen, nur zu 20 Prozent aus Begabung zusammensetzt, hängt stark vom Interesse des Publikums für Cembalomusik ab, das in den 1990er Jahren schwindet. Und von der Laune seiner Gönner, die zwar anspruchsvoll, aber letztlich eben auch nur Konsumenten sind, getrieben von „Prestigestreben, Identifikation mit dem Erfolg“. Eindringlich und mit Sinn auch für komische Momente demonstriert Petra Morsbach die Spannungen zwischen künstlerischer Freiheit, Publikumsgeschmack und Zeitgeist. Der Cembalospieler warnt vor der Überschätzung künstlerischer Genialität, erinnert aber zugleich an den Respekt vor der „Brillanz, Dramatik und Phantasie“ großer Musik.
Chronistin ohne Botschaft
Spätestens seit den ersten drei Romanen gilt Petra Morsbach als etablierte Größe auf dem Buchmarkt. Unter den Erzählern ist sie eine „präzise Ethnographin“, eine Forscherin, eine Chronistin ohne Botschaft: „Ich filtere meine Beobachtungen nicht durch ein weltanschauliches Konzept, ich gebe ihnen keinen ,Drall’ und sage den Lesern nicht, was sie von den Geschichten zu halten haben.“ Wichtige Schreibvoraussetzungen für sie sind Beobachtung, Einfühlung und Phantasie, immer nach Maßgabe der gestaltbaren Wirklichkeit. Auf ihrer Homepage hat die Autorin ihr Realismuskonzept so erläutert: „Ein realistischer Autor sollte seine Deutung der Wirklichkeit anpassen, nicht umgekehrt. Je mehr Wirklichkeit er erfaßt, desto aussagefähiger ist sein Zeugnis.“ Ziel dieser lebensweltlich möglichst genauen Beschreibung der Wirklichkeit ist die Wahrheit. Diese ‚Wahrheit’ ist kein Begriff für ein bloßes Abbildverhältnis von Kunst und Natur, sondern eine „bereichernde Version des Lebens“ und ein religiös unterfütterter Anspruch, wie man ebenfalls aus dem Fragenkatalog auf ihrer Homepage erfährt: „Ohne die Wahrheit beweisen zu können, widme ich ihr mein Leben. Das ist ziemlich schwer, riskant und bisweilen lächerlich – aber es ist genau das, was ich tun muß, eine sogenannte Berufung wohl.“
Das Wahrheitsprinzip bestimmt die Arbeit an ihrem bisher vielleicht bedeutendsten Roman: Gottesdiener (2004). Es geht um ein heikles Thema, den Priesterroman, an dem sich manche Autoren verhoben, und nur wenige bewährt haben; zu letzteren zählen Stefan Andres (Die Versuchung des Synesios, 1971), Dieter Wellershoff (Der Himmel ist kein Ort, 2009) und Michael Göring (Der Seiltänzer, 2011) wären zu nennen. Petra Morsbach hat für ihr Buch aufwendige Recherchen angestellt, sie hat Vorlesungen der Jesuiten besucht, Messbücher und katholische Rituale studiert, an Exerzitien und Pilgerfahrten teilgenommen und viele Pfarrer, die dazu bereit waren, interviewt. Die Empfehlung aber, dem Pfarrer-Helden eine Geliebte anzuhängen und das Thema Kindsmissbrauch aufzugreifen, hat sie in den Wind geschlagen. Wiewohl sie philosophische, moralische, spirituelle Parallelen zwischen Priester und Schriftsteller zieht, möchte sie sich ungern als Autorin „katholischer Romane“ verstanden wissen, die Martin Mosebach zufolge die künstlerische Arbeit belasten, weil sie das Absurde und den Humor leugnen und am Ende „nach schwersten Anfechtungen die Gnade“ siegen lassen:
„Nicht einmal entschlossene Katholiken wie Graham Greene, Martin Mosebach, Heimito von Doderer und Evelyn Waugh haben katholische Romane geschrieben. Gute Literatur erforscht das Leben, sie muß, wie das heute wohl heißt, ,ergebnisoffen’ sein. Aber sie kann auf diesem Weg der freien Suche zu den Wurzeln dessen geraten, was auch die beste Seite des Christentums ausmacht: Humanität, Gnade.“
Gottesdiener ist ein auf Verklärung und Folklore verzichtendes Porträt eines bayerischen Landpfarrers und seiner Gemeinde. Natürlich geht es um priesterliche Lebens- und Liebesnöte, um die Frage, warum jemand Priester wird und warum er es bleibt. Aber dahinter wird der tiefgreifende Wandel christlicher Grundwerte ebenso sichtbar wie die Suche nach geistiger und sozialer Orientierung im Wertewandel unserer Gesellschaft. Der Priester, eine „Religionsmaschine im Zustand der Implosion“, verkörpert die Möglichkeiten und Grenzen der Religion in der Medienmoderne. Burkhard Spinnen zufolge liefert die Autorin in dieser „Studie über den Zustand der Resttranszendenz im christlichen Abendland“ auch einen „exzellenten Beitrag zur ansonsten oft etwas materialarm geführten Debatte über unsere innere Position gegen- über dem islamischen Fundamentalismus.“[18] Doch das Religiöse hebt die Romane Petra Morsbachs über ein weltimmanentes Erzählen hinaus. Was sie in ihre Dankesrede zum Empfang des Jean-Paul-Preises im Oktober 2013 in der Münchner Residenz über Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei sagte, eines der frühesten Dokumente des literarischen Atheismus, gilt auch für ihr eigenes Erzählen. Es belohnt mit Erkennen und Erlösung, aber ohne Anspruch auf restlose Aufklärung: „Geboten wird dem Leser Erlösung, obwohl nichts geklärt ist. Es ist Zauberei – eine lautere, nicht eine der Täuschung, weil sie keine Ungewißheit unterschlägt.“
Zu den lesenswerten Aspekten des Romans gehört der Humor. Der Held mit dem unsäglichen Namen Isidor Rattenhuber hat sich ein Privatprogramm an Lebensmaximen aufgebaut, die ihn in Krisensituationen ermutigen: „Satz eins: Das Heil liegt in der Erkenntnis. Satz zwei: Man muß sich anständig benehmen, auch wenn’s nichts nützt. Satz drei: Alles gleicht sich aus. Satz vier: Die erste Folge eines Fehlverhaltens ist Verdunkelung des Bewußtseins. Satz fünf: Gewohnheit ist stärker als Sexualität.“
Nicht ohne unfreiwillige Komik stößt der bilanzsüchtige Isidor, der es nicht lassen kann, „das ihn umgebende Leben ständig nach Wert und Würde abzufragen“ (G 38), auf die Grenzen dieses Programms. Etwa wenn er die „unergründlichen Eheannullierungsbestimmungen der heiligen römisch-katholischen Kirche“ missbraucht, um eine Mesalliance zwischen einem „alten Sack“ und einer „arglosen jungen Frau“ zu verhindern, und dies auch noch mit klammheimlicher Freude seinem Amtsbruder beichtet (G 184f.). In einer anderen Szene, die nicht weniger zur Überprüfung von Isidors Lebensmaximen einlädt, disputiert er mit einem atheistischen Physikerfreund über die Entstehung der Erde, lernt aber, dass sich dessen physikalisches Grundgesetz auf pure „erotische Beziehungen“ reduzieren lässt (G 278).
Ein heiterer Literaturbetriebsroman
Für den jüngsten Roman Dichterliebe (2013) hat sich Petra Morsbach abermals Zeit gelassen, Zeit für intensive und ausdauernde ethnologische Studien am Objekt. Es ist ein neues und diesmal ganz besonderes Milieu, dessen Licht- und Schattenseiten Petra Morsbach nur zu gut kennt: der Literaturbetrieb. Damit macht sie sozusagen die Probe aufs eigene Exempel. Was geschieht, wenn Dichter über sich selbst schreiben und das Milieu, in dem sie nicht nur mit missgünstigen Kritikern und unberechenbaren Lesern fertig werden müssen, sondern auch mit Geld- und Liebesnöten, mit Produktionskrisen und Einflussängsten aller Art? Petra Morsbach hat den Literaturbetriebsroman um eine ironische Note bereichert. Damit knüpft sie an das romantische Erbe des Künstlerromans an. Ironie schafft Distanz zu der geschäftlichen Seite der Kunst und reflektiert zugleich ihre ästhetische Seite. So rückt Petra Morsbach mit Liebe zu den Dichtern und mit der – oft eigenwilligen – Liebe der Dichter den Betriebsabhängigkeiten und Betriebsressentiments zu Leibe.
Diese „Dichterliebe“ führt ins Herz des Literaturbetriebs, dorthin, wo er – vielleicht – am schönsten ist: in eine „Stipendienstätte“ in Ostfriesland, mitten in einem brütenden Sommer. Dort sehen wir den aus dem Erzgebirge stammenden Dichter Heinrich Steiger ankommen, der sich jetzt Henry nennt. Er hat, lange ist’s her, einen mustergültigen Aufstieg in der DDR-Literatur hinter sich, als hochdekorierter Lyriker mit Reisekaderprivilegien. Doch nun, Jahre nach Mauerfall und deutscher Vereinigung, kämpft er mühsam mit dem Neuanfang. Von Frau und Kindern verlassen, von Alpträumen gequält, mit seinem „Irrtums-Schicksal“ hadernd, ein Alkoholiker, der hinter jedem Rock her ist. Aber mitleidlos mit sich selbst und deshalb alles andere als unsympathisch.
Was passiert mit einer solchen Existenz in der Künstlerenklave? Petra Morsbach inszeniert ein Porträt des Künstlers als gealterter Mann. Erfolg und Publikum bleiben aus. Henry bewegt sich zwischen Schreibtisch, Edeka und Faxbox. Außer ein paar mickrigen Lesungen, Gefälligkeiten von Kulturinstitutionen, die Überschüsse ausgeben müssen, und den Gesprächen mit den Mitstipendiaten fehlt ihm jede Öffentlichkeit. Lyrik ist nicht mehr gefragt. Der Verleger – Lektoren gibt es nicht mehr – hat ihm geraten, es mit einem Roman zu versuchen. Es springen ein paar „Provinzskizzen“ heraus, Nachdichtungen und Studien zu einem ehrgeizigen Projekt namens „Metamorphosen“.
Das ist natürlich ein sprechendes, ja rufendes Bild. Gewendet hat sich zum einen die Gesellschaft, die es anstelle des einstigen Protests im Osten nun auf Markterfolg ankommen lässt. Das Blatt wendet sich aber auch für Henry selbst. Gleich in der Eingangsszene, einer herrlichen Parodie auf den Kulturbetrieb, kommt eine nicht mehr ganz so junge, aber attraktive und aufgeweckte „Frau mit Sonnenbrille“ auf ihn zu, „Typ Westschnepfe“. So, meint der Erzähler, „stelle ich mir eine Zahnarztgattin auf Kulturtourismus vor“. Und verliebt sich sogleich in die Autorin, die alle Gedichte „poetisch“ findet, solche auch schreibt, aber „hübsch, ohne Entwicklung“ und sich an einem Opernroman versucht. Sie ist tatsächlich eine getrennt lebende Zahnarztgattin und heißt Sidonie Fellgiebel, was eine hintergründige Anspielung auf die böhmische Baronin Sidonie ist, die Lebensabschnittspartnerin, Muse und Adressatin des großen Satirikers Karl Kraus.
Petra Morsbach spielt virtuos mit alten und neuen Literaturbetriebsgeschichten. Sie flicht Verse bekannter und weniger bekannter Dichter in ihren Roman ein, Richtschnüre in Zeiten der Vielschreiberei. Dass der Roman in einem Online-Chat zwischen Henry und Sidonie ausläuft, die doch nur einen Katzensprung auseinander wohnen, ist die letzte in einer Reihe subtiler Pointen. „Dichterliebe“ durchleuchtet das sozusagen betriebsgesetzliche Dichterbild von Hochmut, Nervosität und Liebessehnsucht. Und entdeckt aufs neue die Wahrheit des Erzählens. So heiter wie in diesem Künstlerdrama ist das Petra Morsbach, ist das einem Autor bislang selten gelungen.
Auf der Suche nach dem „Muster des Lebens“
Der Zeit ein Zeugnis auszustellen, ist nicht das Hauptanliegen von Petra Morsbach. Als Künstlerin ist sie auf der Suche nach dem „Muster des Lebens“. Für ihre Untersuchungen sind insofern exemplarische Lebensläufe besonders interessant: „Da die Grundbedingung des Lebens seine Vergänglichkeit ist und die Existenz des Menschen eine zufällige und fragile individuelle Erfahrung, kann der Epiker das Leben nur in individuellen Abläufen schildern. Dieses sogenannte Schicksal mit seinen Rätseln und Fragen steht im Zentrum. Freilich ist die Untersuchung präziser, wenn auch der soziale und historische Hintergrund beleuchtet wird“.
Eben dies unternimmt sie in ihrem Essay Warum Fräulein Laura freundlich war. Über die Wahrheit des Erzählens. Er befasst sich mit den Erinnerungsbüchern von Alfred Andersch, Marcel Reich-Ranicki und Günter Grass und dem heiklen Verhältnis dieser Autoren zur Wahrheit. Eindringlich weist Morsbach nach, dass geistige Freiheit gute Romane im besten Sinne „ideologisch suspekt“ macht und dass vor allem Grass seine Freiheit gegenüber biographischem Stoff und Geschichte zugunsten der Ideologie (s)eines „grandiosen Ich“ aufzugeben droht. Dieser Nachweis wird brillant geführt an der Wurzel des Grass’schen Werkes, der Blechtrommel (1959), in der die historische Perspektive von Terror und Inhumanität der NS-Diktatur ebenso ausgeblendet wird wie die Gefühlsstruktur von Angst und Scham der Hauptfigur. Morsbachs Befunde lassen sich auch auf Grass’ Memoiren Beim Häuten der Zwiebel (2006) übertragen, die die Autorin, als sie im Frühjahr 2006 ihren Essay abschloss, noch nicht kennen konnte. Grass’ SS-Geständnis habe sie nicht im Geringsten überrascht, sagt sie:
„In der Blechtrommel wird eine Grunderfahrung des ‚Dritten Reichs‘ verleugnet. Die Haupttechniken der Nazis – Verführung, Manipulation und
Sadismus – kommen nicht vor, stattdessen macht ein unverführbarer, manipulativer und sadistischer Kobold ein paar braune Tölpel lächerlich. Es ist ein infantil-magischer Gegenzauber, als Traumaabwehr legitim, doch gewiss keine Bewältigung. Aufmerksame Leser müssten sich durch Grass‘ Geständnis nicht getäuscht fühlen.“
Vielleicht deshalb hat die Kritik den Essay kaum zur Kenntnis genommen. Dabei hätten die Rezensenten aus dem Buch vielleicht etwas lernen können. Morsbachs Stilkritik, die urteilt, ohne zu verurteilen, und nicht der Person, aber deren Programm gilt, schließt Selbstkritik ein und weiß die epische Tugend der Objektivität mit einer ästhetischer Sensibilität zu vereinen, die an musikalischen Ansprüchen geschult ist. Oberstes Gebot beim Schreiben ist für sie das Erkennen der Welt im literarischen Erzählen. Der einführende Essay des Fräulein Laura-Bandes fasst diese These in sechs Punkten zusammen:
„1. Sprache ist ein Erkenntnisinstrument.
2. Erzählen ist ein Erkenntnissystem.
3. Individuelles Erzählen ist ein Erkenntnisvorgang, auch wo uns das nicht bewußt ist.
4. Deshalb zeichnet die Sprache Leistungen und Fehlleistungen der Erzähler auf.
5. Deshalb können Leser auch aus Fehlleistungen Erkenntnisse über Autoren und deren Gegenstand gewinnen.
6. Deshalb können Schreibende auch aus eigenen Fehlleistungen Erkenntnisse über sich und ihren Gegenstand gewinnen.“
Klarer und knapper kann man es kaum sagen. Wie die russischen Erzähler, die sie sehr schätzt, recherchiert Petra Morsbach als ein „Positivist der Bescheidenheit“, schreibt sie als ein „Diener der bessernden Wahrheit“.
Autor: Michael Braun
Stand: 2016
Anmerkungen:
* Der Beitrag geht auf den Aufsatz mit gleichem Titel zurück, in: Erich Garhammer (Hrsg.): Literatur im Fluss. Brücken zwischen Poesie und Religion. Regensburg 2014, S. 134-144. (Aufgrund der besseren Lesbarkeit wurde hier auf der Webseite auf die Auflistung von Fußnoten verzichtet. Im Originalaufsatz sind diese jedoch enthalten.)
Ralf Rothmann
* 10. Mai 1953 in Schleswig
„Kultur humanisiert den Alltag“
Der 1953 in Schleswig geborene, heute in Berlin lebende Autor Ralf Rothmann hat ein ebenso breites wie gehaltvolles Oeuvre publiziert: sechs Romane, vier Prosabände, zwei Lyrikbände, ein Drama und einen Essayband.
Biographie und Werk
Ralf Rothmann wurde am 10.5.1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet in der Umgebung von Bochum und Oberhausen auf. Nach der Volksschule und einem kurzen Besuch der Handelsschule absolvierte er zunächst eine Lehre als Maurer, arbeitete dann als Fahrer, Koch, Drucker und als Krankenpfleger. Seit 1976 lebt er mit seiner Frau in Berlin-Friedrichshagen.
Das schmale biographische Datengerüst ist literarisches Programm. Wer etwas über Ralf Rothmann wissen will, muss seine Bücher lesen. Hier porträtiert sich der Autor so, wie er seine Erzähler auftreten lässt: als distanzierter Beobachter, der gleichwohl ein Herz für die Welt und die Menschen hat, die er beschreibt. Ralf Rothmann enthält sich tagespolitischer Stellungnahmen, er zieht sich häufig von der Öffentlichkeit zurück, ohne dabei den Nimbus des Außenseiters zu kultivieren oder als agent provocateur aufzutreten wie Handke oder Botho Strauß. Er nimmt nur soviel Anteil am Literaturbetrieb, wie es nötig ist. Den großen Erfolg seiner seltenen Lesungen und der öffentlichen Reden bezeugen z.B. seine Gastprofessur als „poet in residence“ an der Universität Essen (1999/2000) und seine Rede zur Verleihung des Max-Frisch-Preises in Zürich (2006).
Ein Schlüssel zum Verständnis der Werke Rothmanns ist seine Generationserfahrung. Geboren 1953, zählt er zu den Autoren, denen die „Gruppe 47“ zu politisch und die Popkultur der achtziger Jahre zu ästhetisch ist. Schreiben – und Lesen – ist für Rothmann die einzig gültige Form politischer Zeitgenossenschaft. Er hält an dem Vorsatz fest, durch Literatur die Menschen (angefangen beim Autor) verändern, ja verbessern zu können. Die Epochenschwelle 1968 ist in seinen Werken kein Protestsignal oder postmoderner Impuls, sondern ein Siegel für die Erinnerungen an einesteils beengenden, andererseits befreienden Erfahrungen, die er als Jugendlicher im Ruhrgebiet der späten sechziger und frühen siebziger Jahre gemacht hat. Das hat die Kritik an dem „Naturtalent“ Rothmann, der ohne akademisches Studium zum Schreiben kam, gleich erkannt und anerkannt – ebenso wie seinen erfolgreichen Versuch, einen eigenen literarischen Ton zu finden. Geholfen hat ihm dabei als Mentor und erster Lektor der Schriftsteller Christoph Meckel, der ihm die Adjektive aus den ersten Gedichten herausstrich.
Sie erschienen 1984 in dem Debütband „Kratzer“. Hier findet man die thematischen Hauptquellen seiner künftigen Werke: Autorität und Familie („die Kindheit, / eine Prügelstrafe“), Freiheitsverlangen und Verantwortung, Flucht aus vorgezeichneten Lebensläufen, Sozialmilieu und Arbeitswelt, Geschlechterrollen, Durchleuchtung der deutschen Zeitgeschichte, Sinnsuche und biblische Motive. 1986 und 1988 folgten die Erzählungen „Messers Schneide“ und „Der Windfisch“. Auch hier geht es um Ausbruchs- und Aufbruchsversuche junger Männer, um sanfte Revolutionen gegen Familie und Kirche, um unaufgearbeitete deutsche Vergangenheit, die ein Stück der eigenen Geschichte ist.
Die ersten Bücher fanden in der Literaturkritik ein achtbares Echo. Einem größeren Publikum wurde Rothmann mit seinem Roman „Stier“ von 1991 bekannt. Er eröffnet die „Ruhrgebiets-Trilogie“, die mit den Romanen „Wäldernacht“ (1994) und „Milch und Kohle“ (2000) fortgesetzt wird. Die Trilogie, die in der Gegend zwischen Oberhausen und Essen um 1970 spielt, ist von der Kritik als klassischer Entwicklungsroman in modernem Milieu und als bedeutende „sozialgeschichtliche Genealogie des Ruhrgebietes“ gewürdigt worden, „die drei Generationen, ihre Hoffnungen, Ängste und seelischen Deformationen in den Blick nimmt“ (Mangold in Berliner Morgenpost, 26.3.2000). Das Arbeitermilieu des „Kohlenpotts“, der als designierte europäische Kulturhauptstadt 2010 „nicht mehr Staub, sondern Zukunft atmet“ (Muschg) und heute als kulturelle Metropole Vorbild ist für urbane Regionen in Europa, dieses Ruhrgebiet beschreibt Rothmann – ganz ohne Nostalgie, mit Humor und Selbstironie – aus der Perspektive seiner und unserer Gegenwart. So gelangen die Schrebergartenwelten und Zechen des Ruhrgebiets ins kulturelle Gedächtnis der Gegenwart.
Berlin als europäische Metropole – wo Rothmann seit 30 Jahren lebt – ist das zweite Epizentrum von Rothmanns epischem Werk. Die Romane „Flieh, mein Freund“ (1998), „Hitze“ (2003) und „Junges Licht“ (2004) nehmen Rekurs auf die Erfahrungen von Migration und Interkulturalität, Arbeiterwelt und Intellektuellenszene im Berlin der Jahrtausendwende, gehen aber zugleich immer wieder zurück auf Kindheits- und Jugenderfahrungen. In diesem Sinne erzählen auch die Geschichten in den Prosabänden „Ein Winter unter Hirschen“ (2001) und „Rehe am Meer“ (2006) von Rothmanns Generation, die aus dem Westen Deutschlands stammt und in der europäischen Metropole Berlin nach einer neuen Identität sucht.
Was in der Literaturkritik als „Alleinstellungsmerkmal“ von Rothmanns Prosa hervorgehoben wird, ist die hohe Präzision und Authentizität seiner Sprache, mit der Milieu, Idiom, Szene, Charakter auf unvergleichliche Weise literarisch profiliert werden. Auch in anderen Hinsichten stellt Rothmann einen Sonderfall in der gegenwärtigen Literaturlandschaft dar: Wo alle über Simulation und virtuelle Welten reden und sich multimedial beschallen lassen, spricht er von authentischen Erfahrungen und plädiert für das „Erlebnis der Stille“, die „innere Freiheit“ erfahren lässt. Zudem haben Religionserfahrung und Gottesbilder einen zentralen Ort in der Prosa und Lyrik des „inbrünstig katholisch“ aufgewachsenen Rothmann (z.B. in dem Gedichtband „Gebet in Ruinen“ von 2000).
Auszeichnungen
Mit Preisen und Stipendien sind Rothmanns Werke bislang reichlich bedacht worden: Märkischer Kulturpreis (1986), Förderpreis des Bundesverbandes der Industrie (1989), Mara Cassens-Preis (1992), Stadtschreiber von Bergen (1992/93), Literaturpreis Ruhrgebiet (1996), Hermann-Lenz-Preis (2001), Kranichsteiner Literaturpreis (2002), Evangelischer Buchpreis (2003), Wilhelm-Raabe-Literaturpreis (2004), Rheingau Literatur Preis (2004), Heinrich-Böll-Preis (2005), Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich (2006), Erik-Reger-Preis (2007). Im März 2008 erhält Rothmann den mit 8.000 EURO dotierten Hans-Fallada-Preis der Stadt Neumünster.
