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Die europäische Stimme der bürgerlichen Mitteparteien

EVP: Die proeuropäische Kraft im Europäischen Parlament

Gemeinsam mit vier Experten haben wir die verschiedenen historischen und nationalen Traditionen innerhalb der EVP und ihrer politischen Strömungen beleuchtet und über das Verbindende diskutiert.

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Bei der Europawahl im Juni 2024 geht es um den Einfluss, den die parlamentarische Vertretung der ca. 450 Mio Einwohnerinnen und Einwohner der EU auf die Politik der Mitgliedstaaten in Brüssel und auf die Besetzung der herausgehobenen Position des Kommissionspräsidenten haben wird. Der europäische Rat der Staats- und Regierungschefs schlägt dem Parlament zwar einen Kandidaten/eine Kandidatin vor, muss dabei aber das Ergebnis der Wahlen berücksichtigen. Das Europäische Parlament kann diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner dann 720 Mitglieder wählen oder ablehnen. Eine bürgerliche Mehrheit der Mitte zu erlangen, wird nach heutigen Prognosen nicht einfach. Aufgrund vorsichtiger Umfrageergebnisse in den Mitgliedstaaten ergibt sich aus dem EVP-Parteienbaromter der KAS (Stand 16.10.2023, S. 14), dass eine entscheidungsfähige Mehrheit von 361 Sitzen des Parlaments nur durch eine Dreier- oder Viererkoalition mit der EVP als stärkster Fraktion (derzeit geschätzt zwischen 156 und 175 Sitzen) zu zustande kommen kann.

Mit unserer dreiteiligen Veranstaltungsreihe zur Europäischen Volkspartei haben wir mit erfahrenen und langjährigen politischen Managern und Beobachtern der EVP das Profil der Partei, die politischen Strömungen und nationalen Traditionen, die Gemeinsamkeiten und die unterschiedlichen Ausprägungen der europäischen bürgerlichen Mittepartei in den nord-, mittelost-, süd- und westeuropäischen EVP-Mitgliedsparteien analysiert. Es ging dabei nicht nur ums Grundsätzliche, sondern um die Positionen z. B. in der Wirtschafts-, Gesellschafts- oder Migrationspolitik der EVP-Mitgliedsparteien in ihren Herkunftsstaaten und um die Frage, auf welcher gemeinsamen Grundlage politische Unterschiede in der EVP ausbalanciert werden.

Klaus Welle stellte gleich zu Beginn in der ersten Veranstaltung die zentrale Rolle der christlichen Demokraten aus Deutschland beim Ausgleich der sozial-marktwirtschaftlichen, liberal rechtsstaatlichen, liberal-konservativen und noch stark katholisch geprägten Parteien heraus. Christian Kremer öffnete den Fächer zwischen den religiös eher schwach geprägten tschechischen und estnischen Mitgliedern auf der einen Seite und der slowakischen Partei Christliche-demokratische Bewegung sowie der Christlich-demokratischen Volkspartei in Ungarn auf der entgegengesetzten Seite. Auch bei den finnischen, dänischen und schwedischen EVP-Partnern nehme das Christdemokratische einen geringeren Stellenwert ein als in Deutschland und den Benelux-Mitgliedern. Trotz fortschreitender Säkularisierung gäbe es aber auch in Rumänien und Polen immer noch eine höhere kirchliche Bindung in den Mittelparteien.

Kontroversen innerhalb der EVP ergäben sich daher im Bereich der Gesellschaftspolitik, bei Minderheitenfragen, Abtreibung und gleichgeschlechtlicher Partnerschaft, während in der Migrationspolitik die Unterschiede zu den west- und nordeuropäischen der EVP-Mitgliedsparteien abnähmen. Kremer begründete die gesellschaftspolitisch konservativeren Positionen in den mittelosteuropäischen Staaten mit der Transformationserfahrung.

Da die mittelosteuropäischen Parteien Europa aber als „Machtverstärker“ (Olaf Wientzek) sähen, träten sie in Erweiterungsfragen als Antreiber auf, stünden allerdings strukturellen und institutionellen Diskussionen eher distanziert gegenüber. Den gemeinsamen Nenner der mittelosteuropäischen EVP-Parteien sah Olaf Wientzek im Antikommunismus, der klaren Ablehnung des russischen Angriffs auf die Ukraine, der Unterstützung des osteuropäischen EU-Nachbarn, in der proatlantischen Ausrichtung und in einem grundsätzlichen Bekenntnis zum Integrationsprozess.

