Russlands Krieg in der Ukraine stellt eine entscheidende Zäsur in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik dar. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer „Zeitenwende“, was nicht nur für die Politik, sondern insbesondere auch für die Bundeswehr gilt. Doch was bedeutet das genau? Wie muss sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ändern?
Dieser und weiteren Frage sind wir in unserem Forum „Politik & Sicherheit“ am 15. Juni 2022 an der Universität Potsdam gemeinsam mit ausgewiesenen Experten nachgegangen. Das Forum wird seit rund zehn Jahren von der Gesellschaft für Sicherheitspolitik Potsdam, dem Reservistenverband in Brandenburg und der Deutschen Atlantischen Gesellschaft unter Federführung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brandenburg durchgeführt und kooperiert einmal im Jahr mit dem Lehrstuhl für Militärgeschichte an der Universität Potsdam, weshalb die Debatte im Gebäude der Universität am Neuen Palais stattfand. Es diskutierten der SPD-Politiker Dr. Hans-Peter Bartels, Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, ehemaliger Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages, Dr. Christoph Heusgen, ehemaliger UN-Botschafter Deutschlands und langjähriger außenpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundeskanzleramt, seit 2022 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und in diesem Jahr auch Fellow der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie Generalleutnant Alfons Mais, der Inspekteur des Heeres. Dieser hatte bereits zu Beginn des Krieges mit seiner Aussage, das deutsche Heer stehe mehr oder weniger „blank da“, die Optionen zur Bündnisunterstützung seien „extrem limitiert“, für Aufsehen gesorgt. Die Moderation übernahm Prof. Dr. Sönke Neitzel, Inhaber der Professur für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam als Mitgastgeber.
Zunächst begrüßte Stephan Raabe, Leiter des Politischen Bildungsforums Brandenburg der KAS im Namen der Veranstalter die etwa 180 Teilnehmer und stellte die Referenten und die drei Leitfragen der Diskussion vor:
(1) Was sind die außen- und sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands und was ist notwendig, um sie zu verfolgen?
(2) Wie müssen die Streitkräfte der Zukunft ausgerüstet werden und zu welchen Einsätzen sollen sie in der Lage sein?
(3) Welche Rolle soll Deutschland im Rahmen der NATO und der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union einnehmen?
Christoph Heusgen verwies in seinem Auftaktstatement in Hinsicht auf die Interessen Deutschlands auf die Bedeutung des Multilateralismus sowie auf die regelbasierte internationale Ordnung der Vereinten Nationen. Deutschland habe die Erfahrung gemacht, dass nach drei Kriegen in 75 Jahren, auch über 75 Jahre des Friedens und der wirtschaftlichen Entwicklung folgen können unter anderem auf der Grundlage eines internationalen Regelwerkes. Angesichts der Bedrohung der internationalen Ordnung aktuell vor allem durch Russland, aber auch durch China, müsse Deutschland seinem Gewicht entsprechend mehr internationale Verantwortung übernehmen, schließlich habe Deutschland die viertstärkste Wirtschaft, zahle die zweithöchste Summe an Entwicklungshilfe sowie die zweithöchsten Anteile für die UN. Darüber hinaus gehöre Deutschland international zu den angesehensten Staaten, sodass eine stärkere Rolle in der Außen- und Sicherheitspolitik von vielen Staaten geradezu eingefordert würde. Hierzu seien nach Heusgen drei Dinge notwendig: Erstens brauche Deutschland einen nationalen Sicherheitsrat, um neben der äußeren Sicherheit, auch Themen wie Cyberkriminalität, Energiesicherheit und den Schutz der Infrastruktur strategisch zu verbinden: „Ein nationaler Sicherheitsrat hätte doch alle Zahlen, die unsere Energiesicherheit betreffen gekannt. Er hätte gewusst, dass nicht nur unser Gas Gazprom gehört, sondern auch die Leitungen und die Lagerstätten und er hätte auch erkannt, dass die Gasspeicher systematisch seit letztem Herbst entleert wurden.“ Zweitens müsse Deutschland sich viel stärker in Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika engagieren, um dieses Feld nicht China und anderen zu überlassen. Drittens müsse das Auswärtige Amt mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zusammengelegt werden, um die Instrumente der Außen- und Entwicklungspolitik besser zu bündeln. Dabei solle sich Deutschland auf Länder mit guter Regierungsführung und einem rechtstaatlichen Anspruch konzentrieren.