Politische und literarische Bedeutung
Freiheit und Verantwortung: Rothmanns Werke verteidigen das Ringen um die Freiheit als ein Grundmenschenrecht und zeigen zugleich auf, dass sich diese Freiheit ohne soziale Integration und Verantwortung nicht realisieren lässt.
Literatur als Freiheit: Rothmann ist überzeugt davon, dass „Geist und Kultur von Belang sind in dieser Welt und Kultur den Alltag humanisiert“. Literatur hilft dem Menschen, der „müde von nutzlosem Wissen ist, gefangen im Realitätsprinzip“, seine Freiheit zum Selbstdenken zu stärken und die „Fragen an das Leben etwas genauer zu stellen“. Literatur ist somit ein „Freiraum für Träume, an dem man von Herzen ungestraft lügen kann und am Ende, wenn es gut geht, doch die Wahrheit gesagt hat“ (Frisch-Rede).
Rothmanns Prosa als andere Geschichte der 68er Zeit: Vierzig Jahre nach dem Epochenschnitt von 1968 bringen Rothmanns Romane über die heranwachsende Generation um 1970 im Ruhrgebiet eine alternative Protest-Geschichte ins kulturelle Gedächtnis der Gegenwart ein: eine Geschichte abseits von APO, Marcuse und Dutschke, eine Geschichte aus Industriemilieus, eine Geschichte der Befreiung durch Literatur, Musik, Religion auf der einen, Alkohol und Aggression auf der anderen Seite.
Rothmann als Geschichtsschreiber der ‚alten’ und ,neuen’ Bundesrepublik, der Archivist der zeitgenössischen Sozial- und Kulturgeschichte, der die soziale, ökonomische und ökologische Entwicklung des Ruhrgebiets und Berlins genau in den Blick nimmt.
Zusammengefasst: Ralf Rothmann hat alles, was ein Romanautor besitzen muss, auf unspektakuläre Weise: ein kompositorisches Talent, mit dem er große Stoffmassen bewältigt; eine Sprache mit Zugängen zur Poesie an Orten, wo sonst keiner Poetisches vermutet; ein ausgezeichnetes mimetisches Vergnügen an Dialog und Milieuschilderung; ein seismographisches Gedächtnis für die Erinnerungslandschaften der westdeutschen Industriestädte; eine Empathie für die Figuren dieser Welt; eine erstaunliche Neutralität, die dennoch das beteiligte Herz des Erzählers spüren lässt.
Autor: Michael Braun
Stand: 2008
Uwe Tellkamp
* 28. Oktober 1968 in Dresden
Die Freiheit des Erzählens
Der 1968 in Dresden geborene, heute mit seiner Familie in Freiburg i. B. lebende Autor Uwe Tellkamp hat bislang drei Romane vorgelegt und zählt zu den größten Hoffnungen der jüngeren deutschen Gegenwartsliteratur.
Biographie und Werke
Mit seinem Geburtsjahr gehört der aus einer Arztfamilie stammende Uwe Tellkamp zu jener Generation, die in die DDR „hineingeboren“ (Uwe Kolbe) wurde, ohne in seinen Jugend- und ersten Ausbildungsjahren eine Alternative zum herrschenden sozialistischen System erfahren zu haben. Die Ereignisse von Mauerfall und deutscher Einheit 1989/90 prägten ihn in einer entscheidenden Lebensphase. Er hatte die DDR von ihrer finstersten Seite kennengelernt, als er während seines Wehrdienstes als Panzerkommandant in der NVA wegen „politischer Diversantentätigkeit“ – er hatte Anfang Oktober 1989 den Befehl verweigert, gegen Demonstranten vorzugehen, unter denen er seinen Bruder wußte – in Haft gesetzt und ihm der Medizin-Studienplatz entzogen wurde. Nach der friedlichen Revolution holte er das Medizinstudium in Leipzig, New York, Dresden nach und arbeitete als Unfallchirurg in einer Münchner Klinik.
Im Jahr 2000 veröffentlichte der Leipziger Verlag Faber&Faber Tellkamps Debütroman Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café. Das Buch, ein Roman über die Region (der „Hecht“ heißt ein Dresdner Stadtviertel), blieb in der Kritik weitgehend unbeachtet. Inzwischen ist es vergriffen, und Tellkamp behauptet, es seien gerade einmal so viele Exemplare des Romans verkauft worden wie er Seiten hat: 163.
Das Manuskript für seinen zweiten Roman Der Eisvogel bot Tellkamp zwei Jahre lang vergeblich an. Erst der Herausgeber einer Leipziger Literaturzeitschrift vermittelte den Text dem Rowohlt-Verlag, wo der Roman 2005 erschien. Er behandelt den Prozess um eine rechtskonservative Terrorgruppe, den Generationenkonflikt, die Spannung zwischen Geld und Geist in einer globalisierten Gesellschaft und die Irrwege einer radikalisierten Jugendszene.
Einer größeren Öffentlichkeit wurde Tellkamp beim 28. Klagenfurter Wettbewerb 2004 bekannt, als er den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Die Jury überzeugte er in seltener Einhelligkeit mit einer Lesung aus seinem Romanprojekt „Der Schlaf in den Uhren“, einer Vorstufe des Romans Der Turm: Die vorgelesene Episode schildert eine rhapsodische Tramfahrt durch Dresden und zugleich durch die Vergangenheit der DDR. – Nach dem Klagenfurter Erfolg gab Tellkamp den Arztberuf auf, um sich fortan nur mehr dem Schreiben zu widmen.
Deutsche Geschichte im Gedichte
Als Lyriker war er Kennern schon länger ein Begriff. In der Dumont-Anthologie Lyrik von jetzt (2003) finden sich Teile eines großen epischen Weltgedichts (Arbeitstitel „Der Nautilus“), an dem Uwe Tellkamp seit geraumer Zeit arbeitet. In diesem homerischen Poem reist der Autor zu den „versunkenen städten und der versunkenen zeit“ der deutschen Geschichte. Im Zentrum des – zuletzt in der F.A.Z. vom 18.12.2008 (Reiseteil) teilveröffentlichten – Projekts steht ein großes Argonauten- und Raumschiff, das seine Passagiere an den Klippen der deutschen Geschichte vorbeisteuert. Als mythische Fracht werden auf dieser unendlichen Fahrt Stoffe wie die Kyffhäuser-Saga, romantische „wunderhorn-töne“ und historische Urszenen zwischen Alexanderschlacht und Stalingrad mitgeführt.
Das Nautische in Tellkamps Werk ist keineswegs nur eine poetische Imagination: In seinem selbst produzierten Filmporträt für den Klagenfurter Wettbewerb präsentierte er sich als Schiffsarzt. Das ist gelebte Familienhistorie: Die Tellkamps kamen ursprünglich aus Hamburg, waren Seeleute, Flusslotsen, Goldsucher und Kaufleute.
Würdigung des Romans „Der Turm“
Uwe Tellkamps fast tausend Seiten starker Roman Der Turm ist von der Kritik in seltener Einhelligkeit als „Werk der Superlative“ bezeichnet worden. Zum ersten Mal, heißt es in der Neuen Zürcher Zeitung, „hat sich ein deutscher Schriftsteller an einer geschichtsphilosophischen Deutung der ,friedlichen Revolution’ in der DDR versucht“ und die „historische Totalität des Epochenbruchs“ in einer „symbolischen, gleichnishaften Erzählweise“ dargestellt. In der Zeit wird der Roman als „abschließender Blick auf die DDR“, in der Stuttgarter Zeitung als „Epochenroman“, in der FAZ als Dresdenbuch, das „nicht mehr aus der Literaturgeschichte wegzudenken sein wird“, gewürdigt. Und die Süddeutsche Zeitung prophezeit, so „wie wir heute die Welt des Bürgers mit den Augen Thomas Manns sehen, werden spätere Generationen in Tellkamps Roman Erstarrung und Implosion der DDR nacherleben können.“
Welche Aspekte machen den Roman so herausragend?
Zunächst die enorme kompositorische Leistung, mit der Tellkamp in fast dreijähriger Arbeit diese ungeheure Stoffmasse bewältigt hat. Das Buch ist von großem epischen Zuschnitt und wie eine wagnereske Oper komponiert (mit Ouvertüre, Interludium und Abgesang). Die erzählte Zeit des Romans, die die letzten sieben Jahre der DDR umfasst, hat Tellkamp in zwei „Büchern“ angeordnet; das erste Buch, „Die pädagogische Provinz“, erzählt im Stil eines modernen Bildungsromans vom Entwicklungsweg eines Dresdner Bildungsbürgerkindes, das zweite Buch, „Die Schwerkraft“, von dessen Erfahrungen mit der Nationalen Volksarmee, mit der Arbeiterwelt und den Bürgerrechtsbewegungen der DDR.
DDR als literarischer Gedächtnisort
Der Turm ist, rechtzeitig zum 20. Gedenkjahr, ein politischer Roman über die östliche Vorgeschichte der deutschen Einigung. Tellkamp hat dabei Einsichten der kritischen Geschichtsschreibung vorweggenommen. In seinem Roman findet man in symbolischer Form viele der Gründe wieder, die für den Untergang der DDR namhaft gemacht wurden: ihren aufgeblähten Staats- und Staatssicherheitsapparat, die „Sozialkultur der organisierten Verantwortungslosigkeit“, einen drastischen Modernisierungsrückstand, eine selbstverschuldete Umweltkatastrophe und nicht zuletzt eine radikale Abschottung nach innen. Der Turm verwandelt den untergegangenen Staat in einen Roman, in die, so der Untertitel, „Geschichte aus einem versunkenen Land“: die DDR wird zum literarischen Gedächtnisort.
Der Turm ist ein singulärer Gesellschaftsroman der DDR, der die große europäische Romantradition (Balzac, Th. Mann) zeitnah mit einem bekannten deutschen Thema verbindet. Zudem beleuchtet er das in der Literatur vernachlässigte Milieu des Bildungsbürgertums, das in der politischen Ideologie des SED-Regimes nicht vorgesehen war: Enklaven einer besseren Gesellschaft inmitten des deklarierten „Arbeiter-und-Bauern-Staates“, die in einem noblen Dresdner Villenviertel auf den östlichen Elbhängen residieren und ihr Verständnis von Freiheit darauf beschränken, „klug zu werden über sich selbst“ (303) und „das Hilfreiche zu tun“ (863). Diese sozialistische Bohème, die ständig zwischen äußerer Anpassung und innerem Protest laviert, Politik durch Weltfremdheit ersetzt und Bildung zur Ersatzreligion macht, stellt Tellkamps Roman in hochdifferenzierter, kritischer Weise dar.
Der Turm ist ein nachmoderner Bildungsroman, der auf der einen Seite die Selbstgefährdung sozialer Eliten (z.B. durch Ausreise, Ausgrenzung oder Selbstmord), vor allem der Mediziner, auf der anderen Seite deren Bedeutung illustriert. Das zeigt sich an der Figur Christian, dessen Wunsch, sich selbst ganz nach seinen Anlagen und seinen Fähigkeiten auszubilden, von einem System verweigert wird, das allein bestimmt, was er wissen darf und wie er dieses Wissen zu interpretieren hat. Der Roman inszeniert die Pädagogik einer „vaterstarken Gesellschaft“, der es darum geht, Anpassung zu honorieren, Kritik zu unterdrücken und Protest abzustrafen. Gemäß der klassischen Definition, dass ein Bildungsroman Bildung „zugleich darstellen und ertheilen“ soll, bildet Tellkamps Roman auch seine Leser. Sie können an Christians Entwicklungsweg symptomatisch den Untergang der DDR ablesen.
Religiöse Dimension des „Turms“
Der Turm hat eine religiöse Wertedimension, die der Kritik entgangen ist. Er erinnert an das biblische Bild vom Turmbau, das in der Literatur aus der DDR von Johannes R. Bechers Gedicht „Turm von Babel“ bis zu den Werken von Hermlin und Heym eine wichtige Rolle spielt. Auch Tellkamps „Turm“ fällt am Ende in sich zusammen. Die „Turmgesellschaft“ erweist sich als kulturelle Ersatzreligion, die sich als die bessere Politik missversteht. Auf diese Weise bewegt sich Tellkamps Roman nicht nur in der historischen Horizontalen der DDR-Geschichte. Er richtet seinen Blick auch in die religiöse Vertikale, indem er seine Figuren auf die Suche nach Sinn und Orientierung in einer untergangsgeweihten Ära schickt.
Schließlich ist Der Turm auch ein Dresden-Roman. Er erinnert an Blüte und Verfall der kulturellen Tradition der Stadt und beschreibt ihre Topographie in einer auf Schritt und Tritt nacherlebbaren Genauigkeit. Zugleich verfremdet er – durch magisch-märchenhafte Motive – das vertraute Dresden-Bild und fordert dadurch zu einer kritisch-zeitgemäßen Korrektur der Dresden- und DDR-Nostalgie auf.
Auszeichnungen
Nach dem Sächsischen Staatsstipendium für Literatur (2002) dem Meraner Lyrikpreis (2002), dem Förderpreis zum Christine-Lavant-Lyrikpreis (2003), dem Dresdner Lyrikpreis (2004) und dem Ingeborg-Bachmann-Preis ist Uwe Tellkamp für den „Turm“ im Jahr 2008 gleich zweimal ausgezeichnet worden: einmal mit dem Deutschen Buchpreis, der als öffentlicher Branchen- und Wettbewerbspreis im Unterschied zu klassischen Literaturpreisen nicht in einer Feierstunde mit Laudatio und Dankrede überreicht wird, und mit dem Uwe Johnson-Literaturpreis, zu dem KAS-Vorsitzender Prof. Dr. Bernhard Vogel die Laudatio hielt.
Politische und literarische Bedeutung
Uwe Tellkamps Der Turm hat als Gesellschafts-, Bildungs- und Zeitroman eine herausragende politische Bedeutung zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Es ist ein Zeugnis der literarischen Erinnerungskultur, das Geschichte und Fiktion verbindet und aufhebt, was nicht vergessen werden darf vom letzten Jahrzehnt der DDR. Zugleich ist es ein Dokument der Freiheit und Würde des Individuums gegen die Vereinnahmungsversuche einer Erziehungsdiktatur.
Autor: Michael Braun
Stand: 2009
Cees Nooteboom
* 31. Juli 1933 in Den Haag
Das europäische Ideal der Freiheit
Der am 31.7.1933 in Den Haag geborene, heute in Amsterdam und auf Menorca lebende Autor Cees Nooteboom (getauft auf den Namen Cornelis Johannes Jacobus Maria) hat bislang mehrere Romane, zahlreiche Erzählungen (zuletzt in: Nachts kommen die Füchse, 2009), eine umfangreiche Essayistik, ein die fünf Erdteile berücksichtigendes reiseliterarisches Werk sowie mehrere Gedichtbände und (mit seiner Frau, der Fotografin Simone Sassen) Bildbände vorgelegt. Zum 75. Geburtstag 2008 erschien im Suhrkamp Verlag eine neunbändige Ausgabe der Gesammelten Werke. Nootebooms Bücher sind in mehr als 15 Sprachen übersetzt und liegen seit 1958 dem deutschen Publikum in Übersetzungen vor. In den Niederlanden gilt er als einer der bekanntesten und renommiertesten Autoren, in Europa und darüber hinaus ist er ein sehr angesehener Schriftsteller.
Erstaunlicherweise hat Nooteboom bislang nicht viele – dafür aber namhafte – Preise erhalten: 2009 den Prijs der Nederlandse Letteren (wichtigster Literaturpreis des niederländischen Sprachraums), 2004 den P.C. Hooft-Preis, 2003 den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur und den Hansischen Goethe-Preis der Alfred-Töpfer-Stiftung, 2001 den Aachener Medienpreis „Médaille Charlemagne“, 2000 den Internationalen Compostella-Preis, 1993 den Literaturpreis zum 3. Oktober und den Europäischen Literaturpreis „Aristeion“, 1992 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Bereits 1957 erhielt er den Anne-Frank-Preis. Er ist Ehrendoktor der FU Berlin (2008) und der Katholischen Universität Brüssel (1998) sowie Mitglied der Berliner Akademie der Künste (seit 1993) und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (seit 1996).
Biographie und Werke
Nooteboom wuchs als „Kriegskind“ auf. Sein Vater kam, als die Familie evakuiert war, durch Bombardements der Engländer ums Leben. Nooteboom ist geprägt von katholischer Erziehung (in den Kloster-Internaten Eindhoven und Venray) und christlichem Wertehintergrund, z.B. in dem Roman Rituale, der zuerst in einem DDR-Verlag (1984) und ein Jahr später in der Bundesrepublik erschien (1985), 1989 auch verfilmt wurde, sowie in dem Berlin-Epos Allerseelen (1999). 2009 wurde Cees Nooteboom als Mitglied einer niederländischen Delegation vom Papst empfangen.
Nach seinem Debüt 1955 mit dem Roman Philip en de anderen (deutsch 1958: Das Paradies ist nebenan) – einem „kleinen Welterfolg“ (Frankfurter Rundschau, 31.7.08), der ihn in den Niederlanden gleichsam über Nacht bekannt machte – hat Nooteboom vor allem Reiseberichte geschrieben, um seinen Unterhalt zu sichern, dann erst 1980 wieder fiktionale Prosa. Ein großer Erfolg wurde 1991 die Erzählung Die folgende Geschichte.
Im Mittelpunkt seiner Werke stehen Menschen, die Orientierung angesichts Wertepluralismus und Globalisierung suchen und dabei von alltäglichen Erfahrungen (Liebe, Reisen, kulturelle Konflikte und Begegnungen) immer wieder auf die letzten Dinge (Alter, Tod und Leben) ausgreifen. Als einer der ersten Schriftsteller seiner Generation hat sich Nooteboom mit der strukturellen Veränderung Europas, seiner Vielfalt und seiner Einheit beschäftigt. Er fordert ein Bewusstsein zur kulturellen Tradition und ein Bekenntnis zur europäischen Erinnerung: einen „klaren Blick auf die Vergangenheit“, um zu erkennen, was „verschwunden ist und noch immer verschwindet“ (Die Zeit, 21.1.2010).
Nootebooms Schreiben folgt einer „Methode des gesteigerten Schauens“, die hinter Alltagsbetrachtungen kulturelle Traditionen, hinter unscheinbaren Ritualen metaphysische Fragen entdeckt; er sucht wie er sagt „das Leben hinter der ersten, der sichtbaren Wirklichkeit“. Er ist ein „Meister der sparsam illustrierten und suggestiven Szene“ (Die Zeit, 26.3.2009). „Inszenierte Biographie“ (Alexander von Bormann) und Zeitgeschichte, historische Bilder und literarische Geschichten, Phantasie und Realistik gehören in seinen Werken zusammen.
Würdigung
Eine Reihe von Literaturpreisträgern der Konrad-Adenauer-Stiftung stammt aus Ost- und Ostmitteleuropa (Louis Begley, die Nobelpreisträgerin 2009 Herta Müller, Adam Zagajewski) oder aus der ehemaligen DDR (Günter de Bruyn, Wulf Kirsten, Uwe Tellkamp). Mit Cees Nooteboom ist nun erstmals ein Autor eines westeuropäischen Nachbarlandes Literaturpreisträger der Stiftung. Er gibt – nach der Innenansicht auf 20 Jahre deutsche Einheit in Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ (2008) – die Außensicht eines westeuropäischen Nachbarn auf Deutschland wieder.
Nootebooms Nähe zu Deutschland zeigt sich in seinen literarischen Berichten von Berlin ausgehend. Dabei analysiert und reflektiert er die geteilte Stadt ebenso wie die Teilung des Landes. So war er anteilnehmender Augenzeuge der friedlichen Revolution in Deutschland und der Wiedervereinigung. Er hat die Stadt 1989, 1999 und 2008 besucht. Sein Band Berlin 1989/2009 ist persönliche Chronik und historischer Kommentar der einst geteilten, jetzt wiedervereinigten Stadt. Berlin ist nach eigenen Worten „Teil seines Lebens“ (SZ, 6.11.09).
Sein Essay Wie wird man Europäer? (1993) ist der Kern seines auf Versöhnung und Verständigung angelegten literarischen Werkes über den Prozess der europäischen Einigung. Europa, so die These Nootebooms, soll weniger gedacht als vielmehr erfahren und beschrieben werden. Darüber hinaus tritt er für den Dialog der Religionen ein (vgl. seinen Aufsatz „Auge in Auge mit dem Islam“, in: Zeit, 7.10.2004). Seine gesamte Beschäftigung mit dem Ostblock (vom Ungarn-Aufstand 1956 bis zum Mauerfall 1989) zeugt von einer dezidiert antitotalitären, antikommunistischen Grundhaltung.
Politische und literarische Bedeutung
Cees Nooteboom ist ein esprit- und ironievoller, gestalterisch vielfältiger Schriftsteller von internationalem Rang. Als Reiseerzähler „liest“ er fremde Sprach- und Kulturräume, vergleichbar einem „Pilger auf dem Weg in ein fernes Land“ (NZZ, 29.12.2007). Rüdiger Safranski, mit dem ihn eine über 40jährige Freundschaft verbindet, würdigt ihn als einen „politisch wachen Zeitgenossen“ und als „philosophierenden Poeten“. Als neugieriger Wanderer zwischen den Welten baut Nooteboom, ohne sich von Ideologien blenden zu lassen, Verständigungsbrücken zwischen den Kulturen. Er verfolgt als Augenzeuge den „Fluss der Demokratie“ und sorgt sich um das Fortwirken der reichen Tradition der europäischen Kultur. Er verteidigt das „Ideal der Freiheit gegenüber der demaskierten Lüge“ (Die Zeit, 20.11.2008).
Autor: Michael Braun
Stand: 2010
Arno Geiger
* 22. Juli 1968 in Bregenz
„Der Glückssucher“
Der 1968 in Bregenz geborene, in Wolfurt/Vorarlberg aufgewachsene Arno Geiger hat bislang ein Drama, fünf Romane, einen Band mit Erzählungen sowie jüngst das autobiographische Buch Der alte König in seinem Exil publiziert, das mit außergewöhnlich positivem Echo aufgenommen, für den Leipziger Buchpreis 2011 nominiert wurde und in der Spiegel-Bestsellerliste vom 21.3.11 auf dem zweiten Platz stand. In der deutschen Literaturwelt genießt der Autor seit seiner Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis (2005) ein hohes Ansehen. Am 18. September 2011 wird Arno Geiger in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hält die Berliner Literaturkritikerin Dr. Meike Feßmann (Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2006).
1994 wurde Geiger mit einem Nachwuchsstipendium des österreichischen Bundesministeriums für Kunst ausgezeichnet, 1998 mit dem Abraham Woursell-Award für junge europäische Literatur (ein amerikanisches Stipendium) und einem Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin. 1999 erhielt er das Literaturstipendium des Landes Vorarlberg, 2001 den Carl-Mayer-Drehbuch-Förderpreis, 2005 den Förderpreis zum Friedrich-Hölderlin-Preis, 2008 den Hebel-Preis des Landes Baden-Württemberg, 2010 den Literaturpreis der Vorarlberger Buch- und Medienwirtschaft, 2011 den Hölderlin-Preis.
Biographie und Werke
1993 schloss Geiger, der als eines von vier Kindern eines Gemeindesekretärs und einer Grundschullehrerin groß wurde, sein Studium der Deutschen Philologie, Alten Geschichte und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien und Innsbruck ab. Von 1986 bis 2002 arbeitete er als Videotechniker bei den Bregenzer Festspielen.