Diskutiert wurde auch die Haltung der mittelosteuropäischen Parteien zum Rechtspopulismus und zur Zusammenarbeit mit diesen Parteien. Olaf Wientzek vertrat die Auffassung, dass die EVP Akteure, die sich rechts der Mitte verorteten oder dahin abzuwandern drohten, binden könne, während Siebo Janssen vor einer schnellen Aufnahme von Parteien rechts der Mitte wie etwa den Fratelli d’Italia von Regierungschefin Giorgia Meloni warnte. Beide waren sich aber einig, dass die Brandmauer gegen den Rechtspopulismus nicht geschliffen werden dürfe. Kremer wies indes darauf hin, dass z.B. in den Niederlanden die christdemokratische Schwesterpartei der CDU für ihre klare Haltung zum Rechtspopulismus einen erheblichen Stimmenrückgang habe hinnehmen müssen, der wiederum zu einem Einfluss- und Gestaltungsverlust geführt habe.

Für eine Aufnahme der Fratelli Melonis in die EVP sei es dennoch trotz proeuropäischer, proukrainischer Positionen sowie dem Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft, zur transatlantischen Partnerschaft und zu einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik noch zu früh, da besonders die Gründungsparteien der EVP dem kritisch gegenüberstünden. Anerkannt werden müsse aber, dass sich Meloni in der Migrationspolitik sehr konstruktiv verhalten habe und rechtspopulistische Aussagen seit der Regierungsübernahme bei ihr keine Rolle mehr spielten. Siebo Janssen sah darin allerdings nur einen taktischen Zug Melonis, da die alten Kader in der Partei immer noch eine Rolle spielten. Einem raschen Wechsel Melonis zur EVP stehe alleine schon die Tatsache entgegen, dass sie Parteivorsitzende der Europäischen Konservativen und Reformer, einer rechtspopulistischen (AfD in Deutschland, Vox in Spanien, PiS in Polen), europaskeptischen und nationalkonservativen europäischen Partei sei. Die EVP  bleibe hingegen eine proeuropäische gestalterische politische Kraft, die Europa durch sieben Maßnahmen („7D“) zu einer höheren Krisenresilienz verhelfe: Debt, Decarbonisation/Energy Security, Defence, Demoracy, Demography, De-risking und Digital Single Market.

Kremer, Welle und Wientzek sahen die Zukunft der Zusammenarbeit daher eher entlang inhaltlicher Konvergenzen bei einzelnen politischen Themen wie beispielsweise der Migrationspolitik. Informelle Mehrheiten nicht mehr nur links der Mitte würden mehr und mehr von der EVP angestrebt. Kremer sah in diesem Kontext in dem Deal Italiens mit Albanien zur Reduzierung der Zuwandererzahlen ein Experiment mit Modellcharakter. Es werde aber nicht leicht für die EVP, Mehrheiten aus vielen Parteien zusammenzusuchen. Stabile Mehrheiten stellen daher eine immer größere Herausforderung dar.

Die Diskussion über die Kandidatur Ursula von der Leyens zur Kommissionspräsidentin und – grundsätzlicher – über das Spitzenkandidatenprinzip, das auf Initiative der EVP bei der Europawahl 2014 erstmalig von den großen europäischen Parteien erprobte wurde, spielt keine dominante Rolle, da eine Entscheidung der Kommissionspräsidentin erst im Früh auf dem EVP-Kongress zu erwarten sei.

Wenige Wochen vor dem Jahreswechsel diskutierten die Gesprächspartner noch die Konsequenzen aus den Trends im Vorfeld der Europawahl. Die Anzahl der sitze der EVP im Europäischen Parlament hielten die Experten für weitgehend stabil, aber mit ggfls. leichten Verlusten, während aus heutiger Sicht die Verluste bei den Liberalen und Sozialisten stärker zu Buche schlagen könnten. Als eigentlichen Wahlverlierer sahen sie die Grünen. Die Europawahl, so die einhellige Meinung, werde vermutlich genutzt, um dem Unmut Ausdruck zu verleihen, so dass die Europaskeptiker und auch die extremen Linken mit Stimmenzugewinnen rechnen könnten. Die abschließende Frage, wie dieses Ergebnis Europa angesichts der Unsicherheit in der internationalen Politik und der Rückkehr des Terrors nach Europa verändern könnte, blieb einstweilen unbeantwortet.

 

 

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Prof. Dr. Martin Reuber

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Referent Europa- und Bildungspolitik, Büro Bundesstadt Bonn

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