Sein literarisches Debüt feierte er 1996 beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Im gleichen Jahr erschien seine Erzählung „Das Kürbisfeld“ in der österreichischen Zeitschrift manuskripte. 1997 wurde sein erster Roman beim Hanser Verlag publiziert: Kleine Schule des Karussellfahrens, der vielgelobte Roman über einen Taugenichts, der zwischen der Enttäuschung über das Revolutionsjahr 1989 und der träumerischen Erinnerung an die Französische Revolution 1789 schwankt. Auch im zweiten Roman Irrlichterloh (1999), einer modernen road novel, steht eine Taugenichtsfigur im Mittelpunkt. Die Kritik hat den ersten beiden Romanen „hohes Tempo“ und Dialogwitz bescheinigt. Das Drama Alles auf Band oder Die Elfenkinder (Deuticke Verlag, 2001), das Geiger gemeinsam mit Heiner Link als Hörspiel konzipierte, fand hingegen wenig öffentliche Resonanz.
Gut bei der Kritik kam der dritte Roman Schöne Freunde (2002) an. Er handelt von einem Grubenunglück und dem Aufbruch der Überlebenden in eine unbekannte Welt. Erzählprinzip dieser Romane ist: Statt einer einsträngigen Handlung dominiert die Montage anekdotischer und lakonischer, heiterer oder tragischer Minigeschichten mit überraschenden Wendungen und Entdeckungen. „Schreiben ist für mich immer Entdecken“, sagt Geiger.
Dieses Prinzip dominiert in dem Band mit Erzählungen Anna nicht vergessen. Er erschien 2007 und wurde 2009 als dtv-Taschenbuch ein Bestseller. Hier beweist Geiger sein Talent für fabulierfreudige Versuchsanordnungen von familiären Konstellationen. Die Kritik attestierte ihm dabei „Experimentierfreude, Konsequenz, Empathie“ (NZZ). Die Titelgeschichte handelt von einer Frau, die „im Auftrag von Frauen deren Ehemänner auf die Probe stellt, ob sie für amouröse Abstecher zu haben sind“, aber an der Angst ihrer Tochter leidet, „aus dem Gedächtnis ihrer Mutter zu verschwinden“.
Der Durchbruch gelang Geiger 2005 mit dem buchpreisgekürten Roman Es geht uns gut, der über 400.000 Mal verkauft und in 20 Sprachen übersetzt wurde. Das Buch gehört zu den bedeutenden Erinnerungs- und Familienromanen der Gegenwart. Es erzählt, wie Politik in den Alltag von drei Generationen im Österreich des 20. Jahrhunderts hineinragt und wie die Vergangenheit in der Gegenwart nachwirkt; die erzählte Zeitspanne reicht von 1938 bis 2001. Besonders hervorgehoben wurden in der Kritik das Thema Erinnerung und Gedächtnis, die Sprachkraft, die Dialogkunst und – in der internationalen Kritik – der gelungene Anschluss an die große österreichische Romantradition von Broch bis Menasse (Le Monde).
Der fünfte Roman Alles über Sally (2010) ist ein „Abenteuerroman über die Ehe“ mit happy ending (Meike Feßmann), ein „psychologisches Kabinettstück“ (FAZ) über die Erzählbarkeit der Ehe und über Liebe als aktive Erinnerungarbeit. (Das Kairo-Kapitel des Romans hat im Frühjahr 2011 eine unerwartete Aktualität im interkulturellen Dialog gewonnen).
Arno Geigers jüngstes Buch Der alte König in seinem Exil (2011) wurde in der Kritik hochgelobt. Das Buch ist vieles zugleich: Autobiographie, Familiengeschichte, Vatererzählung, Dorfchronik und vor allem stark familiär gefärbte Krankheitsgeschichte der Alzheimer-Demenz. Es geht um Geigers 1926 geborenen Vater, bei dem sich 1995 erste Anzeichen der Krankheit zeigten. Als der Vater vorübergehend in ein Pflegeheim musste, begann der Sohn mit dem Schreiben über den Vater und der Aufarbeitung von dessen Lebensgeschichte.
Geigers Buch behandelt das Thema Altern und Demenz auf eine neuartige Weise: nicht diagnostisch wie Jonathan Franzen (Das Gehirn meines Vaters, Die Korrekturen, 2002), nicht als Abrechnung wie Tilman Jens (Demenz: Abschied von meinem Vater, 2009), nicht in der Verpackung einer Fiktion (wie in Martin Suters Roman Small World, 1997), sondern mit Empathie, in einer demütigen Haltung gegenüber der Krankheit, die das Familienleben grundlegend verändert.
Bedeutend ist das König-Buch (das Titelzitat stammt aus Virginia Woolfs To the Lighthouse, 1927) aus mehreren Gründen:
- es fokussiert das Thema Altern und Gesellschaft (im Jahr 2025 wird sich hierzulande der Anteil der über Achtzigjährigen auf 12 Prozent der Gesamtbevölkerung vervierfacht haben);
- es bezeugt die Menschenwürde dementer Menschen;
- es betont ganz ohne Nostalgie und ohne jede Polemik den Zusammenhang von Erinnerung und Heimat;
- es zeichnet eine exemplarische autobiographische Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts nach und vor allem das Schicksal der Schülersoldatengeneration, zu der sein Vater gehört;
- es zeugt von großer Sprach- und Dialogkunst, von Präzision der Beobachtung und moralischer Größe.
Würdigung
Geigers Werke, besonders Es geht uns gut, Anna nicht vergessen, Alles über Sally, Der alte König in seinem Exil, sind – so die Begründung der Jury – Zeitromane von hoher gesellschaftspolitischer Relevanz. In ihren Themen kann sich unsere Gesellschaft in der technisch-globalen Moderne erkennen: Es geht um die Freiheit des Willens, um Menschenwürde, um Sprache und Persönlichkeit, um den Umgang mit Krankheit und Altern, um interkulturelle Erfahrungen.
Zugleich zeugen diese Werke von einer Ethik der familialen und sozialen Verantwortung, die sich bewährt, wenn der Charakter stärker wird als die Intelligenz, das Verstehen wichtiger wird als das Wissen. So schreibt Geiger mutige Charakterbücher, die den Leser nach dem Sinn des eigenen Lebens und Alterns fragen lassen.
Arno Geigers Erinnerungsromane plädieren für ein kommunikatives Gedächtnis, das die Generationen nicht trennt, sondern zusammenführt und zusammenhält.
Arno Geiger schreibt fern von Epigonentum, mit genuiner sprachästhetischer Gestaltungskraft „über die grundlegenden Dinge, die uns getrieben haben, die Menschen zu werden, die wir sind.“
Autor: Michael Braun
Stand: 2011
Tuvia Rübner
* 30. Januar 1924 in Bratislava
† 29. Juli 2019 bei Afula
Zeitzeuge mit der Kraft zur Verständigung
Tuvia Rübner, der sich in seinem Gedicht „Wer hält diese Eile aus“ (2007) als „ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts“ bezeichnet, wurde am 30. Januar 1924 in Pressburg (Bratislava) in eine deutschsprachige bürgerliche Familie „des gehobenen Mittelstands“ hineingeboren; den hebräischen Namen seines Großvaters erhielt er zu seinen beiden deutschen Namen Kurt Erich hinzu. Sein 1885 in Losoncz geborener Vater Moritz Manfred Rübner war administrativer Leiter der Pressburger Filiale einer internationalen Speditionsgesellschaft und wurde auf „sein eigenes Verlangen“ entlassen, als die Gesellschaft in den Besitz der Deutschen Reichsbahn übernommen worden war. Seine Mutter Alica Grünwald (geb. 1899) stammt aus dem nordwestslowakischen Šaštín.
Von Pressburg nach Merchavia
Nachdem die jüdischen Schüler in Pressburg das Deutsche Staatsrealgymnasium und das slowakische Gymnasium nicht mehr besuchen durften, fand Tuvia Rübner Anstellung in einem Betrieb, in dem sich junge Juden auf die Auswanderung vorbereiteten. Mit einer kleinen Gruppe von Freunden aus dem zionistischen Jugendbund „Haschomer Hatzair“ gelangte er im Mai 1941 aus der Slowakei über Budapest in das damalige Palästina, in den Kibbuz „Merchavia“ (der Name bedeutet, nach einem Psalm, „Gottes Weite“). Dieser 1911 nach dem Plan des deutschjüdischen Soziologen Oppenheim als Genossenschaftssiedlung gegründete Kibbuz war der erste Kibbuz im Emek Jezreel. Hier blieb und arbeitete Rübner 12 Jahre, zunächst als Schafhirte. Hier lebte zeitweise auch Golda Meir, die spätere Premierministerin Israels.
Aus dem Kibbuz korrespondierte Tuvia Rübner mit seinen Eltern im „Feindesland Slowakei“ über den Postverkehr des Roten Kreuzes, der beschränkt war auf einen Brief alle zwei Monate mit jeweils 25 Wörtern und nur persönlichen Nachrichten. Am 12. Juni 1942 wurden Tuvia Rübners Eltern und seine damals dreizehnjährige Schwester Alice nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Die letzte Nachricht von ihnen war ein über das internationale Rote Kreuz aufgegebenes Telegramm vom Juli 1942: „sind ausgesiedelt nach Generalgouvernement ehemaliges Polen. Neues Domizil erfahret durch Jüdische Soziale Selbsthilfe Krakau, Postfach Nr. 211“. (zit. in Ulrike Kolb: Dichten müssen. Zum 80. Geburtstag des israelischen Lyrikers, Übersetzers, Literaturwissenschaftlers und Fotografen Tuvia Rübner. In: Frankfurter Rundschau, 30.1.2004).
Im Kibbuz wurde Rübner mit dem Neuhebräischen vertraut, seiner zweiten Muttersprache. Hier lernte er den aus der Bukowina stammenden Dichter Dan Pagis (1930-1986) kennen, den er später aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzte. Auf dem Rückweg von Tel Aviv in den Kibbuz ereignete sich im Februar 1950 ein schweres Busunglück, bei dem Rübners Frau, die er 1944 geheiratet hatte, starb; er selbst überlebte, schwerverletzt, mit seiner 1949 geborenen Tochter.
Im Kibbuz wurde Rübner Bibliothekar und Literaturlehrer an einer Mittelschule. Später arbeitete er als Professor für hebräische und deutsche Literatur an der Universität Haifa. 1953 heiratete er die Konzertpianistin Galila Jisreeli, deren Eltern aus russisch-jüdischen Familien stammen. Aus dieser Ehe sind zwei Söhne hervorgegangen, einer ist 1983 in Ecuador verschollen, der andere wurde Buddhist und lebt in Nepal.
Von 1963 bis 1967 war Rübner Abgesandter der Jewish Agency in Zürich. Er hörte Vorlesungen bei den Germanisten Emil Staiger und Wolfgang Binder. Mit Friedrich Dürrenmatt verband ihn eine Freundschaft. Er veranlasste 1974 die historische Einladung des Schweizer Dramatikers nach Haifa, aus der Dürrenmatts Israel-Essay „Zusammenhänge“ hervorging.
Nach Ausstellungen seiner fotografischen Arbeiten in der Schweiz, Frankreich, Italien und Israel sind vielbeachtete Fotobände von ihm in Israel erschienen. Rübners Fotografien aus dem Kibbuz-Leben gehören – so schreibt Hans Otto Horch im Nachwort zu Rübners Gedichtband „Granatapfel“ (1995) – zu den „eindrucksvollsten Zeugnissen dokumentarischer Fotokunst aus Israel“.
Brückenbauer zwischen dem Deutschen und Hebräischen
Bis 1954 schrieb Rübner deutsche Gedichte: „Ich schrieb in einer Sprache, die ich kaum mehr sprach. Sie war mein Zuhause. In ihr ,sprach’ ich weiter mit meinen Eltern, mit meiner Schwester, mit den Großeltern, den Verwandten, Freunden der Jugend, die alle kein Grab besitzen. Dann wollte ich nicht mehr in meinem, wie ich meinte, eigentlichen Leben, in den Gedichten, in der Vergangenheit sein, auch wenn sie unvergangen war. Nicht um sie zu bewältigen …, sondern mit ihr: zu leben .... Hebräisch ist nicht selbstverständlich für mich.“ Dann wechselte er ins (Neu)Hebräische, eine „erlernte Sprache“, in der bis 1990 acht Gedichtbände erschienen. 1990 kam im Piper Verlag eine Auswahl von Rübners Gedichten in deutscher Übersetzung von Efrat Gal-Ed und Christoph Meckel heraus, unter dem Titel „Wüstenginster“. Sechs deutschsprachige Gedichtbände von Tuvia Rübner hat seit 1990 der Aachener Rimbaud Verlag publiziert.
Rübners Bücher gelten als „großes Werk der hebräischen Moderne“ (so Karin Lorenz-Lindemann in der Zürcher Zeitschrift „Orientierung“, 15.11.2008). Sein lyrisches Werk gehört zum Bestand der klassischen Exilmoderne. Kennzeichnend für seine Gedichte sind traditionelle Formen wie die Ode, Paraphrasen, paradoxe Gleichnisse und Kontrafakturen. Oft wandelt er klassische Motive um, so das Mondmotiv aus Matthias Claudius’ „Abendlied“, das in Rübners gleichnamigem Gedicht aus dem Jahr 1997 (in dem Band „Rauchvögel“, 1998) in ein Schreckensmotiv der Holocaust-Lyrik konvertiert wird. Claudius’ Abendphantasie weicht in Rübners Gedicht dem täglich erinnerten Trauma. Die Farbe Grau ersetzt das Grün, die Sterne leuchten nurmehr Flüchtlingslandschaften aus. In dem themenverwandten Gedicht „Die goldenen Sterne“ (in dem Band „Wer hält diese Eile aus“, 2007) wird Claudius’ Wort „prangen“ auf „bangen“ gereimt. Vielfach schöpft Rübner Bilder aus der Bibel, der rabbinischen Tradition, der jüdischen Kultur und dem Holocaust-Gedächtnis. Seine leitenden Themen sind „Sehnsucht und Sprache und Nacht der Toten“, Erinnerung und Abwehr des Vergessens, Heimat und Eigentumslosigkeit, Figuren der Hoffnung – und immer wieder das Problem der Zeit. Rübners Sprache ist schlicht, direkt, erinnerungsbewusst. Reim und Metrum sorgen für „Wohlklang und Ordnung“. Der Kern von Rübners Poetik ist „die Frage nach dem Zusammenhang von Moral und dichterischem Handwerk“ (Harald Hartung).
Tuvia Rübners Autobiographie „Ein langes kurzes Leben“ (2004) ist das fragmentarisch erzählte, eindringliche Lebenszeugnis eines deutschsprachigen Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung und Juden in Israel, in dem politische Gegenwartsbezüge nicht fehlen.
Dem deutschen Publikum ist Rübner bislang noch nicht so bekannt, wie es sein Werk verdient. Nach Auskunft des Leiters der Jerusalemer Repräsentanz der Konrad-Adenauer-Stiftung, Michael Mertes, tritt Tuvia Rübner in Israel bei politischen Kontroversen nicht öffentlich in Erscheinung. In seiner Autobiographie übt Tuvia Rübner Kritik an der „falschen Politik (beiderseits)“, an Terror und Heuchelei, an „Grausamkeit und Überheblichkeit“ und einem von „zu viel Schmerz und Trauer und Haß“ belasteten Dialog mit den arabischen Nachbarn. „Wann werden“, fragt Tuvia Rübner, „die Weltklugen erkennen, dass die Schwäche der Palästinenser ihre Stärke ist und die Stärke Israels seine Schwäche?“
1988 wurde Rübner als korrespondierendes Mitglied in die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Celan-Preis (1999), der österreichische Theodor-Kramer-Preis und der Israel-Preis (2008), die höchste Auszeichnung des Landes.
Kraft zu Verständigung
Rübner ist eine bedeutende moralische Zeugenstimme mit der Kraft zu „Anrede und Verständigung“ (Thomas Sparr). Sein Schreiben nach Auschwitz steht im Zeichen der Wahrhaftigkeit des Sprechens: „Worum es mir geht, dass Auschwitz einen neuen Menschen geschaffen hat, ich sage nicht Deutschen, sondern Menschen, nämlich den Menschen, der, will er Mensch sein, maßlos vor sich erschrickt, da er dank Auschwitz zu der Erkenntnis gekommen ist, wozu allem er als Mensch fähig ist“ (so heißt es in „Ein langes kurzes Leben. Von Pressburg nach Merchavia“).
Rübner ist ein verdienstvoller Vermittler zwischen den Kulturen und Sprachen. Er schreibt Gedichte auf Ivrit (Neuhebräisch), übersetzt sie dann ins Deutsche, und umgekehrt. Dadurch bewahren die Gedichte einen Ausdruck von Ferne und Fremde. Die Maxime seiner Übersetzungsarbeit ist es nicht, „das Fremde einzudeutschen, sondern das Deutsch umzufremden, da sonst des Menschen Ton, Meinung, Herzschlag nicht hörbar werden“, und „damit der Sprachkörper der Zielsprache aufgerüttelt wird, nicht allein lexikalisch“. Übersetzen meint im Sinne von Karl Kraus das ,Einverstandensein’ von zwei Gedanken in einer neuen Sprachform. In diesem Sinne hat Rübner unter anderem Goethe und Kafka aus dem Deutschen ins Hebräische übersetzt. Den letzten Roman des israelischen Nobelpreisträgers Samuel Agnon (1888-1970), „Schira“, hat er erstmalig aus dem Hebräischen ins Deutsche übertragen – der Liebes- und Gesellschaftsroman spielt im Jerusalem der 1930er Jahre und ist 1998 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erschienen – und einem größeren Publikum bekannt gemacht. In diesem interkulturellen Brückenbau liegt die große Stärke seines Werkes.
Vor allem aber spricht Tuvia Rübner als ein jüdischer Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts, der eine Sprache für sein Überleben findet und für die Erinnerung an die Shoah. „Ich bin da um zu sagen“, statuiert das Gedicht „Zeugnis“ (in „Rauchvögel“, 1998), und das „Abendlied“ endet mit dem Vers: „Schweigen ist nicht genug“. Gegen die „Schweigesprache“ (Alexander von Bormann) wird das unentwegte Bezeugen der Verluste und Zerstörungen, wird die eindringliche Warnung vor einem „Antisemitismus nach der Shoah“, wird die Hoffnung auf einen hassfreien und friedfertigen Dialog der Kulturen gesetzt. Im Blick auf den 70. Jahrestag der Wannsee-Konferenz, und auch angesichts der Neonazi-Szene in Deutschland und der Anschläge gegen Muslime, will und muss diese Stimme gehört werden.
Autor: Michael Braun
Stand: 2012
Martin Mosebach
* 31. Juli 1951 in Frankfurt am Main
Romane der bürgerlichen Gesellschaft
Einer Anekdote zufolge wettete der Berliner Verleger Wolf Jobst Siedler einmal mit dem Historiker Joachim Fest um fünf Euro, dass sie auf dem Kurfürstendamm zur Mittagsstunde keinen Mann mit Krawatte sehen würden. Siedler gewann die Wette – und Fest hatte eine starke These: Das alte Bürgertum existiere nicht mehr. Jedenfalls nicht in Berlin.
Offenbar aber doch! Zumindest in Frankfurt am Main: Der dort 1951 geborene Martin Mosebach, der sich als Autor von mittlerweile neun Romanen, reiseliterarischen Werken, Prosa- und Essaybänden einen Namen gemacht und auch Lyrik, Libretti und Hörspiele geschrieben hat, gilt seit längerem als die berühmte Ausnahme von dieser Regel. Die Kritik spricht von einer Renaissance des Bürgertums in seinen Werken. Der Autor selbst tritt mit dem bürgerlichen Habitus eines Kulturbewahrers auf, der das Erhaltenswerte zu erhalten sucht, Taktgefühl als eine „politische Tugend“ schätzt und bekennt, keinen Tag seines Lebens „mit dem Aufstand gegen Tradition und Autorität zugebracht“ zu haben.
Gute „Manieren“
Es ist wahr, dass Martin Mosebach Krawatte trägt. Er praktiziert den klassischen Handkuß, von dem der äthiopische Prinz Asfa-Wossen Asserate (der 1972 nach Frankfurt kam) in seinem Kulturführer durch die europäischen „Manieren“ (2003) sagt, er sei eine „kleine Tanzfigur“, die „Selbstachtung, Distanz und Respekt“ ausdrücke. Auch in diesem Sinne darf man Martin Mosebach als einen hochkultivierten Wertkonservativen bezeichnen, der seine Gegenwart an der Überlieferung misst und für jene Ästhetik der bürgerlichen Umgangsformen eintritt, die man eben „gute Manieren“ nennt.
Träger dieser Manieren ist das europäische Bürgertum, dem wir die Demokratisierung des Kontinents, den „Strukturwandel der bürgerlichen Öffentlichkeit“ (Habermas), das moderne Bildungssystem, aber auch und jene säkularisierende Entwicklung der Religion verdanken, an der Mosebach den „Zerfall der hierarchischen und sakramentalen Kirche nach dem II. Vatikanischen Konzil“ kritisiert. „Die Kirche stirbt, wir müssen mit Gott allein sein. Das Gebet ist die einzige intelligente Tat“, so zitiert er den kolumbianischen Philosophen Nicolás Gómez Dávila. Bei Brecht, so führt er an anderer Stelle aus, habe das Bürgertum bei den Bürgern schlechte Karten gehabt. Ironisch hat das vor genau 100 Jahren der expressionistische Dichter Jakob van Hoddis kommentiert, in seinem berühmten Gedicht „Weltende“: Am Beginn der technischen Moderne beunruhigt den Bürger, dem „vom spitzen Kopf der Hut“ fliegt, sein Schnupfen, nicht aber der Weltkrieg, die Mutterkatastrophe des 20. Jahrhunderts.
Die Stadt, das Bürgertum und die Fremde
War das der Anfang vom gar nicht so lustigen Ende des Bürgertums? Davon erzählt Mosebach mit guten Gründen. Seine Romane sind kritische Gesellschaftsstudien aus dem bürgerlichen Milieu, kulturelle Lehrstücke über die feinen Unterschiede, geschult an der Erzähltradition Thomas Manns und Heimito von Doderers. An Manns „Buddenbrooks“ (1901) erinnert Mosebachs dritter Roman „Westend“ (1992) über Aufstieg und Niedergang eines Immobilienimperiums in der Nachkriegszeit. Die Bankenstadt am Main ist ein Emblem seines Werks, sie ist Handlungsort der Romane „Lange Nacht“ (2009) und „Was davor geschah“ (2011).
Kein Zweifel, Mosebachs Romanfiguren sind Nachfahren der „Buddenbrooks“, Stadtbürger mit schlechtem Gewissen und hellem Verstand. Es sind Abenteurer auf der Jagd nach Freiheit im Dickicht der Städte und deshalb auch entlaufene Bürger, denen das Bürgertum abhanden gekommen ist, Hasardeure und Hochstapler. Sie nehmen ganz eigene Routen, abseits von Erziehung, Schule, Familie, Staat, stets bereit, oft aber unfähig zum „biographischen Bruch“ (Uwe Wittstock). Dieser zögerliche Nonkonformismus bewährt sich auch in fremden Milieus. Der Indienroman „Das Beben“ – 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis nominiert – und der auf seinen Aufenthalt in Bikaner im Herbst 2006 zurückgehende, 2008 erschienene Reisebericht „Stadt der wilden Hunde“ – mit dem man seine Mosebach-Lektüre beginnen sollte – erschließen das Heilige in anderen Kulturen.
Und das mit humorvollem Distanzblick auf die Fremde. In Bikaner gibt es keine Bücher und keine Leser, wohl aber einen Bibliothekstempel und einen großen Schriftsteller, dem der deutsche Dichter eine kleine Gefälligkeit erweist. Sie besteht darin, dass er dem indischen Gastgeber, der ihn ungehörig lange warten lässt und dann um seine Meinung über das „unvergleichliche Buch“ bittet, das er geschrieben hat, ein dickes Lob diktiert. Dieses Lob des „zu Gast weilenden Gelehrten Mr. Martin“ druckte dann am nächsten Tag die Zeitung.
„Stilleben mit wildem Tier“
Was die Kritik an Mosebachs Romanen immer wieder hervorhebt, ist das „Vertrauen in die groteske Wendung und das Auge fürs sprechende Detail“ (Felicitas von Lovenberg), ist die Satzbaukunst, die von „formvollendetem Stil“ zeuge (Andrea Köhler), sind die „federnd wohlgefügten Satzperioden“ (Ijoma Mangold). Diese Stilkunst, die durch Eleganz, geistreiche Ironie, Anmut und Kühnheit überzeugt, ist freilich keine artistische Selbstfeier. Jedes Wort, welches das Gewöhnliche ins Kostbare zieht, dient der Durchleuchtung einer sprachverwahrlosten Gegenwart.
Sprachliche Nachlässigkeit ist für Mosebach eine Untugend, weil der Schriftsteller sein Wortmaterial nicht beherrschen darf, sondern interpretieren muss. Seine Aufgabe ist es, die Grenzen der Sprache „zu weiten, sich durch ihre Hindernisse hindurchzuwinden, sie in ein überraschendes Licht zu setzen, sie zu verdunkeln, sie zu verknappen, ihre Wirkung zu steigern, ihren Klang zu inszenieren“ („Schriftstellers Deutsch“, 2003). Dazu gehört auch ein phantasievoller Umgang mit den Spezialsprachen und Mundarten des Deutschen. Das „Denglisch“, G.B. Shaw zufolge die am leichtesten schlecht zu sprechende Sprache, bekämpft er, weil es nicht die Wirklichkeit, sondern nur die Zugehörigkeit des Sprechers bezeichne („Die Schriftsteller und die Fremdwörter“). Die Fremdwörter toleriert er, solange sie anschaulich bleiben, und würdigt sie – wie der Frankfurter Philosoph Adorno – als Goldadern im Körper der deutschen Sprache.
Ein kurzes Beispiel für Mosebachs Stilkunst als Sprach- und Sozialkritik ist „Stilleben mit wildem Tier“, eine der frühen Erzählungen aus dem gleichnamigen Band (2001). Die neapolitianische Familie Esposito hat in ihrem Wohnzimmer eine stattliche Weihnachtskrippe mit über dreihundert handgroßen Figuren aufgebaut. Während draußen das Stadtleben treibt, regt sich in der Krippenlandschaft eine Maus, verfolgt von einer Katze, die zum Sprung ansetzt und damit ein Desaster im bürgerlichen Wohnzimmer der Espositos anrichtet. „Die Stille ist nicht gestört worden, und doch gleicht das Tal zu Füßen der Heiligen Familie einem Schlachtfeld.“ Dieses groteske Ende der Geschichte kommentiert den Einbruch der Welt-Gewalt in eine zum „Stilleben“ erstarrte Kunst. In klassisch ausgeruhtem Tonfall wird dem religiösen Kunsthandwerk der Garaus gemacht.
Und wie hält es der Autor mit dem Christentum?
Seit dem Doderer-Preis (1999) und dem Kleist-Preis (2002) hat sich Martin Mosebach zusehends mit Essays zur kulturellen und geistig-religiösen Lage der Zeit geäußert. Als geschickter Diskutant wirkte er im Herbst 2004 an der Bonner Veranstaltungsreihe der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Dialog der Religionen mit. In der Tageszeitung „Die Welt“ plädierte er im Juni 2004 für einen Gottesbezug in der europäischen Verfassung: „Mit Gott in der Verfassung bekennt der entstehende Riesenstaat, daß er nicht perfekt ist und nicht perfekt sein kann“.
Nicht selten polarisiert der Autor mit kontroversen Thesen. So zieht Mosebachs Büchnerpreisrede 2007 („Ultima ratio regis“) eine Vergleichslinie zwischen der Französischen Revolution und dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts, zwischen Paris und Posen, St. Just und Himmler. Und fragt nach dem Preis einer Freiheit ohne humane Verantwortung: „Woher kommt bei Büchners Protagonisten, die sich im Besitz des siegreichen Gesetzes der Geschichte glauben, das schlechte Gewissen?“
In seinem Buch „Die Häresie der Formlosigkeit“ (2002, Neuauflage 2007) tritt er für die vorkonziliare Liturgie ein und kritisiert die Reformen des Zweiten Vatikanums als „Akt der Tyrannis“, ausgeübt von „Modernisierern und Fortschrittsgläubigen“. Seine Kritik als gläubiger Katholik und als „Feind des Kitsches“ richtet sich gegen eine Kirche, in der man die „Altäre gedeckt sieht wie Couchtische“, wie Felicitas von Lovenberg schreibt.
Sein Plädoyer für ein „Blasphemieverbot“ in der „Frankfurter Rundschau“ vom 18. Juni 2012 ließ Kritiker vom „Gotteskrieger im Tweedjackett“ („Der Spiegel“) und „Deutschlands Religionspolizei“ („Cicero“) sprechen. Mosebach fand aber auch Zustimmung, wie der Autor im Dezember 2012 bei einer Veranstaltung im Belgischen Haus in Köln sagte: bei dem Philosophen Robert Spaemann und beim Bamberger Erzbischof Ludwig Schick. Wir sollten dem guten Rat von Mosebachs Büchnerpreis-Laudator Navid Kermani folgen und dessen Texte genau lesen. Denn Mosebach, so Kermani, kritisiere beileibe nicht die Kunstfreiheit. Ihn störe die Blasphemie, wenn sie als „lässige Attitüde oder als kalkulierte Spielerei“, als „Schnörkel, Laune oder Ungezogenheit“ auftrete.
Dementsprechend verteidigt Mosebach das Privileg des Autors, sich in die „,Verbrecher aus verlorener Ehre’ und die Kohlhaase einzufühlen“. Die Demarkationslinie der künstlerischen Freiheit aber verläuft für ihn entlang der „guten Sitten“, die das zivilisierte Leben der menschlichen Gesellschaft regeln. Deshalb mahnt er in einer Nachbemerkung zu seinem umstrittenen Artikel: „Wer sich Verachtung gestattet, wird Wut ernten und beschädigt das Zusammenleben aller“.
Staunender Realismus
Martin Mosebachs Poetik ist einem „staunenden Realismus“ verpflichtet, den er als Fellow des Internationalen Kollegs Morphomata in Köln mit der liebvollen Geste erklärte, mit der der Schriftsteller die Träume aus der Tageswelt zu rekonstruieren versteht und von innen heraus die Dinge auf ihre Qualität hin prüft. Dem entgegen stehe der „depressive Realismus“ jener Autoren, die das Recht einklagten, in Arkadien geboren zu sein, aber in Wanne-Eickel lebten und dort an ihren Klagen stürben. Auf diese Weise neigt Mosebach mehr zu einem philosophischen als zu einem politischen Schreiben.
Staunen ist der Anfang des Denkens, und Martin Mosebachs Werke sind eine elegante Schule des Selbst-Denkens. Fortschritt und Zeitgeist haben darin durchaus ihren Platz, sofern sie nicht historisch bewährte Grundwerte – wie die Verantwortung für die Freiheit des Wortes – gefährden. Auf diese Weise gemahnt Mosebach daran, dass der Mensch nicht nur eine politische und ästhetische Existenz hat, sondern auch von Geschichte und Tradition abhängt. Man muss keine Krawatte tragen, um ein passabler Bürger zu sein. Aber wissen, dass jede bürgerliche Freiheit an Wert verliert und verflacht, wenn sie sich nicht an den Werten orientiert, aus denen sie in oft schwierigen Prozessen erwachsen ist. Nicht also Rückkehr zur Vergangenheit ist die Devise des bürgerlichen Schriftstellers Martin Mosebach, sondern die Bewahrung des Bewahrenswerten: „Hände weg vom Status quo“. Und mag das auch eine intellektuelle Herausforderung sein, eine Einladung zur Diskussion um bürgerliche Werte.
Autor: Michael Braun
Stand: 2013
Rüdiger Safranski
* 1. Januar 1945 in Rottweil
Das Abenteuer der Freiheit
In seiner Selbstvorstellung vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Turin 2001 bekannte Rüdiger Safranski, mit der Erfahrung von zwei Welten großgeworden zu sein, der Kunst und der Politik. Geboren am 1.1.1945 in Rottweil als Sohn eines ostpreußischen Juristen, der mit seiner Frau im Spätsommer 1944 aus Königsberg geflohen war und sich im Schwarzwald niedergelassen hatte, wuchs er unter den Fittichen seiner pietistischen Großmutter auf. Die Andacht und die Liebe zum Kino in der Kindheit, später dann (1968) protestierende Flugblattaktionen und Proust-Lektüre: Das Leben in diesem „Zweikammersystem“ hat Safranskis Weg zum, wie er selbst sagt, „philosophierenden und diskursiv erzählenden Schriftsteller“ geprägt.
1965 nahm Rüdiger Safranski das Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main auf und hörte u.a. bei Adorno; 1970 legte er an der Freien Universität Berlin das Magister-Examen ab. 1976 promovierte er, zugleich wissenschaftlicher Assistent an der FU, dort mit einer Dissertation über die Arbeiterliteratur in der Bundesrepublik. Von 1977 bis 1981 gab er die kulturpolitische Zeitschrift Berliner Hefte mit heraus und war als Dozent in der Erwachsenenbildung tätig. Von 2002 bis 2012 moderierte er gemeinsam mit Peter Sloterdijk im ZDF das Kulturgespräch Das philosophische Quartett. Seit dem Sommer 2012 lehrt er als Honorarprofessor am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften an der FU Berlin. Rüdiger Safranski ist u.a. Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. Seine Bücher erscheinen in dem – bis 2013 von Michael Krüger geleiteten – Hanser Verlag.
Meister-Biographien deutscher Dichter und Denker
Bekannt und berühmt geworden ist Rüdiger Safranski durch eine stattliche Reihe von Biographien, in denen er die Geschichte deutscher Dichter und Denker vom 18. bis zum 20. Jahrhundert abschreitet: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten (1984), Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie (1987), Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit (1994), Friedrich Nietzsche. Biographie seines Denkens (2000), Schiller oder Die Erfindung des deutschen Idealismus (2004), zuletzt Goethe. Kunstwerk des Lebens (2013). Daneben hat er zahlreiche kulturpolitische Essays und Traktate zu Fragen der Zeit verfasst, u.a. Wie viel Globalisierung verträgt der Mensch? (2003).
Rüdiger Safranskis Bücher sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt und wurden mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen geehrt, u.a. mit dem Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik 1998, dem Premio Internazionale Federico Nietzsche (2003), dem Friedrich-Hölderlin-Preis und dem Welt-Literaturpreis 2006. 2009 wurde Safranski mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.
Das Betriebsgeheimnis der bei Kritik wie Leserschaft erfolgreichen Bücher von Rüdiger Safranski hat KAS-Literaturpreisträger Cees Nooteboom einmal damit erklärt, Safranski sei ein Denker, „der die Gedanken des anderen, ohne sie zu denken, so formuliert, dass derjenige, der sie liest, das Gefühl hat, nicht noch näher herankommen zu können“. Mitdenkend und nachdenkend entstaubt Safranski die Klassiker und befragt – auch kritisch – deren Modernität.
Freiheit und europäische Kulturgeschichte
Rüdiger Safranski ist ein herausragender europäischer Kulturhistoriker, der auf der Höhe der Zeit die deutschen Kulturtraditionen ins Ausland vermittelt. Als skeptischer „Fragesteller“ und „Könner der pointierten Charakterisierung“ (Franziska Augstein), als „großer Porträtist der deutschen Geistesgeschichte“ (Ijoma Mangold) macht er die „literarisch-philosophische Erzählung Deutschlands“ lebendig.
So ist Safranskis Nachdenken über deutsche Denker zugleich ein europäisches Nachdenken: Es geht um die Frage, wie das kulturelle Erbe der „Wunderzeit vor und nach 1800“ (Focus 1/2005) – mit ihren lichtvollen Seiten, aber auch ihren Irrtümern und Holzwegen – gedeutet und an das Europa des 21. Jahrhunderts vermittelt werden kann. Im Kern dieses europäischen Kulturauftrags stehen die Idee der Freiheit, die Entdeckung des verantwortungsvoll-mündigen Subjekts, der Standortvorteil des freien schöpferischen Geistes, der das politische Gewicht der Welt nicht abschüttelt. Erst die ästhetische Erziehung und Bildung – so die an Goethe und Schiller angelehnte Überzeugung – befähigt den Menschen zu einer verantwortungsvoll wahrgenommenen Freiheit. Von der Kunst lasse sich „die Erfahrung von offener Weite in enger Begrenzung“ lernen (in: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?). Mit dieser kulturellen Grundausrüstung sind auch die Zumutungen der „normativen Globalisierung“ zu meistern: Traditionsverlust, Entwurzelung, „Nihilismus der Konsumkultur“ und Vermischung des Nahen und Fernen.
Das Abenteuer des Denkens
Safranskis Biographien verbinden philosophische Phänomenologie mit politischer Anthropologie. Im Zentrum steht nie allein die Kunst oder die Idee, sondern der Mensch, der sie anwendet. Politik, so heißt es in dem Essay Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? (1990), ist „das Geschäft der Friedensstiftung im Felde der kombattanten Wahrheiten“. Dazu gehört die Ermöglichung künstlerischer Freiheit im Rahmen gemeinschaftsdienlicher Spielregeln.
Diese feine, nicht immer leicht festzustellende Unterscheidung zwischen kultureller und politischer Wahrheit, zwischen Denkbarem und Lebbarem kommt vor allem in seiner neuen Goethe-Biographie zum Ausdruck. Safranski zeichnet Goethe, der am Weimarer Hofe jahrelang ein Ministerium (Bergbau, Straßen, Finanzen) leitete, nicht nur als Dichter mit großen Stärken und kleinen Schwächen („mit dem Humor hapert es“). Goethe erscheint auch als politischer Akteur und Herr des Wechselspiels zwischen Erkenntnis und Erfahrung. So wird diese Biographie zu einem Vademecum der politischen Ethik.
Was macht gutes Regierungshandeln aus? Wie viel Europa brauchen die Debatten in Deutschland? Goethes Leben ist, schreibt Safranski, Beispiel für „geistigen Reichtum, schöpferische Kraft und Lebensklugheit“. Aktuell sei Goethes Kunst, seinen universalen Geist mit einem „unglaublichen Eigensinn“ zu verbinden (Gespräch mit Daniel Kehlmann, FAZ, 21.9.2013): „Für mich ist Goethe jemand, an dem man beobachten kann, wie ein kulturelles Immunsystem funktioniert. Dazu braucht man Beweglichkeit und einen Willen zur Selbstbewahrung. Man könnte das auch existentielle Urteilskraft nennen. Jedenfalls kommt es nicht darauf an, mit allem und jedem vernetzt zu sein.“
„Glückliches Ereignis“: Schiller und Goethe
Als „Erfinder des Idealismus“, den man nicht für die „deutsche Affäre“ der romantischen Geisteshaltung und für ideologischen Missbrauch haftbar machen kann, hat Rüdiger Safranski Friedrich Schiller und sein kulturgeschichtliches Umfeld in zwei anregenden Studien (2004 und 2007) gewürdigt. Im Schillerjahr 2009 ist Goethe & Schiller. Geschichte einer Freundschaft hinzugekommen. Safranski zeigt, wie im Sommer 1794 aus Konkurrenten Freunde wurden, die wetteifernd an gemeinsamer Sache arbeiteten, und warum ihre Gespräche in Jena und Weimar, bei denen manchmal so laut gelacht wurde, dass Schillers Frau nicht schlafen konnte, nicht trotz, sondern gerade wegen der eklatanten Gegensätze so profitabel für beide Seiten gewesen sind. Hier der Berufsschriftsteller Schiller, der nach oben heiratete, dort der Staatsbeamte Goethe mit dem zehnfachen Einkommen, der eine Verbindung nach unten wagte, hier der Idealist mit zu wenig Welt und dort der Realist mit zu viel Welt, hier das wortmächtige Evangelium der Freiheit und die Idee der ästhetischen Erziehung, dort das Pochen auf zarte Empirie und die Praxis geselliger Bildung. Safranskis Doppelbiographie zeigt, wie aus diesen Differenzen Werke und Erkenntnisse erwachsen, die europäische Kulturgeschichte geschrieben haben.
Wissenschaft als Kunst
Die Biographik Safranskis zeichnet sich durch Anschaulichkeit und Eleganz aus und durch einen souverän erzählenden Stil, der philosophische Reflexion mit poetischer Intuition verbindet. Die Kritik hat seine Bücher daher oft als „Abenteuer des Denkens“ gewürdigt; „spannend erzählte deutsche Geistesgeschichte“ attestierte Die Zeit (6.9.2007) dem Buch Romantik. Eine deutsche Affäre. Ohne die Komplexität künstlerischer Lebensläufe zu manipulieren, praktiziert Rüdiger Safranski so Wissenschaft als Kunst. Sein essayistisches Schreiben steht in der Tradition der europäischen Moralistik (Montaigne, Heine), die soziale und menschliche Verhältnisse so beschreibt wie sie sind, und nicht (so die Moralphilosophen) wie sie sein sollen. Auf diese Weise sind Safranskis Bücher eine willkommene Einladung, über die Zukunft des kulturellen Erbes deutscher Dichter und Denker in Europa zu diskutieren.
Autor: Michael Braun
Stand: 2014
Marica Bodrožić
* 3. August 1973 in Zadvarje
Die kulturelle Neuordnung Europas
Mit der Schreibweise und der deutschen Aussprache von Autorennamen, die aus dem nichtdeutschen Sprachraum stammen, haben es selbst Germanisten nicht leicht. „Mein dachgeschmücktes z und mein Vogellandeplatz des c in meinem Nachnamen macht die Menschen schon aus der Ferne schwitzen“, meint die Schriftstellerin Marica Bodrožić. Ihr Name lenkt den Blick auf die Differenz zwischen Schrift und Stimme, auf die poetischen Zwischenräume zwischen Namen und Bedeutung, auf das (wenn man so will) Europäische im Deutschen. Denn „Mariza“ ist nicht nur der Name einer der halbgöttlichen Nymphen in den Gesängen von Vergil und Ovid. So heißt auch der Fluss, der im bulgarischen Rila-Gebirge entspringt und in die Ägäis fließt (lateinisch „Hebrus“). Wir befinden uns damit einerseits an der antiken Wiege der europäischen Kultur, andererseits in der südosteuropäischen Gegenwart, im heutigen Kroatien, das bis 1991 zum Vielvölkerstaat Jugoslawien gehörte und auf dessen ehemaligem Gebiet eine Reihe blutiger Kriege bis 1995 ausgetragen wurden. Die ersten freien Wahlen fanden im Frühjahr 1990 statt. Ein Jahr darauf, am 25. Juni 1990, erklärte die kroatische Regierung die Unabhängigkeit Kroatiens. Seit 2013 ist Kroatien Mitgliedsstaat der Europäischen Union.
Deutsch als zweite Muttersprache
Am 3. August 1973 geboren, wuchs Marica Bodrožić in der Diktatur Titos auf, wo auch das katholisch geprägte Milieu nicht verhinderte, dass die Kinder an jeder Maiparade teilnahmen und die Pioniermützen im brudersozialistischen Geist tragen mussten. Ihre Eltern zogen früh als (wie man damals sagte) „Gastarbeiter“ nach Deutschland, ins hessische Sulzbach, sie blieb in der Obhut ihres Großvaters, der weder lesen noch schreiben konnte, und verbrachte dort die ersten neun Jahre ihrer Kindheit in einem jugoslawischen Dorf. Wenn die Eltern auf Heimaturlaub zu ihr kamen, brachten sie das Deutsche wie ein nur ihnen gehörendes Geheimnis mit, aus dem das noch nicht deutschsprechende Kind ausgeschlossen war. Das Deutsche war Sehnsuchtssprache – im Gegensatz zur Verbotssprache der Diktatur, in der man den Lehrer als „Bruder Genosse“ anreden musste.
1983 zog Marica Bodrožić zu ihren Eltern nach Hessen. Dort erlernte sie Deutsch als ihre „zweite Muttersprache“. Sie machte in Frankfurt eine Buchhändlerlehre, studierte dann dort Kulturanthropologie, Psychologie und Slawistik. 2002 publizierte sie ihren ersten Prosaband, Tito ist tot, dem ein weiterer Band mit Erzählungen – Der Windsammler (2007) – und ein Roman Der Spieler der inneren Stunde (2005) folgten, zudem die Gedichtbände Ein Kolibri kam unverwandelt (2007), Lichtorgeln (2008) und Quittenstunde (2011). Besondere Aufmerksamkeit fand ihr autobiographische Trilogie über die jüngste Geschichte von Krieg und Frieden in Südosteuropa. Zwei Romane liegen vor, Das Gedächtnis der Libellen (2010) und Kirschholz und alte Gefühle (2012). Die große autobiographische Erzählung Mein weißer Frieden (2014) ist ein Brückenkopf zum abschließenden Band der Trilogie, an dem die Autorin im Winter 2014 in Brüssel arbeitet.
2007 wurde ein Dokumentarfilm, den Marica Bodrožić zusammen mit der Filmemacherin Katja Gasser drehte, von 3sat ausgestrahlt (Das Herzgemälde der Erinnerung. Eine Reise durch mein Kroatien).
Phantasie und Realismus
Die Kritik hat Marica Bodrožićs Werke mit offenen Armen aufgenommen. Gewürdigt wurden vor allem ihre Erzählenergie, die Realitätsschärfe ihrer literarischen Beobachtungen im geschichtlichen Raum, die rhetorische Experimentierfreude, „große und originelle Humanität“ (SZ, 31.8.2010), ihre Bildkraft und sprachliche Phantasie. Sie ist – so die Kritikerin Meike Feßmann – „eine Schriftstellerin, die beides glänzend schildern kann: die luftigen Aufschwünge der Phantasie und die Erdenschwere der Existenz … das selbstverständliche Nebeneinander verschiedener Kulturen und Religionen, die neuen Nationalismen und die alten Mythen“ (Sinn und Form 5/2013).
Marica Bodrožić wurde mehrfach mit deutschen und europäischen Auszeichnungen im Förderbereich und mittleren Preissegment bedacht. Sie erhielt u.a. den Heimito-von-Doderer-Förderpreis (2002), den Förderpreis des Chamissopreises (2003), den Kulturpreis Deutsche Sprache (2008), den Liechtenstein-Literaturpreis (2011), den Preis der LiteraTour Nord (2013) und den Kranichsteiner Literaturpreis (2013).
Die Konrad-Adenauer-Stiftung stand am Beginn von Marica Bodrožićs literarischem Weg und hat ihre Laufbahn kontinuierlich begleitet. Nach dem Erscheinen ihres Debütbandes (2002) erhielt sie ein Stipendium aus dem Else-Heiliger-Fonds. In den Folgejahren hat sie mehrfach mit großer Resonanz an Veranstaltungen der KAS mitgewirkt (EHF-Stipendiatenwerkstatt, Autorenwerkstatt in Cadenabbia, Lesungen in Berlin, Vorträge und Workshops). 2009 wurde sie mit dem Bruno-Heck-Preis der Altstipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet.
Migrations- und Erinnerungsliteratur
Die Bedeutung der deutschen Sprache ist ein wichtiger Schlüssel zu den Werken von Marica Bodrožić. Die deutsche Sprache hält zusammen, was andernfalls auseinanderfallen würde: die Erinnerungssplitter von Kindheit und Krieg, die Herkunft aus einem Land, das es nicht mehr gibt, und die Ankunft in einem neuen Land mit einer neuen Sprache. Marica Bodrožićs erste Muttersprache war ein südslawisch-serbo-kroatisches Konglomerat, durchmischt von herzegovinischen Wörtern, osmanischen Klängen und einem dalmatinischen Dialekt, der in den kroatischen Städten nicht verstanden wurde. Als Marica Bodrožić sich 1991 in Deutschland mit ersten Gedichten in kroatischer Sprache versuchte, war ihr Herkunftsland Kriegsgebiet; es wurde von „Kampfzonen, Militäreinheiten, Gewehren, Granaten“ gesprochen, später kamen die Wörter „Armut“ und „Hunger“ hinzu.
Die deutsche Sprache als „zweite Muttersprache“ ist für Marica Bodrožić ein zentrales Medium der Zugehörigkeit. Auskunft über ihre „Ankunft in Wörtern“ gibt sie in ihrem biographischen Essay Sterne erben, Sterne färben aus dem Jahr 2007, aus dem auch Texte für das Zentralabitur ausgewählt wurden. Sie beruft sich auf Rilke, der schreibt: „Die deutsche Sprache wurde mir nicht als Fremdes eingegeben, sie wirkt aus mir“ (Vortrag im Burgtheater Wien, 2012).
Marica Bodrožićs epische Werke sind europäische Migrations- und Erinnerungsliteratur. Migration ist für sie nicht nur ein transnationaler räumlicher Prozess, sondern auch eine Reise in der Zeit, eine Erzählung vom kulturellen Gedächtnis der südosteuropäischen Zeitgeschichte. Dieser Blick in Raum und Zeit durchbricht heile Familienwelten und starre Freund-Feind-Bilder, um dahinter „Gottesbeobachtungs¬notizen“ in der katholischen Orthodoxie, Probleme von Arbeitsmigranten und multiethnische Konflikte sichtbar zu machen. Das Schreiben zwischen den europäischen Kulturen ist selten so nuancenreich und so bildkräftig praktiziert worden wie in Bodrožićs Büchern.
Die Literatur und die Neuordnung Europas
Marica Bodrožić leistet mit ihren epischen Werken einen maßgeblichen kulturellen Beitrag zur Neuordnung Europas nach 1989. Von der Transformation eines Europas der Nationen in eine multipolare Welt erzählt sie auf eine eindringliche, realistische und zugleich poetisch-phantasievolle Weise. Zugleich beschreibt sie damit den gefährdeten Weg Europas in die Freiheit und die gemeinsame Zukunftsaufgabe einer friedlichen Integration. Sie plädiert für die Freiheit des Denkens jenseits von Nationalitätsgrenzen und baut im Prozess des zusammenwachsenden Europas auf die integrative Erinnerungs- und Gestaltungskraft der Literatur. „Wenn wir die Streitenden immer nur voneinander trennen und nichts voneinander lernen lassen, wird auch die Tiefe vergiftet, aus der heraus Versöhnung möglich wäre und in der eine Sprache der Friedfertigkeit entsteht“.
Autor: Michael Braun
Stand: 2015
Michael Kleeberg
* 24. August 1959 in Stuttgart
Europäischer Denker der Freiheit
Die Menschenrechte, der Sozialstaat, eine „Moral der ersten Hilfe“ und ein wehrhafter Humanismus: Das sind die Überzeugungen, mit denen Michael Kleeberg (im Interview mit der „Welt“ vom 20.11.2015) die europäische und deutsche Gegenwart in den Blick nimmt. Am 5. Juni 2016 wird der Autor, der zu den souveränsten Erzählern der Gegenwartsliteratur zählt, im Weimarer Musikgymnasium Schloss Belvedere mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet.
Der literarische Weg
Geboren am 24.8.1959 in Stuttgart, studierte Michael Kleeberg von 1978 bis 1982 Politische Wissenschaften und Neuere Geschichte an der Universität Hamburg und Visuelle Kommunikation an der Hamburger Hochschule der Bildenden Künste. Nach mehreren Auslandsaufenthalten – in Rom, in Amsterdam und von 1986 bis 1996 als Mitinhaber einer Werbeagentur in Paris – lebt er derzeit als Autor, Übersetzer (aus dem Französischen und Englischen) und Essayist (2017 hält er die Frankfurter Poetikvorlesungen) in Berlin. Seine Werke sind übersetzt in folgende Sprachen: Albanisch, Arabisch, Dänisch, Englisch, Französisch, Griechisch, Japanisch, Spanisch. Kleeberg erhielt bislang den Anna-Seghers-Preis (1995), den Lion-Feuchtwanger-Preis (2000), den Evangelischen Buchpreis (2011) sowie den Hölderlin-Preis (2015). 2008 war er Mainzer Stadtschreiber.
Der erste Erzählband, Böblinger Brezeln (1984), steht ersichtlich unter dem Einfluss von Hemingways Kurzgeschichten. Die eigenständig erschienene Erzählung Der saubere Tod (1987) spielt im Jugendmilieu von Berlin-Kreuzberg und lässt schon ein wichtiges Thema seines Schreibens erkennen: das elegante epische Panorama von Mentalitäten und Bildungswegen in zeitgenössischen Milieus, hier: die No-Future-Mentalität einer geschichtslosen Jugendgeneration. Der an Wieland geschulte Entwicklungsroman Proteus, der Pilger (1993) und der Band Der Kommunist vom Montmartre (1997) erweitern diesen Blick auf die „Identitätsmüdigkeit“ des westlichen Menschen in die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Gegengeschichten und Porträts der Gegenwart
Den Durchbruch erzielte Kleeberg mit seinem Roman Ein Garten im Norden (1998). Die Kritik stufte das Buch fast unisono als „staatsbürgerliche Wegweisung“ für die Berliner Republik ein (so die Frankfurter Allgemeine Zeitung). Der Roman enthält eine „historische Tiefendimension“ (Erhard Schütz), die das Buch nach Kleebergs eigener Einschätzung zu einem „Gegenbuch zu Thomas Manns Doktor Faustus“ macht, zu einem Versuch, dem „,Verhängnis’ der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert“ ein utopisches Alternativmodell entgegenzustellen, in dem die mitteleuropäische Geschichte auch einmal – ohne Krieg – kulturell und politisch gut gehen kann. Mit dieser Lizenz zum Erfinden einer ‚anderen‘ als der historischen Erinnerung lässt Kleeberg zum Beispiel Richard Wagner als heiteren Aufklärer oder Martin Heidegger als tangotanzenden Salonphilosophen auftreten. Die Kritik lobte die ebenso souveräne wie spannende Konstellation von „Politik und Geschichte, Zeitdiagnostik und Zukunftsbestimmung, Musikessay und literaturtheoretischer Debatte, himmlischer und irdischer Liebe“ (Die Welt, 22.8.1998). Von der Faszination, die der Roman auch auf Leser in Frankreich, Italien und den USA ausstrahlt, zeugen die Stimmen auf der Homepage www.michael.kleeberg.de.
Mit den Romanen Karlmann (2007) und Vaterjahre (2014) entwirft Kleeberg ein diffiziles Porträt des deutschen Mittelstands in den 1980er und 1990er Jahren. Das würdigt der Buchpreis der Staatsbibliothek „HamburgLesen“ 2015. Karlmann („Charly“) Renn ist ein durchschnittlicher Bürger, dem weder metaphysische Tröstungen noch besondere intellektuelle Fertigkeiten zur Verfügung stehen. Auf die Zumutungen der beschleunigten Moderne reagiert er mit unbeugsamem Lebensmut, und sei es bei einem faszinierenden Flight auf einem Hamburger Golfplatz. Seine sozialen Konditionierungen und die existentiellen Katastrophen, die er durchmacht, werden aus den gleitenden Perspektiven eines sich des Pathos und der Ironie bedienenden Erzählers entfaltet. Dabei gelingt es, ein nachfühlendes Erzählen mit kühlen, fast naturalistischen Einsichten im Stil Balzacs und Zolas zu verbinden. Ein dritter Band um diesen exemplarischen, ‚symboldeutschen‘ Helden „Karlmann“ soll die Trilogie abrunden.
Der Roman Das amerikanische Hospital (2010) beeindruckt als ein „Werk von höchster Reife“ mit „Weltreichhaltigkeit und literarischer Könnerschaft“ (Schütz). Erzählt wird die Begegnung des traumatisierten Irakkriegsveteranen David Cote mit der Französin Hélène, die keine Kinder bekommen kann. Die Konfrontation der Lebensgeschichten ist zugleich eine Zerreißprobe des technologischen Machbarkeitsglaubens. Michael Kleeberg geht es dabei mehr um Diagnose als Kritik der Gesellschaft; er zielt darauf ab, „Menschen zu porträtieren, die es gewohnt sind zu handeln, ohne die Verhältnisse in Frage zu stellen, in denen sie handeln“ (so der Autor im Interview in der FAZ).
Die Ethik der Literatur
Michael Kleeberg schreibt realistische Gesellschaftsromane des deutschen Mittelstands. Kaum ein anderer Autor geht der bürgerlichen Identität, den persönlichen Freiheitsansprüchen und dem Sinn für soziale Verantwortung so eindringlich auf den Grund wie er. Seine literarischen Treibkräfte sind: „Suche danach, ‚zu sagen, wie es wirklich war‘, Beschränkung auf die Gebiete, die durch eigene Erfahrung und Kenntnis abgedeckt werden, (literarisches und menschliches) Misstrauen gegen Rhetorik und Hohlheit“.
Zugleich ist Kleeberg kein Moralphilosoph, der die Welt so beschreibt, wie sie sein soll, sondern ein wert- und moralbewusster Autor in der Moralismus-Tradition Montaignes und Kleists, der Verhaltensforschung am modernen Menschen betreibt, gegen die moralischen Kosten des globalisierten Fortschritts aufbegehrt und – wie Wolfgang Frühwald betont – für ein Menschenbild der Nächstenliebe und Barmherzigkeit eintritt.
In seinen Essays und Aufsätzen (u.a. in der FAZ und im Spiegel) zeigt sich Kleeberg als hochreflektierter Citoyen, der sich in die Belange des öffentlichen Lebens und des politischen Diskurses einmischt, ohne Aktualitätszwang, dafür mit historischem Tiefblick. So verglich er im Februar 2015, nach dem Attentat auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo, die Geschichte der jüdischen und der islamischen Minderheit in der französischen Gesellschaft. In der FAZ berichtete er im Mai 2015 über das kafkaeske Gleichgewicht von Repression und Fortschritt im Iran. Auch das Libanesische Tagebuch (2004) zeigt den Autor als politischen Erzähler seiner Zeit, „skeptisch, ironisch, der Freiheit mehr verpflichtet als der Gleichheit“.
Michael Kleebergs literarisches Herz schlägt für die Freiheit des Menschen im Auslieferungsraum der Geschichte. Er lässt seine Figuren über den Schrecken der Geschichte im Ton später Trauer sprechen. Damit sorgt er für den Transport der Vergangenheit in unsere Gegenwart und lässt die literarische Erinnerung zu einem Teil unserer sozialen Identität werden.
Nicht zu vergessen: Michael Kleeberg ist ein deutsch-französischer Brückenbauer par excellence. Mit seinen Übersetzungen u.a. von Marcel Proust, mit Essays und Diskussionsbeiträgen steht er in der Tradition der deutschen „Transitoren“ (Rüdiger Görner), die kulturelle Brücken schlagen zwischen den Nachbarländern.
Verbundenheit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung
Die Stiftung hat Michael Kleebergs literarischen Weg stetig begleitet. Er hat in den 2000er Jahren mehrfach an der Autorenwerkstatt der Konrad-Adenauer-Stiftung in Cadenabbia am Comer See mitgewirkt. 2013 hat er im Bonner Wasserwerk bei einer vom Vorsitzenden der KAS, dem ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments Dr. Hans-Gert Pöttering, eröffneten Soiree einen Vortrag über den Mutbürger Georg Büchner gehalten, der in der europäischen Kulturzeitschrift Merkur publiziert wurde. 2015 hat er in der Kooperationsreihe der KAS mit dem Bonner Institut français eine vielbeachtete Lesung, gemeinsam mit Frédéric Ciriez, über urbane Milieus und europäische Dimensionen von Paris absolviert.
Autor: Michael Braun
Stand: 2016
Michael Köhlmeier
* 15. Oktober 1949 in Hard
Die Kunst des Erzählers
Ein „natural born narrator“, so würdigt die Welt (18.10.2014), in Anspielung auf einen Filmtitel, Michael Köhlmeier. Der am 15.10.1949 in Hard am Bodensee geborene Autor ist ein bedeutender Erzähler und Nacherzähler. Seine epische Bandbreite ist enorm: von Romanen und Novellen über Libretti, Hör- und Drehbücher bis zu Nachdichtungen von biblischen Geschichten, antiken Mythen, Märchen und Shakespeare-Dramen. Erzählen bedeutet Verwandeln von Geschichte und Lebensstoff in Kunst mit den Zeichen der Zeit. Für James Wood, den ‚Reich-Ranicki der amerikanischen Literaturkritik‘, bittet der Erzähler „uns nicht, Dinge (in einem philosophischen Sinn) zu glauben, sondern sie uns (in einem künstlerischen Sinn) vorzustellen“ (Die Kunst des Erzählens, 2013). In diesem Sinne stellt uns Michael Köhlmeier auf ebenso freimütige wie kunstvolle Weise unsere Zeit, unsere Herkunft, unsere Traditionen und Werte vor.
Biographie und literarischer Lebenslauf
„Ich bin“ – schreibt Michael Köhlmeier – „in einer erzählsüchtigen Familie aufgewachsen und habe schon als Kind gewusst, dass ich gerne Schriftsteller werden möchte.“ Das vorliterarische Erzählen hat Köhlmeiers Entwicklung geprägt. Es umfasst Erfinden und Erinnern. Es ist gemeinschaftsbildend, verbindet die Generationen, muss aber aus der mündlichen Alltagspraxis in die individuelle Schriftform überführt werden, um Kunst zu sein. Das demonstriert der Roman Bleib bei mir (1993), eine Nachkriegsliebesgeschichte über seine Eltern, die sich in Coburg begegnet sind.
Köhlmeier begann als Schüler im Kapuziner-Internat in Feldkirch zu schreiben, in einer Atmosphäre, die von Gruppendruck und Autoritätswettkämpfen geprägt war. Wie sehr Erzählen auch immer Staunen und Trösten ist, darüber gibt der Roman Die Musterschüler (1989) Auskunft. Der dritte frühe Schreibeinfluss – nach Elternhaus und Schule – war das Studium der Germanistik in Marburg (1970-1978); daneben studierte Köhlmeier Mathematik und Physik in Gießen und Frankfurt am Main. 1975 schickte Köhlmeier einen Text zum Rauriser Literaturwettbewerb, vergaß ihn und wurde daran erinnert, als er einen Brief erhielt, in dem stand, dass er den Preis gewonnen habe. Michael Köhlmeier setzte sich in seinen VW, fuhr nach Wetzlar, ging spazieren und beschloss, ab nun Schriftsteller zu sein.
Erzähler zum Hören
Sein literarisches Schaffen begann mit den Originalton-Hörspielen, die er Anfang der 1980er Jahre über Konflikte der Arbeitswelt und soziale Randgruppen schrieb. Ein Durchbruch war die Sammlung von Neuerzählungen von Sagen des klassischen Altertums (1995-1998, 15 CDs). Seit 2007 läuft eine Reihe von weiteren Neuerzählungen antiker Geschichten in einer 80-teiligen Sendereihe des Bayerischen Rundfunks (gesendet von ARD-alpha).
Die biblischen, antiken und germanischen Mythen, neben den Romanen der zweite Hauptstamm seines Werks, sind für Köhlmeier „ferne Spiegel“, die es uns erleichtern, unsere Geschichte zu begreifen. Darin stehen Götterschwank und Kriegskatastrophe nebeneinander, es geschehen kalkulierte Abstürze vom Erhabenen ins Vulgäre und Banale, die Figuren werden psychologisch vertieft. Wenn der Erzähler jemand ist, der „dem Hörer Rat weiß“, dann ist Michael Köhlmeier ein weiser Erzähler; in den Mythen liegt die „epische Seite der Wahrheit“ (Walter Benjamin). Das zeigt sein jüngstes Buch Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam? (2016). Orientiert an Grundfragen unserer Zeit, enthält der Band Märchen, Legenden und Geschichten über Helden aus Bibel und Antike, erzählt von Michael Köhlmeier und erklärt von dem Wiener Philosophen Paul Konrad Ließmann. Es geht um das Doppelgesicht der „Neugier“ in der biblischen Paradiesgeschichte, den fatalen Zusammenhang von „Gewalt“ und „Traurigkeit“, das „Daidalos-Prinzip“ der „Arbeit“: Unsere Arbeit ist die Lösung der (ökologischen, technischen, sozialen) Probleme, die uns die Maschinen hinterlassen, die wir zur Beschleunigung und Vereinfachung der Arbeit entwickelt haben.
Romane und Erzählungen
Michael Köhlmeiers episches Werk umfasst mehrere Romane und Novellen. Sie zeichnen sich aus durch ein Erzählen, das souverän und gelassen ist und es, bei aller Sympathie für die Figuren, an kluger Weitsicht nicht fehlen lässt. Der Autor vertritt die Auffassung, dass „unbedingte Menschenliebe“ und „unbedingter Menschenhass“ den Blick des Erzählers trüben. Deshalb lässt er seine Figuren zwischen Hoffnung und Depression schwanken, führt sie an die Siegesstätten und auf die Schlachtfelder der Geschichte, gibt ihnen eine archetypische Tiefenstruktur. Sie ist ein Grundmerkmal von Köhlmeiers Erzählen: „Wenn ich von einem Vater erzähle, und es schimmert dahinter ein Gedanke Abraham oder der Vater an sich, dann bekommt das eine ungemeine Tiefenwirkung, die jedes Erzählen rechtfertigt“ (Die Presse, 12.3.1994).
Der Roman Abendland, nominiert auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2007, erzählt eine Geschichte des 20. Jahrhunderts am Beispiel des fast hundertjährigen Mathematikers, Weltbürgers und Jazz-Fans Candoris (dem der Österreicher Leopold Vietoris Pate gestanden hat). Aufgezeichnet wird diese Lebensgeschichte von einem Schriftsteller. Beides – die Politik in der Geschichte und der persönliche Erzähler im Roman – sind wichtige Elemente von Köhlmeiers Kompositionskunst. Story und History, Faktum und Fiktion bilden eine epische Einheit. „Man kann nur Geschichten von einzelnen Menschen erzählen, Geschichte als solche lässt sich nicht erzählen“, schreibt Köhlmeier. Die Zeit (20.9.2007) lobte das Werk als „Epochenroman über den modernen Menschen, aufgeklärt und leidend, von Freud, dem Sexus, dem Todestrieb und den Anforderungen der Emanzipation unterwandert und überfordert, den Gefahren der Naturwissenschaft, ihren Möglichkeiten und Folgen ausgesetzt“.
Das gleiche Prinzip bestimmt den Roman Zwei Herren am Strand (2016). Auch hier tritt ein Erzähler auf, der die Lebensgeschichten Charly Chaplins und Winston Churchills preisgibt. Beide schließen einen Pakt: sich gegenseitig zu helfen, wenn einer von ihnen in schwere Depression verfällt. Der Roman ist ein „ausgefuchstes Fabulierspiegelspiel“ (Die Welt, 18.10.2014) mit realen und erfundenen Quellen, eine Geschichte über eine weitgehend unbekannt gebliebene Freundschaft, die getragen wird durch den gemeinsamen, aber mit unterschiedlichen Mitteln geführten Kampf gegen Hitler. Die Frage nach Wahrheit und Täuschung, Gut und Böse grundiert auch den 2013 erschienenen Roman Die Abenteuer des Joel Spazierer, einen Schelmenroman über die Diktatoren und ihre Helfershelfer im 20. Jahrhundert.
Michael Köhlmeiers novellistisches Erzählen steht in der goetheschen Linie: ein Problem wird pointiert, spannend inszeniert und in einer brüchigen Idylle aufgelöst. Sunrise (1994) ist eine Doppelgängergeschichte und moderne Adaption des Ackermanns aus Böhmen von Johannes von Tepl aus dem Jahr 1400. Idylle mit ertrinkendem Hund (2005), Buch der Stadt Köln 2013, ist eine Glückstrauererzählung, in der der Autor, unverschleiert wie selten zuvor, den Unfalltod der eigenen Tochter verarbeitet. 2016 erschien Das Mädchen mit dem Fingerhut, eine coming of age-Legende und eine Parabel auf die westeuropäische Einwanderungsgesellschaft.
Zu erwähnen ist auch die Lyrik; auf den Band Der Liebhaber bald nach dem Frühstück (2012) folgt im Februar 2017 der Band Ein Vorbild für die Tiere. Nahezu alle Bücher Köhlmeiers erscheinen im Hanser Verlag, München.
Würdigung des Werkes
In der Literaturkritik wird Michael Köhlmeier als begnadeter Erzähler mit einer großen epischen Bandbreite geschätzt. Köhlmeier besinnt sich des reichen Stoffvorrats der abendländischen Kulturgeschichte. Er beherrscht virtuos die Gattungen und Medien der Narration, vom Volksmärchen über Legende, Schelmenroman, Erinnerungsfiktion und Generationenepos bis zur zeitkritischen Novelle, und schöpft die Möglichkeiten des Erzählens aus, vom Phantastischen und Unterhaltenden über das Therapeutische bis hin zum Lehrhaften. Nachhaltig stellt er die Frage nach der Herkunft des Menschen und den christlich-humanen Werten, orientiert er sich am Erfahrungswissen unserer Zeit, bedenkt er die Herausforderungen der Gegenwart: Migration und Gewalt. Zwischen Tragödie und Idylle findet der Erzähler Michael Köhlmeier einen originellen Weg von poetischer Freiheit in politischer Verantwortung. – Seine Bücher und Geschichten sind längst in viele Sprachen Europas übersetzt und werden heute auf Französisch ebenso gelesen wie auf Türkisch, Spanisch oder Slowenisch.
Michael Köhlmeier ist unter anderem mit dem Hebel-Preis (1988), dem Hasenclever-Literaturpreis (2014) und dem Düsseldorfer Literaturpreis (2015) ausgezeichnet worden. Am 21. Mai erhält er den von der Evangelischen Akademie Tutzing verliehenen Kaschnitz-Preis. Der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung wird am 25. Juni 2017 in Weimar verliehen, die Laudatio hält die Konstanzer Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Aleida Assmann. Michael Köhlmeier ist der 25. Preisträger der Stiftung.
Autor: Michael Braun
Stand: 2017
Mathias Énard
* 11. Januar 1972 in Niort
Europas Zuhause liegt im Osten
Beethovens Kompass zeigt nach Osten. Wieso eigentlich? Mathias Énard erzählt davon in seinem Roman Kompass (2016). Es ist ein Buch über die Faszination, die der Orient auf die neuzeitliche europäische Kulturgeschichte ausstrahlt. Als vielsprachiger Weltbürger, als Vordenker einer orientalischen Renaissance und als überzeugter Europäer setzt sich der 1972 geborene französische Autor für einen demokratischen Dialog von Abend- und Morgenland ein, für „Miteinander und Kontinuität“. Am 6. Mai 2018 wurde Mathias Énard in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Die Laudatio hielt die CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer.
Biographie
Mathias Énard wurde am 11. Januar 1972 im westfranzösischen Niort geboren, einem kleinen Ort zwischen Poitiers und La Rochelle. Von dort aus brach er auf in die Welt. Er studierte zunächst zeitgenössische Kunst. Anfang der 1990er Jahre kam er ans Pariser Institut national des langues et civilisations orientales. Mit geschärftem Sinn für die politische Situation der Zeit erlernte er die arabische und persische Sprache: „Es war die Zeit, als nach den algerischen Wahlen im Jahr 1991 ein Bürgerkrieg begann. Die einen ergriffen Partei für die Islamische Heilsfront FIS, die anderen gegen einen radikal politischen Islam, der alle Teile der Gesellschaft erfasst“ (Gespräch im Tagesspiegel, 22.03.2017).
Nach dem Studium lebte Énard in Teheran, in Beirut, in Damaskus, einem syrischen Dorf, wo er Französisch unterrichtete, und in Rom (mit einem Stipendium der Villa Medici 2005/06). Längere Aufenthalte führten ihn nach Brüssel, zuletzt auch nach Berlin: „Das heißt 25 Jahre außerhalb Frankreichs. Man lernt viel“ (Deutschlandfunk, 17.03.2017). Im Jahr 2000 zog Énard nach Barcelona, in den multikulturellen Stadtteil El Raval. Dort arbeitete er bei Kulturzeitschriften mit, war Mitglied der Redaktion der französischen Zeitschrift für Literatur und Philosophie 'Inculte – und führt das libanesische Restaurant „Karakala“ in der Torrent de L’Olla.
Romane ums Mittelmeer
Énards literarische Karriere begann mit dem Roman Zone, der 2008 in Frankreich, 2012 in deutscher Übersetzung erschien und mit dem deutsch-französischen Candide-Preis sowie mit dem Prix Décembre ausgezeichnet wurde. Der Roman wurde in Deutschland wie in Frankreich als gelungenes Experiment begrüßt: der fast 600seitige, interpunktionslose Bewusstseinsmonolog eines Geheimagenten und französisch-kroatischen Ex-Söldners im Jugoslawienkrieg. Die „Zone“ ist das Mittelmeer, Wiege und zugleich Wunde der abendländischen Zivilisation, seit Homers Ilias Herrschaftsgebiet der „wütenden Götter“, „gesäumt von Felsen und Bergen jener Steinhaufen die auf ebenso viele Gräber Leichengruben Massengräber hinweisen auf eine neue Karte ein anderes Netz von Spuren Straßen Schienen Flüssen die nach wie vor vergessene verehrte anonyme oder in der großen Geschichtsrolle verzeichnete Leichen Überreste Bruchstücke Schreie Gebeine mit sich führen“. (wie fast alle Werke von Mathias Énard aus dem Französischen in ein geschmeidiges Deutsch übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller.)
24 Kapitel hat das Buch, ebenso viele Gesänge hat Homers Epos. Doch Énards „homerische Reise“ (so Katharina Teutsch in der FAZ, 29.10.2010) ist weder Kriegsreportage noch Agententhriller. Gleichwohl erzählt er voller Spannung vom Umgang mit den traumatischen Erinnerungen der europäischen Geschichte, von Tragik und Rache, von Versöhnungsmut und Wiedergutmachungswillen.
Die folgenden Romane Énards sind Wächter an den Toren des Mittelmeeres, das „mare nostrum“ genannt wurde und seit dem 7. Jahrhundert von römischer und arabischer Vorherrschaft umkämpft war. Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten (2010/2013) spielt am Bosporus, zur Zeit Michelangelos, Straße der Diebe (2012/2013) an der Meerenge von Gibraltar, in unserer Gegenwart. Die Meerengen verbinden Europa mit Asien und mit Afrika, es sind historische und zeitpolitisch bedeutende Orte, Geographien von Kampf und Krieg, aber auch Transferräume von großer Kunst und Kultur.
Der Michelangelo-Roman, der sich vorzüglich als Einstieg in Énards Werk eignet, greift eine überlieferte Anekdote aus dem 16. Jahrhundert auf, deren historische Wahrheit allerdings nicht verbürgt ist: Michelangelo wird von dem Sultan von Konstantinopel beauftragt, den Bauplan für eine Brücke über den Bosporus zu entwickeln. Tatsächlich aber war Michelangelo 1506 in Konstantinopel, und es gibt einen Konkurrenzentwurf von einer Brücke am Goldenen Horn, der von Leonardo da Vinci stammt. Énard nutzt den Einfall, um jene „Geschichte von verlorenen Schlachten, vergessenen Königen, verschwundenen Tieren“ zu erzählen, die der Titel seines Romans von Rudyard Kiplings Indienbuch ausborgt. Es ist eine Geschichte von der Geburt des Kosmopolitismus aus dem Geiste des künstlerischen Genies. Énards Michelangelo ist Bildhauer und Architekt, aber auch europäischer Diplomat und Geschichtenerzähler mit großer Neugier auf den Orient. Nachdem er sich in das Nachtleben von Konstantinopel gestürzt hat, kommt ihm die Vision von einer Brücke, die Orient und Okzident verbindet: „Wie viele Kunstwerke braucht es, bis die Schönheit in die Welt kommt“, lässt Énard seine Figur denken und am Ende mit einem unvollendeten Bauwerk, „heimlich“, wie es heißt, die Stadt verlassen.
Der Michelangelo-Roman, gewürdigt mit dem Prix Goncourt des lycéens 2010, ist schmal und episodisch aufgebaut, wie ein Rondo. Ganz anders der folgende, 2012 erschienene Roman Rue des Voleurs, der 2013 ins Deutsche (Straße der Diebe) übersetzt wurde. Es ist ein Abenteurerbuch und ein politisches Menetekel, angesiedelt zwischen Arabischem Frühling, der spanischen Revolution und der politischen Bewegung ¡Democracia Real Ya! (‚Echte Demokratie Jetzt!‘) zu Beginn der 2010er Jahre. Der Held des Romans, ein junger Marokkaner namens Lakhdar aus der Banlieue von Tanger, kämpft auf schlechte Weise für das Gute. Er pendelt zwischen seinem Heimatland und Spanien, auf der Suche nach Arbeit und Freiheit, nach Kunst und Liebe. Seine Entscheidung, auf europäischem Boden zu bleiben und die „fruchtlosen Hin- und Rückfahrten auf der Meerenge“ zu beenden, lässt sich datieren, auf das Jahr 2011: „Ende Oktober, als die Tunesier gerade auf demokratischem Weg die Islamisten von der Ennahda-Partei an die Regierung brachten und die Spanier sich anschickten, die Katholiken vom Partido Popular zu wählen, wie auch die Marokkaner etwa zum selben Zeitpunkt den Weg zu den Urnen antraten“.
Énard liest seine Zeit genau, aber er liest ihr nicht die Leviten. Moralisieren ist ihm ebenso fremd wie Politisieren. Er ist ein Erzähler von Übergängen und Wanderungen, ein epischer Anthropologe. Die Wege, die Europa mit Afrika und mit Asien verbinden, sind für ihn das, was die Menschen aus ihnen machen, Pilgerwege, Kreuzwege, Irr- und Suchwege. Migration und Integration, Terror und Interkulturalität spielen mit. Die Flüchtlinge, die auf ihrem Weg nach Europa im Mittelmeer sterben, werden ebenso wenig verschwiegen wie die islamistischen Attentate in Marrakesch und in Europa. Und am Ende des Romans Straße der Diebe, das man nicht verraten sollte, wenn man es noch nicht gelesen hat, steht eine faustdicke und nicht unbedingt erfreuliche Überraschung.
Orientalische Renaissance
Der umfangreiche Roman Kompass (2015/2016) ist nach einhelliger Ansicht der Kritik ein „literarisches Meisterwerk“ (Ijoma Mangold). Eine „Enzyklopädie der orientalischen Kultur“, schrieb Der Spiegel, „das Traumbuch des Jahres“, lobte Die Welt, „ein Phänomen in der französischen Gegenwartsliteratur“, so die Süddeutsche Zeitung. Im März 2017 erhielt Mathias Énard für den Roman den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In ihrer Laudatio sagte die französische Historikern Leyla Dakhli: „Meiner Ansicht nach ist Kompass ein Weg der Erkenntnis und des Verstehens. Der Roman zeigt die Möglichkeiten eines glücklichen Wegs auf. Er verläuft über die Wissenschaft, die Liebe und die Schönheit der Bücher wie der Menschen.“
Der Roman holt weit aus. Der Musikwissenschaftler Franz Ritter erinnert sich in einer schlaflosen Nacht seiner Liebe zu der genialen Orientwissenschaftlerin Sarah, seiner Studienorte in der arabisch-persischen Welt und der Kulturgeschichte des Morgenlandes – und das natürlich nicht zufällig in Wien, dem Tor zum Orient. Es kommt ein vielfarbiges Orientbild heraus, das nicht auf Politik und Religion reduzierbar ist, das fern von Imperialismus und Kolonialismus agiert (in Anknüpfung an Edward Saids Buch Orientalismus, 1978) und das tief in die europäische Kulturgeschichte hineinragt, so tief, dass es kaum noch möglich ist, europäische und orientalische Erbteile voneinander zu scheiden. Im Gegenteil, so will es Énard erzählen, die Kulturen durchdringen und befruchten sich, und es ist der beständige Austausch zwischen Europa und dem Orient, aus dem wir lernen können. Sarah ist im Roman die Lehrmeisterin dieser Renaissance des Orients aus kosmopolitischem Geiste:
„Der Orient ist eine Konstruktion aus Bildern, ein Komplex von Repräsentationen, aus dem jeder, je nach Standpunkt, nach Belieben schöpfe. Es sei naiv zu glauben, fuhr Sarah mit lauter Stimme fort, dass dieser Koffer mit orientalischen Bildern heute allein ein spezifisches Gut Europas sei. Nein. Diese Bilder, diese Schatztruhe, seien allen zugänglich und alle steuerten zu ihnen bei mit dem, was sie jeweils an Kulturgütern hervorbrachten, neue Aufkleber, neue Porträts, neue Musik“.
Die Nostalgie aus Tausendundeinernacht wird damit in eine epische Kulturgeschichte verwandelt, in der mühelos Verbindungen zwischen Goethe und dem persischen Dichter Hafis, Balzac und seinem Übersetzer ins Arabische, Joseph von Hammer-Purgstall, dem konservativen Wahhabismus und den Disneyfilmen hergestellt werden können.
Énards Romane erzählen vom Kulturtransfer über die Mittelmeerländer und der Faszination der Europäer für die orientalische Kultur. Orient und Okzident sind für Énard, ganz im Sinne Goethes, nicht mehr zu trennen. Mit seinem epischen Sinn für die wechselseitige Inspiration der Ethnien, Religionen und Kulturen rund ums Mittelmeer ist Énard ein Vordenker des Mediterranismus (Michael Herzfeld / David Abulafia) und zugleich eine Gegenfigur zu den identitären Bewegungen, ein ‚Anti-Houellebecq‘, dem es auf historische Durchleuchtung der Gegenwart ankommt, nicht auf düstere Zukunftsbilder von einer islamistischen Beherrschung Europas. Énard schreibt an einem kosmopolitischen Werk. Es ist ein Werk des Austauschs der Kulturen und ein Werk des Friedens. Das ist, auch im Gedenken an das Ende des „Grande Guerre“ vor hundert Jahren, von europäischer, ja globaler Bedeutung.
Und Beethovens Kompass?
Und von da aus wird auch die Geschichte von Beethovens Kompass erhellt. Beethoven besaß tatsächlich einen Kompass, ein kleines rundes Metallgerät mit farbigem Rahmen und Windrose. Es kam in den Besitz von Stefan Zweig, den man wegen seines Sammlereifers gelegentlich „Erwerbs-Zweig“ nannte, und wanderte dann über den Schweizer Mäzen Hans Conrad Bodmer ins Bonner Beethoven-Haus. Dort sieht man, dass Beethovens Gerät nach Norden weist. Aber Énards Erfindung hat eine Pointe. Mit der Nadel weist auch der historische Beziehungssinn nach Osten. Beethoven kannte den Orientalisten Hammer-Purgstall. Der hatte dem Komponisten vorgeschlagen, orientalische Texte zu vertonen. Daraus ist nichts geworden, außer dem Türkischen Marsch aus Beethovens Festspiel Die Ruinen von Athen (1811). Aber was bleibt, ist die Orientierung der Klassiker und der Modernen, sei es in der Literatur oder in der Musik, am Osten. So stattet Énard seine Romanfigur mit einem „der wenigen Kompasse aus, die in den Orient zeigen, dem Kompass der Erleuchtung. … Das Wesentliche ist, den Osten nicht zu verlieren“.
Die zitierten Werke von Mathias Énard sind beim Hanser Verlag (Berlin) erschienen und aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller.
Autor: Michael Braun
Stand: 2018
Husch Josten
* 1969 in Köln
Wittgenstein à l’aéroport
Wittgenstein à l’aéroport: So lautet der Titel der französischen Ausgabe des vorletzten Romans von Husch Josten. Was ein Philosoph im Roman zu suchen hat, kann man ja noch damit erklären, dass die Philosophie dem Autor beim Erzählen hilft – und dem Leser beim Denken. Besonders gilt das für Wittgenstein. Thomas Bernhard hat darüber den Roman Wittgensteins Neffe (1982) geschrieben, David Markson mit Wittgenstein‘s Mistress (1988) und Raouf Khanfir mit Wittgenstein (2012) sind ihm gefolgt. Etwas anders hat sich aber Husch Josten in ihrem Roman Hier sind Drachen mit dem berühmten Philosophen befasst. Der ist bei ihr nämlich mehr als nur eine Figur, der die Welt aus ihrer sprachlichen Logik heraus erkennt. Wittgenstein kommt aus der „Zeit der Zauberer“ (Wolfram Eilenberger), die in den 1920er Jahren das Denkgeheimnis einer von ihrer Sprache überforderten Moderne lüften wollten. Dieses Geheimnis besteht darin, dass die Welt zwar durch „Tatsachen“ bestimmt ist, aber nicht restlos erklärbar ist, weil immer etwas bleibt, das man nicht sagen, über das man nicht sprechen kann.
Wittgenstein ist ein guter Schlüssel zum Verständnis von Husch Jostens Romanen. Sie kommen mitten aus unserer Gegenwart, aus dem, was heute ‚der Fall ist‘. Es geht vor allem um die Herausforderungen von Fundamentalismus und Terrorismus. Zugleich stellen sie philosophische Fragen über Schicksal und Zufall, über Gott und die Welt. Dabei erzählt Husch Josten spannend und eindringlich – nicht so wie Wittgenstein, der 1929 seinen Doktorvätern in Cambridge ins Gesicht sagte, sie würden ja seine Thesen ohnehin nie verstehen.
Husch Josten, die im Alter von fünf Jahren ihre erste Schreibmaschine bekam, hat immer wieder ihre Leidenschaft zum Schreiben betont. Unterdessen ist die Reporterin längst zur Erzählerin geworden, die in der Linie des literarischen Journals (Heine, Fontane, Thomas Mann) steht. Über das Verhältnis von Fakten und Fiktion hat sie im Interview mit Laurie Durand (ENS Lyon) im Juni 2018 gesagt, ich zitiere:
„Der Journalismus hat sich sorgfältigst um Objektivität und Wahrheit zu bemühen, hat so sachlich wie möglich zu bleiben, hat die Pflicht, ein Geschehnis von allen Seiten zu beleuchten. Der fiktive Roman darf, was er möchte – erfinden, hinzufügen, abziehen; unsachlich, emotional, subjektiv, einseitig sein. Ich mag es sehr, die Genres durchaus verwirrend zu verbinden. Die Fakten in meiner Fiktion müssen stimmen. Der Rest nicht.“
Husch Jostens Figuren sind strauchelnde Sinnsucher. Sie wollen Wahrheiten begradigen, beschönigen oder einfach nicht wahrhaben. Ihr zweiter Roman Das Glück von Frau Pfeiffer (2012) spielt im bürgerlichen London zur Zeit der Finanzkrise um 2008. Eines Tages hört Lee, die Hauptfigur, in einem Londoner Café ein Handy-Telefonat mit und erfährt von einem scheinbaren Notfall: eine Pflegerin droht, die fast hundertjährige Aurora Pfeiffer zu verlassen. Mit ihrem tendenziell neurotischen Partner und Künstlerfreund Leo fragt sich Lee: Worum willen lebt diese uralte Frau noch, worin kann ihr Glück bestehen? Sie besucht die alte Dame. Die jedoch dreht den Spieß um und bohrt nach dem Sinn in Lees und Leos Leben. Glück: das ist hier kein praktisches Erfolgsrezept, gemischt aus Psychologie, Ökonomie, Sozialforschung, Bio- oder Neurowissenschaft. Glück ist eine Suchbewegung zwischen Schicksal und Zufall, 'bonheur' und 'béatitude', „happiness“ und „good luck“, gelingendem und durchkreuztem Leben.
Dass die „Welt des Glücklichen“ eine „glückliche Welt“ ist, das hat Wittgenstein einmal notiert und damit auf den philosophischen Anspruch des Glücks hingewiesen. In den Staatsrechtserzählungen der Neuzeit ist dieser Anspruch auf Glück mehrfach verankert: pursuit of happiness in der amerikanischen und als devise de la République „Liberté, Égalité, Fraternité“ in Artikel 2 der französischen Verfassung von 1958. In Jostens Roman ist dieses Glück bedroht durch platzende Aktienpakete und eine zerbrechende Weltwirtschaftsordnung. Aurora Pfeiffer will weg von England, sie will nach Frankreich, in ihre Heimat, die noch ein Fait accompli ist und kein Bekenntnis. Dort hat sie wegen der Hitler-Besatzung Teile ihrer Familie verloren, dort geht sie nun arglos über Friedhöfe, und es war, heißt es an ihrem Lebensende, „nichts Sentimentales, Schwermütiges an ihr zu entdecken, keine Furcht, kein Bedauern, nichts von der Depression des Todes.“
Um Erlösung und Erleuchtung, Orientierungsverlust und verwahrloste Ideen geht es in dem Roman Der tadellose Herr Taft (2014). Der Titelheld ist ein Ideensammler, der nach einem „Liebesverrat“ (Peter von Matt) sein Talent nutzbar macht: er verkauft sinnsuchenden Menschen sogenannte Themenkarten, zum Stückpreis von 3,50 Euro. Darauf steht oft nur ein einzelnes Wort wie „Zerinnerung“ oder „Mut“. Diese Ideenregister vermitteln „Illusionen von Gedankenfreiheit“, wie die Autorin sagt, aber zugleich sind sie Zeichen für eine Annäherung an Glück und Wahrheit, im persönlichen Leben wie im gesellschaftlichen und globalen Miteinander.
Der Durchbruch in der Kritik gelang Husch Josten mit ihren Romanen Hier sind Drachen 2017 und Land sehen 2018. Sie bekamen fast durchgehend glänzende Kritiken. Der Roman Hier sind Drachen ist ein politisch-philosophisches Kammerspiel. Ort der Handlung ist der Londoner Flughafen Heathrow. Am Terminal 2 sitzt die Erzählerin, eine Journalistin, wegen eines Terroralarms fest. Es ist Vormittag, der 14.11.2015. Sie selbst sollte nach Paris fliegen, zu Recherchen über das tatsächliche Attentat, das sich dort am Vortag ereignet hat. Jetzt sitzt ihr ein Mann gegenüber, vertieft in Wittgensteins Tractatus logico-philosphicus. Sie kommen ins Gespräch über die Logik des Zufalls und über die Gründe des Terrors – und damit kommen sie ins Fadenkreuz der Sicherheitsbeamten am Flughafen, an dem sich dann – hier wird die Erzählung zur Fiktion – ein weiteres Attentat ereignet.
Wittgenstein am Flughafen, Wittgenstein à l’aéroport ist wie eingangs gesagt der Titel der französischen Übersetzung von Jostens Roman im Januar 2018. Mit Wittgenstein geht es um die Frage: Wie kann man vom Terror erzählen? Und auch darauf gibt der Roman eine bemerkenswerte Antwort. Der Terror kann aus der Nähe vielleicht erklärt, aber nur aus der Distanz erzählt werden: mit dem Blick von London auf Paris. Und umgekehrt strahlt der Terror von Paris auf London aus, von der Wirklichkeit in die Fiktion, an einen anderen Ort, mit anderen Worten: auf der „Rückseite der Dinge“ wird der reale Terror zur Erzählung. Husch Josten findet eine Formel für diesen contrat sociale zwischen Zeitgeschichte und literarischem Erzählen: „In Geschichten und in der Historie geht es darum, die Zeit zu ordnen. […] Ziel der Erzählung ist niemals, eine endgültige Lösung für die Konflikte zu finden, sondern sie aushaltbar zu machen. Erträglich.“
Der Roman Land sehen (2018) ist eine Geschichte über die Wahrheiten in der Religion. Im Zentrum des Romans steht ein Religionsgespräch. Der Erzähler, ein Literaturprofessor aus Bonn, ist im Kloster Maria Laach. In der alten Jesuitenbibliothek spricht er mit Pater Andreas über seinen Onkel, der mit 70 Jahren in die Piusbruderschaft eingetreten ist. Es geht um Gottesglauben und Menschenrechte, um katholische Tradition und modernes Leben, um Mission und Soumission, Unterwerfung. Eine Antwort auf diese Fragen wird nicht gegeben. Aber der Richtungswechsel von der Aufklärung in die Moderne wird genau angegeben: Es geht statt um die Wahrheit der Religion nunmehr um die Freiheit der Religionsausübung, mit Pater Andreas' Worten: um eine „offensive Patchwork-Religiosität“, nicht um einen fundamentalistischen Glaubensstaat wie in Michel Houllebecqs Zukunftsroman Soumission (2015).
Philosophie, Zufall und Terror in Hier sind Drachen und Theologie, Schicksal und Glauben in Land sehen sind zwei Seiten der Medaille. Sie gehören jedoch eng zusammen. Wenn Religion im Namen der Gewalt auftritt, wird sie zum Terror. Husch Josten fragt, woher der Terror kommt und wo er in der Gesellschaft Folgen hat. Aber mit Antworten hält sie sich zurück. „Hier sind Drachen“: das weist auf die lateinische Inschrift „Hic sunt dracones“, mit der auf alten Landkarten unentdeckte Gebiete bezeichnet wurden. „Land sehen“: das ist eine Redewendung der deutschen Sprache für den Wunsch nach Ankunft und Sicherheit. Sie stammt aus dem Wortschatz der Seefahrer, die froh waren, wenn sie wieder Land sahen. Das kann bekanntes, aber auch unentdecktes Land sein, wo wiederum „Drachen“ hausen. Husch Josten erzählt von diesen Zwischenräumen zwischen den Fragen der Philosophie und den Antworten der Theologie, und sie erzählt anschaulich, spannend, dicht. Wovon man nicht sprechen kann, so könnte man einen berühmten Satz von Wittgenstein abwandeln, darüber muss man nicht schweigen, sondern man kann davon erzählen.
Autor: Michael Braun
Stand: 2019
Hans Pleschinski
* 23. Mai 1956 in Celle
Verlebendigte Geschichte
Sommer 1954: Thomas Mann ist in Düsseldorf, zu einer Lesung. Der fast achtzigjährige Nobelpreisträger logiert mit Familie im besten Haus am Ort, dem Breidenbacher Hof. Der ungeliebte Sohn Golo und die unverzichtbare Tochter Erika streiten sich: „Ich will, Madame Révolution, glaubwürdige Eliten und die gewahrte Form.“ – „Ich will die Menschenrechte, uneingeschränkt.“ – „Stil und Bildung garantieren die wahre Freiheit.“ – „Gerechtigkeit und Frieden sind das Muß.“ Bis die Mutter Katia dazwischenfährt und die „würdige Aufsicht“ in Gestalt ihres Mannes herbeiruft. Die kleine Szene steht in Hans Pleschinskis Roman Königsallee (2013). Sie verlebendigt eine wahre Geschichte. Mann war 1954/55 in Deutschland, die Familienbande in des Wortes zweifacher Bedeutung gab es auch, die Dialoge aber sind theaterreif erfunden. Hans Pleschinski nimmt sich der Aufgabe an, die Geschichte Deutschlands und Mitteleuropas zu revidieren, indem er ihre positiven Traditionen wachruft: das deutsche und französische Barock, die Aufbaujahre nach 1945, die Zeit nach der Wiedervereinigung. Das ist ihm bis 2019 in mehr als zwanzig Werken gelungen, in Romanen, Erzählungen, Essays, Übersetzungen und Briefeditionen, die sich auf biographisch-zeithistorische Spurensuche begeben.
Heimat ist für Hans Pleschinski ein ambivalenter Herkunftsraum. Die Lüneburger Heide, in der er am 23. Mai 1956 (in Celle) geboren wurde und aufwuchs, beschreibt er als „öde Weite, Leere“ (Die Ostheide, das tolle Nichts, 2003), in der es mehr Pferde als Bauern gab. Drei Kilometer von seinem Elternhaus entfernt verlief die Zonengrenze, der „Todesstreifen zwischen der DDR und der Bundesrepublik“, auf dem „die Todesschützen der Volksarmee auf Republikflüchtlinge zielten“. Zugleich erlebte er früh historische Orte, Biedermeierkirchen, Klöster und das Celler Schloss. „Für mich“, schreibt er, „existiert die Ostheide als geistige Lebensform und als wünschenswertes Fundament.“ In seinem autobiographischen Buch Ostsucht. Eine Jugend im deutsch-deutschen Grenzland (1993) bekennt er, „am Westweltsaum der NATO […] eine glückliche Kindheit und beste frühe Jugend“ zugebracht zu haben. Sein 1921 östlich von Frankfurt an der Oder geborener Vater übernahm nach dem Krieg im niedersächsischen Städtchen Wittingen die Schmiede der Eltern seiner Frau.
Von 1976 bis 1983 studierte Hans Pleschinski an der Ludwig-Maximilians-Universität München Germanistik, Romanistik und Theaterwissenschaft. 1984 schloss er sein Studium mit einer Magisterarbeit über Gottfried Benn ab. Neben der akademischen Ausbildung arbeitete er für Galerien, die Oper und den Film.
Hans Pleschinskis Entdeckungserlebnis war seine Flaubert-Lektüre um 1980. Im Werk des französischen Klassikers fand er den „Kampf zwischen den Wissensschätzen, Glücksversprechungen einerseits und dem Menschen andererseits, der nicht mehr für einen Gott und eine Ideologie zu leben vermag“, so heißt es in dem Essay Die goldenen Achtziger: meine Lektüren (1995).
Mit gleich drei Büchern debütierte Hans Pleschinski 1984 im Literaturbetrieb: Unter dem Titel Frühstückshörnchen erschienen zeitkritische Glossen und Satiren. Nach Ägypten, im Untertitel „Ein moderner Roman“, erzählt im Gestus eines Schelmenromans von einem jungen Ausreißer aus der niedersächsischen Provinz, der in den europäischen Kulturmetropolen klüger wird, aber nicht unbedingt klug. Beachtung in der Kritik fand vor allem der Roman Gabi Lenz. Werden & Wollen, eine Parodie auf die Innerlichkeitsliteratur der 1980er-Jahre in Gestalt der Biographie einer fiktiven Sozialarbeiterin, die sich mit verkorksten Beziehungsgeschichten ihren Weg zur Bestsellerautorin bahnt. Das Buch war so geschickt als Dokumentarfiktion getarnt, dass einige Leser gleich weitere Bücher der Autorin „Gabi Lenz“ bestellen wollten.
Für den Roman erhielt Pleschinski 1984 den Hungertuch-Preis, eine mit seinerzeit 1.000 D-Mark dotierte Auslobung des Frankfurter Kulturdezernats und des Schriftstellerverbands Hessen. Es war ein verheißungsvoller Start, Pleschinski wurde Autor des renommierten Verlags von Gerd Haffmans und ständiger Mitarbeiter beim Bayerischen Rundfunk.
„Lichter im Dunkel“: Geschichten aus dem Barockzeitalter
Schon während des Studiums zog es Hans Pleschinski mehr zu den vernachlässigten Vorklassikern der Literatur als zu ihren Kanonheiligen. Ihn rührte die Sprachkraft barocker Dichtungen und Memoiren an, die „nach dem so bedeutsamen Prinzip der Fallhöhe von Menschenruhm und Schicksal“ erzählen. Pleschinskis Band Byzantiner und andere Falschmünzer, 1997 im Schöffling Verlag erschienen, versammelt seine überarbeiteten Rundfunkessays, unter anderem über Pierre Corneille, Voltaire, Daniel Casper von Lohenstein, Ewald Christian von Kleist. Sie werfen „Lichter im Dunkel“ (so der Untertitel des Bandes) der deutsch-französischen Kulturgeschichte. Im Schlussessay wird André Gide, der 1947 für seinen Roman Die Falschmünzer den Literaturnobelpreis erhielt, als Vorläufer eines postmodernen Erzählens gewürdigt, das stets seine „Offenheit mitschildern“ kann.
Mit drei Editionen erinnert Hans Pleschinski an historische Figuren, die ihre Zeit, das 18. Jahrhundert, durch Briefe und Tagebücher profiliert haben. Für Aus dem Briefwechsel Voltaire – Friedrich der Große (1992) hat Pleschinski fast ein Drittel der gesamten Korrespondenz neu aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt und mit seinen eigenen Zwischentexten kommentiert. 1999 folgte eine Auswahl der Briefe der Madame de Pompadour, die der Übersetzer und Kommentator Pleschinski aus dem Schatten der Mätresse Ludwigs XV. hervorholt und als Vorkämpferin einer verfeinerten Zivilisation in Szene setzt. Die Übersetzung und Kommentierung von großen Teilen aus dem Geheimen Tagebuch des Herzogs von Croÿ, das im Erscheinungsjahr 2011 sogleich auf vier Auflagen kam, verhilft zur Wiederentdeckung eines erstaunlich modernen Europäers, der im Spätfeudalismus, am Vorabend der Französischen Revolution, freimütig und kultiviert mit den „Monarchen, Mätressen, Weltveränderern“ seiner Zeit verkehrt. 2012 wurde Hans Pleschinski vom französischen Botschafter mit dem Orden Chevalier des Arts et des Lettres der Republik Frankreich ausgezeichnet.
Hans Pleschinskis Nähe zum Barockzeitalter, das uns heute so fernliegt, kommt am besten in seiner Erzählung Der Holzvulkan zum Ausdruck. Das Buch erschien zuerst 1986 im Haffmans Verlag und wurde 1995 in Braunschweig sowie – in erweiterter Fassung – 2014 im C. H. Beck Verlag nachgedruckt. Es erzählt die unglaubliche, aber realhistorische Geschichte von einem „Staatsruinprojekt“: Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (1633–1714) wollte aus seinem Kleinfürstentum ein Wunderland der Künste machen und ließ in Salzdahlum ein Schloss errichten, das allerdings, weil es an Geld fehlte, nur aus Holz gebaut werden konnte, vom Fundament bis zu den Giebeln, auf denen dann Steinstatuen thronten. Kein Wunder, dass das Gebäude alsbald verfiel, dass die imitierten Marmorfliesen aufwellten und die Bretterwände verschimmelten; 1813 wurde das Schloss als Brennholz verkauft. Pleschinski erzählt die Geschichte von dem Schloss, das es nicht mehr gibt, als zeitlose Parabel der Vergänglichkeit und als Geschichtslektion vom Verfall der Utopien. Ein „einzigartiges Kapitel aus dem Prozess der Zivilisation“, schreibt Gustav Seibt in seinem Nachwort zur Neuausgabe.
Europäische Ensembleromane
Neben den historischen Romanen und Editionen aus dem Zeitalter der Aufklärer ist der europäische Ensembleroman ein zweiter Schwerpunkt des Schreibens von Hans Pleschinski. Verbunden sind diese Pole durch die europäische Geschichte. In den Ensembleromanen bildet der Autor Konstellationen von Figuren, die durch eine besondere Idee oder eine spezielle historische Situation miteinander verbunden sind.
Der Roman Brabant (1995) erzählt von einer vielfältigen Kulturgemeinschaft, die sich auf einem alten flämischen Hotelschiff nach Amerika aufmacht, um dort gegen den Aufbau eines Disney-Parks in Rom zu protestieren. Hinter dieser Fiktion steckt kein antiamerikanischer Impuls, wohl aber der Auftrag, nach den Wurzeln und Werten zu suchen, die den europäischen Nationen, die allesamt ihre Abgesandten auf dem Schiff haben, gemeinsam sind. Natürlich geht das nicht ohne Kontroversen ab. Fast alle Europa-Diskurse haben hier ihre Sprecher, der postkolonialistische wie der späthumanistische Diskurs ebenso wie der etatistische, der ethische und der ästhetische.
Das Ensemble im Roman Ludwigshöhe (2008) ist eine Gruppe Lebensmüder, die mit dem anbrechenden Frühling ihre Todessehnsucht und Suizidabsichten in schlichte Lebenslust umzuwandeln vermögen – ein umgekehrter Tod in Venedig.
Die Romane Königsallee (2013) und Wiesenstein (2018) erzählen aus den letzten Lebensjahren der Nobelpreisträger Thomas Mann und Gerhart Hauptmann. Beide sind durch die – im Grunde barocke – Frage nach Ruhm und Menschenvergänglichkeit verbunden, rivalisieren aber um die Rolle des Stellvertreters Goethes, um die Gewissensstimme der Nation. Thomas Mann erkannte Hauptmann als „König“ der Weimarer Republik an, wurde aber, weil dieser nach 1933 in Deutschland blieb, zum „Kaiser der Emigration“ (Hermann Kurzke). Pleschinski hält sich an die überlieferten Tatsachen aus den Biographien, er lässt Thomas Mann Lift fahren und Presseinterviews geben und Hauptmann 1945/46 mit Frau, Gärtner, Archivar, Masseur in seiner Villa „Wiesenstein“ im Riesengebirge residieren. Angereichert wird die Recherche um bislang unveröffentlichte Tagebuchnotizen (von Gerhart und Margarete Hauptmann), eigene Kommentare und erfundene Begegnungen, zum Beispiel von Thomas Mann mit seiner Jugendliebe Klaus Heuser. Hans Pleschinski erzählt die dramatischen Um- und Aufbrüche im Spiegel zweier großer Autoren, in deren Leben sich wiederum diese Umbrüche deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert dokumentieren. Derzeit arbeitet Pleschinski an einem dritten Nobelpreisträger-Roman, über Paul Heyse, aus dem er bei der Autorenwerkstatt der Konrad-Adenauer-Stiftung in Cadenabbia im Oktober 2019 eine Arbeitsprobe vorstellte.
Werte im Werk
Hans Pleschinski ist ein wertebewusster Autor. Gegen die Zumutungen, die die Geschichte dem Menschen aufbürdet, setzt er die Verbindung von Verantwortungsbewusstsein und Schönheitsgefühl. Aus seiner Kindheitserfahrung an der deutsch-deutschen Zonengrenze weiß er, was die Freiheit wert ist und dass eine Demokratie wehrhaft sein muss. Er tritt ein für einen „ganz traditionellen Humanismus, gemischt aus Freiheit, Bildung und vielleicht auch Formgefühl“, so schreibt er im Vorwort zu dem Band Byzantiner. In dem Sammelband konservativ?! (2019) gibt er, neben Beiträgen von Monika Grütters, Wolfgang Schäuble und Uwe Tellkamp, ein staatsbürgerliches Votum ab: Wie sein Vater, so schreibt er, baue er „auf einen gerechten Staat, auf eine humane Gesetzgebung [und] eine entspannte, aber zuverlässige Ordnung“.
Autor: Michael Braun
Stand: 2020
Barbara Honigmann
* 12. Februar 1949 in Ost-Berlin
(lebt seit 1984 in Straßburg)
Erzählendes Judentum
Jüdische Erinnerungsorte und das Fortleben jüdischer Traditionen im Abendland, deutsche Geschichte und europäische Gegenwart sind die Pole, zwischen denen sich Barbara Honigmanns Werke entfalten. „Wir können gar nicht nachdrücklich genug von den Juden als Juden sprechen, wenn wir von ihrem Schicksal unter den Deutschen sprechen“, so zitiert Barbara Honigmann den jüdischen Gelehrten Gershom Scholem in der Vorbemerkung ihres Bandes Unverschämt jüdisch (2021). Der Titel enthält ihre ästhetische Konfession. Angeregt von Jean-Paul Sartre, der in seinen Betrachtungen zur Judenfrage (1946) vom „juif inauthentique“ spricht, bekennt sie sich zu ihrem Judentum, in das sie am 12. Februar 1949 in Ostberlin als Kind jüdischer Remigranten hineingeboren wurde, um es „unverschämt zu leben“ und „auch so davon zu sprechen, zu erzählen und zu schreiben“. Honigmanns Judentum hat allerdings weniger mit politischem Status und sozialer Diversität zu tun wie bei Maxim Biller und Max Czollek. Ihre Zugehörigkeit zum Judentum schreibt sich vielmehr vom „Lernen und Wissen“ über ihre Vorfahren her, „als Reisende, als Fremde“. So sieht Barbara Honigmann sich selbst „in der Rolle als eine der letzten deutschen Juden“, die „immer noch deutsch und immer noch jüdisch“ ist. „Als Jude bin ich aus Deutschland weggegangen, aber in meiner Arbeit, in einer sehr starken Bindung an die deutsche Sprache kehre ich immer wieder zurück“, bekennt sie in ihrem Selbstporträt als Jüdin (1992).
Autobiographie, Familiengenealogie und jüdische Geschichte verbinden sich in Barbara Honigmanns Werken zu einer deutschen und jüdischen Identitätserzählung, die exemplarischen Charakter in Europa beansprucht, aktuell im Blick auf 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Die Autobiographie, der Blick auf das eigene Leben und das ihrer Eltern und ihrer Familie erlaubt ihr eine jüdische Perspektive auf die großen politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts: auf die Katastrophe des Holocaust ebenso wie auf neue Verheißungen des Sozialismus und auf deren Enttäuschungen; diese jüdische Perspektive schärft auch die Fragen nach Identität und Fremdheit, nach Integration und Ausschluss.
Vom Theater zum autofiktionalen Schreiben
Und so ist die Zugehörigkeit zur ‚zweiten Generation‘ für Barbara Honigmann mehr als nur das biographische Faktum, Nachfahrin von jüdischen Shoah-Überlebenden zu sein. Ihr Familien-Narrativ ist Anker einer kulturellen Identität, in der die Praxis moderner jüdischer Orthodoxie mit einer säkularen nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, politische Diktaturerfahrung mit der Reflexion von Heimat und Fremde zusammentrifft. In Straßburg, das als Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit in Europa auch ein ‚Jerusalem des Westens‘ genannt wurde, ist sie nach eigenen Worten 1984 „gelandet vom dreifachen Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das Thora-Judentum hinein.“
Barbara Honigmanns Weg zur Literatur begann in den 1970er-Jahren mit Theaterarbeit in Brandenburg und Berlin. Im Herbst 1986 debütierte sie mit den Erzählungen Roman von einem Kinde. Dieses erste literarische Werk der zweiten deutsch-jüdischen Generation kam auf die Bestenliste des Südwestfunks und wurde mit dem „aspekte“-Preis des ZDF ausgezeichnet. Ihre Erzählkunst besteht darin, autobiographische Erinnerungen mit fiktionalen Gedankenspielen, Wunschbildern und Symbolen zu „vermischen“ – wie sie 1986 im Gespräch mit Ariane Thomalla sagte – und so die „Schalen der Fremdheit“, die über der Vergangenheit liegen, zu durchstoßen. Sie braucht sich als Autorin nicht im Roman hinter der Erfindung zu verstecken, sondern – so sagt sie in ihren Zürcher Poetikvorlesungen (2002) – „fiktionalisiert sich beim autobiographischen Schreiben.“
Vater- und Mutterromane
In den folgenden Romanen und Essays (Damals, dann und danach, 1999; Das Gesicht wiederfinden, 2007) hat Barbara Honigmann vom europäischen Schicksal ihrer Familie erzählt. Mit kritischer Empathie und einer Erzählhaltung, die im Zweifelsfall den epischen Witz dem Gedanken vorzieht, nimmt sie die „zwischen-den-Stühlen-sitzende“ Erbschaft an. Sie führt die jüdischen Biographien auf ihre deutschen Wurzeln und europäischen Stationen zurück. Ihr Essay Von meinem Urgroßvater, meinem Großvater, meinem Vater und von mir (1995) beschreibt den Weg von der Emanzipation des bildungsbürgerlichen Judentums im 19. Jahrhundert (der Urgroßvater väterlicherseits gehörte zu den Pionieren des liberalen Reformjudentums) über die Assimilation (der Großvater väterlicherseits begründete an der Universität Gießen den Lehrstuhl für Medizingeschichte) und gescheiterte Symbiose (der Großvater mütterlicherseits, ein Angestellter bei der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens, wurde nach dem „Anschluss“ aus seiner Wohnung ausgewiesen und emigrierte 1939 nach London) bis zur Loslösung vom Judentum zugunsten der kommunistischen Partei: Der Vater Georg Honigmann (1903–1984) fand nach der Rückkehr aus dem englischen Exil im Kommunismus seine ideologische Heimat und machte in der DDR Karriere, bis 1953 als Chefredakteur der BZ am Abend, dann als DEFA-Produzent, ab 1966 als Direktor des politisch ambitionierten Kabaretts Die Distel, später als politischer Sachbuchautor, ein, wie Honigmann schreibt, „Jude ohne Bekenntnis“, „für die Genossen zu bürgerlich“, „für die richtigen Bürger zu bohèmehaft“.
Honigmanns zweites Prosawerk Eine Liebe aus nichts (1991) und ihr jüngster Roman Georg (2020) erzählen von den Ungereimtheiten im Leben ihres Vaters und von den Herausforderungen der Erinnerungskultur der zweiten Generation. Daneben steht ihr Buch über die Mutter: Ein Kapitel aus meinem Leben (2004) erzählt von der 1909 in Wien geborenen Alice beziehungsweise Lizzy Kohlmann und ihrem zeitweiligen Mann, dem britisch-russischen Doppelagenten Kim Philby, der zu einem Vorbild für die James Bond-Figur wurde.
Chronik von Exil und Emanzipation
Der Roman Soharas Reise (1996) ist eine fabelhafte Einführung in Honigmanns Erzählkunst und in ihre Themen: Es geht um Exil und Emigration, um Loyalität und Identität, um weibliche und weltliche Emanzipation, um Synagoge und Kopftuch – und um das Aufschreiben von Erinnerungen. Im Mittelpunkt steht eine jüdische Mutter Courage, deren Mann, ein bigotter Rabbi, eines Tages mit den gemeinsamen Kindern verschwindet. In der französischen Provinz beginnt eine spannende Kinderentführungs-Story, vor dem Hintergrund des Emigrationsschicksals sephardischer Juden; im Jahre 1492 wurden die Juden aus Spanien vertrieben oder gezwungen, zum katholischen Glauben überzutreten. Die Mehrheit ging ins Exil. Die in Spanien blieben, waren als „Neuchristen“ bekannt, ihre Nachkommen sind jedoch heute von den Nachkommen der Altchristen nicht mehr zu unterscheiden.
Auch in ihren Prosaminiaturen Am Sonntag spielt der Rabbi Fußball (1998), ursprünglich Kolumnen für eine Zeitung im Basler Dreiländereck, in dem Roman Chronik meiner Straße (2015) und vor allem in dem New York-Roman Das überirdische Licht (2008) beschreibt Honigmann ihre Rollen in jüdischen Communities, in der eigenen Familie, in Deutschland und in der Literatur. Der Briefroman Alles, alles Liebe! (2000) und der Theaterroman Bilder von A. (2013) führen ins Künstlermilieu der DDR der 1970er-Jahre, in denen Barbara Honigmann als Dramaturgin und Regisseurin am Brandenburger Theater, an der Volksbühne und am Deutschen Theater in Ostberlin tätig war. Zwischen Stille und Herzensbruch hat sie mit ihren Kapiteln aus der Geschichte des Exils, der DDR und des Judentums in Deutschland und Europa einen besonderen Weg gefunden: Sie porträtiert eindringlich und, wie sie sagt, „kosher light“ eine „jüdische Perspektive unserer Zeit“ (Oliver Jahraus). Am 3. Juli 2022 wird Barbara Honigmann im Weimarer Musikgymnasium mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet.
Autor: Michael Braun
Stand: 2022
Barbara Honigmann
* 12. Februar 1949 in Ost-Berlin
(lebt seit 1984 in Straßburg)
Erzählendes Judentum
Jüdische Erinnerungsorte und das Fortleben jüdischer Traditionen im Abendland, deutsche Geschichte und europäische Gegenwart sind die Pole, zwischen denen sich Barbara Honigmanns Werke entfalten. „Wir können gar nicht nachdrücklich genug von den Juden als Juden sprechen, wenn wir von ihrem Schicksal unter den Deutschen sprechen“, so zitiert Barbara Honigmann den jüdischen Gelehrten Gershom Scholem in der Vorbemerkung ihres Bandes Unverschämt jüdisch (2021). Der Titel enthält ihre ästhetische Konfession. Angeregt von Jean-Paul Sartre, der in seinen Betrachtungen zur Judenfrage (1946) vom „juif inauthentique“ spricht, bekennt sie sich zu ihrem Judentum, in das sie am 12. Februar 1949 in Ostberlin als Kind jüdischer Remigranten hineingeboren wurde, um es „unverschämt zu leben“ und „auch so davon zu sprechen, zu erzählen und zu schreiben“. Honigmanns Judentum hat allerdings weniger mit politischem Status und sozialer Diversität zu tun wie bei Maxim Biller und Max Czollek. Ihre Zugehörigkeit zum Judentum schreibt sich vielmehr vom „Lernen und Wissen“ über ihre Vorfahren her, „als Reisende, als Fremde“. So sieht Barbara Honigmann sich selbst „in der Rolle als eine der letzten deutschen Juden“, die „immer noch deutsch und immer noch jüdisch“ ist. „Als Jude bin ich aus Deutschland weggegangen, aber in meiner Arbeit, in einer sehr starken Bindung an die deutsche Sprache kehre ich immer wieder zurück“, bekennt sie in ihrem Selbstporträt als Jüdin (1992).
Autobiographie, Familiengenealogie und jüdische Geschichte verbinden sich in Barbara Honigmanns Werken zu einer deutschen und jüdischen Identitätserzählung, die exemplarischen Charakter in Europa beansprucht, aktuell im Blick auf 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Die Autobiographie, der Blick auf das eigene Leben und das ihrer Eltern und ihrer Familie erlaubt ihr eine jüdische Perspektive auf die großen politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts: auf die Katastrophe des Holocaust ebenso wie auf neue Verheißungen des Sozialismus und auf deren Enttäuschungen; diese jüdische Perspektive schärft auch die Fragen nach Identität und Fremdheit, nach Integration und Ausschluss.
Vom Theater zum autofiktionalen Schreiben
Und so ist die Zugehörigkeit zur ‚zweiten Generation‘ für Barbara Honigmann mehr als nur das biographische Faktum, Nachfahrin von jüdischen Shoah-Überlebenden zu sein. Ihr Familien-Narrativ ist Anker einer kulturellen Identität, in der die Praxis moderner jüdischer Orthodoxie mit einer säkularen nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, politische Diktaturerfahrung mit der Reflexion von Heimat und Fremde zusammentrifft. In Straßburg, das als Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit in Europa auch ein ‚Jerusalem des Westens‘ genannt wurde, ist sie nach eigenen Worten 1984 „gelandet vom dreifachen Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das Thora-Judentum hinein.“
Barbara Honigmanns Weg zur Literatur begann in den 1970er-Jahren mit Theaterarbeit in Brandenburg und Berlin. Im Herbst 1986 debütierte sie mit den Erzählungen Roman von einem Kinde. Dieses erste literarische Werk der zweiten deutsch-jüdischen Generation kam auf die Bestenliste des Südwestfunks und wurde mit dem „aspekte“-Preis des ZDF ausgezeichnet. Ihre Erzählkunst besteht darin, autobiographische Erinnerungen mit fiktionalen Gedankenspielen, Wunschbildern und Symbolen zu „vermischen“ – wie sie 1986 im Gespräch mit Ariane Thomalla sagte – und so die „Schalen der Fremdheit“, die über der Vergangenheit liegen, zu durchstoßen. Sie braucht sich als Autorin nicht im Roman hinter der Erfindung zu verstecken, sondern – so sagt sie in ihren Zürcher Poetikvorlesungen (2002) – „fiktionalisiert sich beim autobiographischen Schreiben.“
Vater- und Mutterromane
In den folgenden Romanen und Essays (Damals, dann und danach, 1999; Das Gesicht wiederfinden, 2007) hat Barbara Honigmann vom europäischen Schicksal ihrer Familie erzählt. Mit kritischer Empathie und einer Erzählhaltung, die im Zweifelsfall den epischen Witz dem Gedanken vorzieht, nimmt sie die „zwischen-den-Stühlen-sitzende“ Erbschaft an. Sie führt die jüdischen Biographien auf ihre deutschen Wurzeln und europäischen Stationen zurück. Ihr Essay Von meinem Urgroßvater, meinem Großvater, meinem Vater und von mir (1995) beschreibt den Weg von der Emanzipation des bildungsbürgerlichen Judentums im 19. Jahrhundert (der Urgroßvater väterlicherseits gehörte zu den Pionieren des liberalen Reformjudentums) über die Assimilation (der Großvater väterlicherseits begründete an der Universität Gießen den Lehrstuhl für Medizingeschichte) und gescheiterte Symbiose (der Großvater mütterlicherseits, ein Angestellter bei der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens, wurde nach dem „Anschluss“ aus seiner Wohnung ausgewiesen und emigrierte 1939 nach London) bis zur Loslösung vom Judentum zugunsten der kommunistischen Partei: Der Vater Georg Honigmann (1903–1984) fand nach der Rückkehr aus dem englischen Exil im Kommunismus seine ideologische Heimat und machte in der DDR Karriere, bis 1953 als Chefredakteur der BZ am Abend, dann als DEFA-Produzent, ab 1966 als Direktor des politisch ambitionierten Kabaretts Die Distel, später als politischer Sachbuchautor, ein, wie Honigmann schreibt, „Jude ohne Bekenntnis“, „für die Genossen zu bürgerlich“, „für die richtigen Bürger zu bohèmehaft“.
Honigmanns zweites Prosawerk Eine Liebe aus nichts (1991) und ihr jüngster Roman Georg (2020) erzählen von den Ungereimtheiten im Leben ihres Vaters und von den Herausforderungen der Erinnerungskultur der zweiten Generation. Daneben steht ihr Buch über die Mutter: Ein Kapitel aus meinem Leben (2004) erzählt von der 1909 in Wien geborenen Alice beziehungsweise Lizzy Kohlmann und ihrem zeitweiligen Mann, dem britisch-russischen Doppelagenten Kim Philby, der zu einem Vorbild für die James Bond-Figur wurde.
Chronik von Exil und Emanzipation
Der Roman Soharas Reise (1996) ist eine fabelhafte Einführung in Honigmanns Erzählkunst und in ihre Themen: Es geht um Exil und Emigration, um Loyalität und Identität, um weibliche und weltliche Emanzipation, um Synagoge und Kopftuch – und um das Aufschreiben von Erinnerungen. Im Mittelpunkt steht eine jüdische Mutter Courage, deren Mann, ein bigotter Rabbi, eines Tages mit den gemeinsamen Kindern verschwindet. In der französischen Provinz beginnt eine spannende Kinderentführungs-Story, vor dem Hintergrund des Emigrationsschicksals sephardischer Juden; im Jahre 1492 wurden die Juden aus Spanien vertrieben oder gezwungen, zum katholischen Glauben überzutreten. Die Mehrheit ging ins Exil. Die in Spanien blieben, waren als „Neuchristen“ bekannt, ihre Nachkommen sind jedoch heute von den Nachkommen der Altchristen nicht mehr zu unterscheiden.
Auch in ihren Prosaminiaturen Am Sonntag spielt der Rabbi Fußball (1998), ursprünglich Kolumnen für eine Zeitung im Basler Dreiländereck, in dem Roman Chronik meiner Straße (2015) und vor allem in dem New York-Roman Das überirdische Licht (2008) beschreibt Honigmann ihre Rollen in jüdischen Communities, in der eigenen Familie, in Deutschland und in der Literatur. Der Briefroman Alles, alles Liebe! (2000) und der Theaterroman Bilder von A. (2013) führen ins Künstlermilieu der DDR der 1970er-Jahre, in denen Barbara Honigmann als Dramaturgin und Regisseurin am Brandenburger Theater, an der Volksbühne und am Deutschen Theater in Ostberlin tätig war. Zwischen Stille und Herzensbruch hat sie mit ihren Kapiteln aus der Geschichte des Exils, der DDR und des Judentums in Deutschland und Europa einen besonderen Weg gefunden: Sie porträtiert eindringlich und, wie sie sagt, „kosher light“ eine „jüdische Perspektive unserer Zeit“ (Oliver Jahraus). Am 3. Juli 2022 wird Barbara Honigmann im Weimarer Musikgymnasium mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet.
Autor: Michael Braun
Stand: 2022
Lutz Seiler
* 8. Juni 1963 in Gera
Wie Freiheit möglich wird
Lutz Seiler, der Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung 2023, wird von der Jury als rundum gewichtiger Autor gewürdigt, dessen Werke von poetischer Sprachkraft und zeitpolitischer Intensität zeugen. Sowohl in der Lyrik, in den Essays und vor allem in den größeren Prosawerken, in den beiden Romanen Kruso und Stern 111, die vor und nach dem Mauerfall spielen, habe er der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur neue Impulse gegeben. Seine literarische Aufarbeitung des Übergangs von der DDR zu Bundesrepublik sei überraschend anders, politisch sensibel, literarisch hochinnovativ und mit den Werten der Stiftung vertraut.
Heimaten
Lutz Seiler wurde am 8. Juni 1963 in Gera geboren und wuchs in der ostthüringischen Provinz um Ronneburg auf, einem ehemaligen Kurort, dessen Heilquellen ihrem Ruhm dem Radium verdanken. Seilers Großvater arbeitete im Uranuntertagebau der Sowjetisch-Deutschen AG Wismar, die spaltbares Material für russische Atombomben aus der Erde holte. Seilers Vater war ursprünglich Weber und arbeitete dann als Lehrer für Computersprachen. Im Zuge des Uranabbaus wurde Seilers Heimatdorf Culmitzsch im Jahr 1968 geschleift. „Abwesenheit, Müdigkeit und Schwere“ hätten seine Jugend geprägt, bekannte er in seinem Essay Heimaten (2001).
Nach dem Militärdienst war Lutz Seiler als Baufacharbeiter, Zimmermann und Maurer tätig, im Sommer 1989 arbeitete er als Abwäscher auf Hiddensee, von 1991 bis 1994 in einer Berliner Souterrain-Kneipe in der Oranienburger Straße. Bis Anfang 1990 studierte er Geschichte und Germanistik an der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale).
Seit 1997 leitet er das literarische Programm im Peter-Huchel-Haus bei Potsdam. Seiler lebt als freier Schriftsteller mit seiner Frau, einer schwedischen Germanistin und Übersetzerin, in Wilhelmshorst und Stockholm. Lutz Seiler war Gast in der Villa Aurora in Los Angeles (2003) und der Villa Massimo in Rom (2011). Er war Gastprofessor am Literaturinstitut in Leipzig (2005/06), hatte die Mainzer und die Heidelberger Poetikdozentur inne (2014 und 2015). Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (seit 2012), der Akademie der Künste in Berlin, der Sächsischen Akademie der Künste und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur sowie des PEN Deutschland.
Von der Lyrik zum Roman
Seilers Schreiben begann erst spät, beim Militär. Am Anfang stand Lyrik, später folgten Essays, Erzählungen und Romane. Die Aufmerksamkeit der Lyrikszene war ihm mit dem Debütband berührt/geführt (1995) und durch von ihm mitherausgegebene Literaturzeitschrift moosbrand (1994-1999) sicher. Mit seiner zweiten Gedichtsammlung pech & blende (2000) gelang ihm der Durchbruch. Der Titel ist ein Schreibprogramm: Der Dichter spaltet ein Element – die „Pechblende“, das Mineral, aus dem 1789 das zunächst für Uran gehaltene Schwarzpulver isoliert wurde – und rüstet es poetisch auf für die „ganze politische Welt […] von Uran, Pechblende, Isotop 235“ (wie es in Gottfried Benns Berliner Novelle Der Ptolemäer, 1947 heißt). Seilers Buch verdichtet Bilder und Szenen aus der ehemaligen DDR, ganz ohne Ostalgie. Dem „Euphoriebefall“ der Wendezeit setzte Seiler eine prägnante Beschreibung einer Zeitenwende entgegen. Das brachte ihm zahlreiche Preise ein, u.a. den Kranichsteiner Literaturpreis (1999), den Dresdner Lyrikpreis (2000), den Lyrikpreis Meran (2000), den Ernst-Meister-Preis (2003), den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (2004), zuletzt den Fontane-Preis (2010), den Uwe-Johnson-Preis (2014), den Marie-Luise-Kaschnitz-Literaturpreis (2015), den Thüringer Literaturpreis (2017), den Preis der Leipziger Buchmesse und den Kakehashi-Literaturpreis (beide 2020).
Gründliche Sprachreflexion, „Heimat als Gangart“ und Gespür für zeitgeschichtliche Ablagerungen finden sich auch in den folgenden Lyrikbänden vierzig kilometer nacht (2003), felderlatein (2010) und schrift für blinde riesen (2021). Die konsequente Kleinschreibung in der Lyrik zollt vom Respekt des Dichters vor den kleinen Dingen, seine Aufmerksamkeit gilt dem Ton der erlebten Geschichte, von dem das Gedicht ‚erzählt‘.
Ab 2003 wandte sich Seiler der Prosa zu. 2007 erhielt er für Turksib den mit 25.000 Euro dotierten Hauptpreis des Ingeborg-Bachmann-Preises und den Beifall der Presse. Die 2008 publizierte Erzählung erzählt von der skurrilen Begegnung eines russischen Heizers mit einem ostdeutschen Schriftsteller auf einer Bahnreise in die radioaktiv verseuchte kasachische Ebene. Der Rheinische Merkur (5.7.2007) attestierte Seilers Prosa „einen stilistisch eindringlichen leisen Ton“, die Süddeutsche Zeitung (3.7.2007) fand darin den „Ton seiner Lyrik“ wieder. Ebenso einmütig feierte die Kritik den Band Die Zeitwaage, der 14 Erzählungen über die Kindheit in Thüringen enthält.
Einem großen Publikum bekannt wurde Seiler durch seine Romane Kruso (2014) und Stern 111 (2020). Kruso wurde mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, für die Bühne (2015) und für den Film (2018) adaptiert und in 25 Sprachen übersetzt; Stern 111 stand im April 2020 auf der SWR Bestenliste und auf der Spiegel Bestsellerliste. Kruso ist nach einem gescheiterten Romanversuch in der Villa Massimo entstanden; es ist kein Abenteuer- und kein Wenderoman, vielmehr wird eine Geschichte vom Weg zur Freiheit erzählt. Es ist die in der Wendezeit 1989/90 verankerte Robinsonade von einem Abwäscher auf Hiddensee, der sein „Land verlassen hat, ohne die Grenze zu überschreiten“ und in der Tafelrunde einer Inselkneipe nach seinem Ort zwischen Utopie und Melancholie, zwischen Stasi und Subversion sucht. Die Kritik hat den Roman als Vorbild für eine andere literarische Zeitgeschichtsschreibung gewürdigt, ebenso wie den Folgeroman Stern 111, der seinen Titel dem Transistorradio verdankt, das Seilers Vater 1964 für damals 380 Mark erwarb und an den Sohn weitergab. Dieses Medium trägt nicht nur den Ton der diesmal nach der Wende spielenden Geschichte der globetrottenden Eltern und ihres berlinfixierten Sohns, des „Erbverweigerers“ Carl, sondern auch den Ton des Erzählens, das mit Uwe Johnson und Wolfgang Hilbig verglichen wurde.
Ein Lyriker, der Romane schreibt
Damit erneuert Lutz Seiler die homerische Verbindung zwischen dem Epischen und der Lyrik. „Jedes gute Gedicht könnte so der metaphorische, rhythmische oder gestische Kern eines Romans sein. Der narrative Gestus schafft die Verbindung zum Ursprung des Genres, zum Epos und seinen Sängern“, schreibt er in Sonntags dachte ich an Gott, der den gleichnamigen Essayband beschließt (2004). Der Autor hat bekannt, jeden seiner Texte auch zu sprechen: „Das Ohr ist der Zensor. Auch für die Wortwahl“, erklärte er in einem Interview (Die Welt, 8.10.2014).
Lutz Seiler schreibt nah an der Zeitzeugengeschichte, anschaulich, mit wenigen, aber reich variierten und vielschichtigen Bildern und Motiven. Wie ein Sprachgeologe erkundet er in seiner Lyrik und Prosa den Satzbau seiner thüringischen Herkunftslandschaft, durchleuchtet er die Attrappen der DDR-Geschichte und befragt er die Rolle der Ostdeutschen als „Avantgarde der Nachhaltigkeit“ (Autorengespräch mit Jan Wiele, faz-online, 21.09.2020). Sein Thema ist die narrative Neuordnung der Menschen in einer Zeitenwende. Lutz Seiler erzählt, bis zu welchem Grad eine Gesellschaft Führung und Gefolgschaft verträgt und wie Freiheit angesichts von großem politischem Normenwandel möglich ist. Er war viermal Teilnehmer der Autorenwerkstatt der Stiftung in Cadenabbia (2001, 2004, 2006, 2007) und hat mehrfach auf KAS-Veranstaltungen gelesen, u.a. bei den Berliner Akademielesungen (2015).
Autor: Michael Braun
Stand: 2023
Ulrike Draesner
* 1973 in München
Ulrike Draesner, geboren 1962 in München, beschreibt sich auf ihrer Website so: „[…] neugierig, Kindheit unterm Tisch: beobachten! […] Lebt seit 1996 in Berlin, erzieht ein Kind, schreibt Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays. Liebt Naturwissenschaften, führt Hund aus, damit sie sich bewegt. Liebt: Menschenkunde. Betreibt draesner.de“.
Biographie
Ulrike Draesners Großeltern kamen nach 1945 „flüchtlingsfremd“ aus Schlesien in Bayern an. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft, Anglistik und Germanistik in München, u.a. bei dem ehemaligen Vertrauensdozenten und ersten Literaturpreislaudator der Konrad-Adenauer-Stiftung, dem Germanisten Prof. Dr. Wolfgang Frühwald, und in Oxford hat Ulrike Draesner 1992 eine mediävistische Doktorarbeit geschrieben.
Sie hatte mehrere Poetik- und Gastdozenturen inne, in Birmingham und Oxford, Bamberg, Wiesbaden, Heidelberg und Frankfurt am Main (2017). Sie ist Mitglied der Berliner Akademie der Künste, der Nordrhein-Westfälischen-Akademie der Wissenschaften und Künste und der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. Seit 2018 ist sie Professorin für deutsche Literatur und literarisches Schreiben an der Universität Leipzig und Erasmus-Koordinatorin am dortigen Deutschen Literaturinstitut.
Literarisches Werk
Ulrike Draesner hat ein außerordentlich vielseitiges literarisches Werk vorgelegt. Es besteht vor allem aus Romanen und Erzählungen, zuletzt aus der fast zweitausendseitigen Trilogie von europäischer Flucht und Vertreibung (Sieben Sprünge vom Rand der Welt, Schwitters, Die Verwandelten). Aus der Essayistik ragen ihre Bände über weibliche und männliche Schriftsteller hervor: Schöne Frauen lesen (2013) u.a. über Bachmann und Woolf, Heimliche Helden (2013), u.a. über Kleist und Benn; sowie der autobiographische Essay Eine Frau wird älter (2018), der Defizitzuschreibungen des Alterns in Frage stellt. Ihre Lyrikbände aus 25 Jahren sind gesammelt in dem Band hell & hörig (2022). Einige von Draesners Texten sind im Besitz der Nationalbibliothek der Schwedischen Akademie und stehen neben denen der Nobelpreisträgerin Louise Glück, deren Gedichte Ulrike Draesner aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übersetzt hat. Auch hat sich Ulrike Draesner unter die Shakespeare-Übersetzer eingereiht (mit den Sonetten Twin Spin, 2000).
Unter ihren multimedialen und interdisziplinären Projekten sind das space poem (ein begehbares Gedicht) mit dem land art-Künstler Andreas Schmitt in Calcutta und Hongkong (2002), das Libretto für die Musiktheaterproduktion Tre Volti für die Schwetzinger Festspiele (2017) sowie ihr und Stefan Harders Videoexperiment aus dem Jahr 2019 mit dem Titel Exit Erdbeerklee aus dem Jahr 2019 hervorhebenswert. Dieses Filmgedicht zeigt Ansichten eines Leipziger Auwaldes. Derweil hören wir die Autorin mehrfach ein Gedicht lesen, aus dem aber bei jeder Wiederholung Buchstaben und Laute verschwinden, so dass das Sprechen immer fremdartiger und unverständlicher klingt. Artensterben und Sprachverkümmerung werden so auf irritierende Weise zusammengeschaltet. Auf die Gemeinschaft der Wörter zu achten, bedeutet auch, sich um die Vielfalt der Arten zu kümmern.
In der Kritik gilt Ulrike Draesner als eine der vielseitigsten und sprachbewusstesten Autorinnen der Gegenwartsliteratur. Die schwedische Germanistin Elisabeth Wåghäll Nivre rühmt Draesners Sprachfertigkeit, ihr analytisches Vermögen und ihre rhetorischen Fähigkeiten. Jüngste Konferenzen in Oxford und in Breslau haben ihrem Werk eine außerordentlich große kulturwissenschaftliche Beachtung geschenkt.
Auszeichnungen und Gastspiele in der Adenauer-Stiftung
Ulrike Draesner hat regelmäßig literarische Auszeichnungen erhalten, jedoch bis auf den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds (2021) noch keinen der renommierteren deutschen Literaturpreise: 2013 Roswitha-Literaturpreis der Stadt Bad Gandersheim, 2014 Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik, 2015 Usedomer Literaturpreis, 2016 Nicolas-Born-Preis, 2016 Lyrikpreis Orphil, 2019 Gertrud Kolmar Preis, 2020 Bayerischer Buchpreis, 2020 Preis der LiteraTour Nord, 2020 Deutscher Preis für Nature Writing, 2020 Ida Dehmel-Literaturpreis. Im September 2023 erhielt sie den Spycher: Literaturpreis Leuk.
Ihre Romane wurden mehrfach für Buchpreise nominiert, zuletzt Die Verwandelten (2023) für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023. Ihr Roman Sieben Sprünge (2014) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2014. Am 23. Juni 2024 erhält sie den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Ulrike Draesner hat mehrfach an Lesungen und Europa-Konferenzen der Konrad-Adenauer-Stiftungen mitgewirkt, zuletzt im November 2023 bei den Schweriner Literaturtagen (mit dem dortigen Landesforum der KAS) und im studio online der Kulturabteilung im März 2023.
Begründung
Ulrike Draesner hat ein außerordentlich vielfältiges prosapoetisches und multimediales Werk vorgelegt. Es besteht aus Romanen und Erzählungen, Essays und Reiseberichten, Lyrik und Libretti, Rundfunkarbeiten und Kurzvideos.
Ihre literarischen Leitthemen reflektieren aktuelle politische Diskurse der Zeitgeschichte: das transnationale Gedächtnis von Flucht, Vertreibung und Exil (in der Trilogie); das soziale Wechselspiel der Geschlechterrollen und die Frage nach der eigenen Identität (in den Erzählungen Hot Dogs, 2004, und Richtig liegen, 2011); die Rolle von Sprache und Liebe im Anthropozän (in den Romanen Vorliebe, 2010, und Mitgift, 2002); die Auseinandersetzung mit Reproduktionstechniken (Organverpflanzung, Genbiologie, Datenspeicherung) und mit dem Menschenbild der Hirnforschung und der Transplantationsmedizin (in Essays und Gedichten); das Herausschreiben der Kunst aus der Tradition (in ihrer Migration und Populismus verarbeitenden Nachdichtung Nibelungen. Heimsuchung, 2016); die Verantwortung des Menschen für die Natur im Anthropozän (Der Kanalschwimmer, 2019).
Aus Ulrike Draesners Werk ragt die oben schon genannte Romantrilogie über die europäische Gewaltgeschichte heraus. Sie zieht darin eine nachhaltige Summe aus der Trauer- und Trauma-Geschichte von Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert. Sie selbst zählt sich, im Anschluss an Sabine Bodes Kriegsenkel (2009), zu den „Nebelkindern“, die im Schweigen der Kriegskinder und Kriegs-Zeitzeugen groß wurden. Die Verwandelten wurde in der Kritik als Roman gewürdigt, der das Gedächtnis der Generationen erneuert: über Mütter im Krieg, verwandelte Töchter und aufklärende „Nebelkinder“, eine Geschichte über starke weibliche Biographien und über die Gewalt, die ihnen in der europäischen Zeitgeschichte angetan worden ist. Draesners Spiele (2005) ist der erste Roman der deutschen Literatur über das Terrorattentat in München 1972, den globalen Terrorismus und Verschwörungstheorien nach 9/11.
In formaler Virtuosität, nach intensiver biographischer Recherche und mit enormer poetischer Imagination zeugt Ulrike Draesners Schreiben von der Freiheit der Kunst. In ihrem Roman Schwitters setzt sie mit Schwitters‘ Merz-Bau jener Freiheit der Kunst in der Weimarer Republik ein Denkmal, die durch die antisemitische Eliminierung jüdischen Lebens abgebrochen wurde. Zu ihrem Schreiben sagte sie in den Bamberger Vorlesungen Zauber im Zoo (2007): „Das Recherchierte, das bereits Fiktion ist (Auswahl, Bericht, Konstruktion einer Geschichte) muss über-erfunden werden in Atmosphäre und inneres Verstehen. Gedächtnis und Wahrnehmung, Zeugenschaft und das Zielen auf Wirklichkeiten rücken – uns – in den Blick“.
Ulrike Draesners Werke halten – mit hochentwickeltem Sprachbewusstsein – die literarischen Signale politischer Vorgänge in Zeitenwenden fest und bestärken die Erneuerungskraft der Literatur: „Wir sind hineingeflogen worden in eine Zeit, in der das Beharren auf Kultur wieder nötig sein wird“, schreibt sie in ihrem Essay über Thomas Mann, 2002). Und in dem Gespräch über Deutschland (2024) das sie mit dem New Yorker Übersetzer und Philosophen Michael Eskin geführt hat, plädiert sie für eine „critical Germanness“. Das meint für sie aber kein kritisches, sondern ein kundiges „Deutschsein, das erlaubt, Geschichten zu erzählen statt Etiketten zu verteilen“, „ein Deutsch mit Zusätzen, mit Geschichte, mit Verantwortung, Anerkennung von Differenz – und mit Humor statt Reinheitsgebot“, auch und besonders sprachlich.
Autor: Michael Braun
Stand: 2024
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