„Kein Konflikt lässt sich nur mit militärischen Mitteln lösen“
Heeresinspekteur Alfons Mais sprach von einem Desillusionierungsprozess, den er in Brüssel beim Austausch mit NATO- und EU-Partnern erlebt habe. Die Erkenntnis dieses Prozesses sei gewesen, dass der Multilateralismus nicht der Zweck, sondern das Mittel zum Zweck sein müsse, um die Interessen der Außen- und Sicherheitspolitik überhaupt erst zu definieren. So habe er den Eindruck, dass Deutschland erst beginne eine strategische Kultur zu entwickeln und pflichtete Heusgen bei, dass hierbei ein nationaler Sicherheitsrat ein konkreter Schritt sein könne, ebenso wie die Absicht eine umfassende nationale Sicherheitsstrategie zu entwickeln. Dabei müssten Instrumente der Außen- und Sicherheitspolitik gebündelt werden: „Kein Konflikt lässt sich nur mit militärischen Mitteln lösen.“ Hinsichtlich der deutschen Verfassung gebe es hier eine strukturelle Strategieschwierigkeit, aufgrund von Kanzler- und Ressortprinzip, unterschiedlichen Institutionen und Bereichen sowie dem Föderalismus. Das zeige sich bei Mandaten für Auslandseinsätze, die nur den militärischen Anteil abdeckten, jedoch nicht alle Säulen der Sicherheitspolitik, wie beispielsweise Entwicklungshilfe, Diplomatie oder Capacity-Building in Einsatzgebieten. Die „Zeitenwende“ zeige, dass die Bundeswehr wieder stärker auf ihren eigentlichen verfassungsmäßigen Auftrag hin ausgerichtet werden müsse: die Landes- und Bündnisverteidigung. Natürlich könne die Bundeswehr auch in akuten Krisen, wie bei Hochwasserkatastrophen eingesetzt werden, aber ihr Auftrag sei nicht, längerfristig kommunale Gesundheitsämter wie in der Corona-Krise zu unterstützen. Nicht zuletzt müssten die Streitkräfte selbstverständlich das sein dürfen, was sie sind: militärische Kampfeinheiten. „Wenn wir die Streitkräfte einsetzen, dann sollen sie auch in der Lage sein, zu gewinnen.“
Der Politiker Hans-Peter Bartels pflichtete dem Diplomaten Heusgen bei, dass Deutschland entsprechend seiner Größe und Stärke auch international mehr Verantwortung übernehmen müsse. Das deutsche Ansehen in der Welt sei groß, was durch die eigene Vergangenheitsbewältigung, aber auch durch das internationale Auftreten nicht zuletzt auch der parteinahen politischen Stiftungen mit ihren Auslandsbüros erreicht worden sei. Schon die Initiative der damaligen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, Sicherheitszonen in Syrien zu errichten, konnte als Versuch verstanden werden, auch einmal voran zu gehen und nicht immer anderen Ländern hinterher zu laufen. Gemäß mehrerer Umfragen sei die deutsche Gesellschaft zudem gar nicht grundsätzlich pazifistisch eingestellt, sondern würde sich durchaus eine stärkere Rolle Deutschlands in der Welt wünschen und dementsprechend eine bessere Ausstattung der Bundeswehr befürworten. Auch in den Parteien gebe es mittlerweile in der Sicherheitspolitik einen recht breiten Konsens von dem Grünen über die Sozialdemokratie bis zur CDU/CSU, trotz einiger Diskussionen: „Die Frage ist nicht, ob wir Teil des Westens sind. Wir sind ein Teil des Westens, allerdings ein führender Teil des Westens. Und alle Partner fordern das auch von uns.“
Auf die Frage, ob man durch die Zeitenwende nun optimistischer bezüglich der geäußerten Ziele in die Zukunft schaue, äußerte Heusgen, dass man ganz genau hinschauen müsse, ob den Ankündigungen, wie bezüglich des Kaufs der F35 Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeuge, auch Taten folgen werden. Früher hätten man da eher eine zögerliche Haltung beobachten können, die wir auch heute noch in Hinsicht auf die Waffenlieferungen in die Ukraine sehen könnten. Doch mittlerweile steige der Druck durch den Russlandkrieg, insbesondere in den Medien, dem sich die Bundesregierung nicht entziehen könne. Hierzu müssten Zuständigkeiten gebündelt werden
Einsatzbereite Divisionen und Brigaden
General Mais zeigte sich ebenfalls optimistisch und verwies auf bereits bestehende Entwicklungen: „Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass Deutschland permanent ein Kampfbataillon in Litauen anführen würde. Die Frage ist jedoch mit welcher Tiefe, schließlich sprechen wir nicht über Brigaden oder Divisionen, sondern bisher über Kompanien.“ Der Veränderungsdruck sei groß und dadurch bewege sich auch einiges nach vorne, wie Mais zum Beispiel auch mit Blick auf die nukleare Teilhabe erklärte, die jahrelang auf dem Tisch gelegen habe, ebenso wie der schwere Transporthubschrauber CH-47 "Chinook". Die Anschubfinanzierung sei mit dem „Sondervermögen Bundeswehr“ gegeben und müsse nun zur Verbesserung der Ausrüstung eingesetzt werden, auch weil die NATO konkrete Anforderungen habe: „Wenn wir am Ende das Sondervermögen ausgegeben haben, ohne die angekündigten einsatzbereiten Divisionen und Brigaden zur Bündnisverteidigung geschaffen zu haben, dann haben wir etwas grundlegend falsch gemacht.“
Der SPD-Politker Bartels zeigte sich dagegen nur bedingt optimistisch und warf die Frage auf, wie sich Deutschland positionieren werde, wenn Russland der Ukraine einen Waffenstillstand anbiete, der aber von der Ukraine, aufgrund der besetzten Gebiete abgelehnt würde? Auch den Vorschlag eines Nationalen Sicherheitsrates bewertete Bartels skeptisch, angesichts einer Mehrparteienregierung und Parlamentsarmee. In Hinblick auf die stark gestiegene Inflation, steigende Zinsen und Schuldenlasten fürchtet Bartels zukünftig vermehrt gesellschaftliche Konflikte in Deutschland um die knapper werdenden Finanzressourcen bei Einhaltung der Schuldenbremse. Gleichzeitig müsse der Bundeswehretat in den nächsten Jahren aber kontinuierlich erhöht werden, um das 2%-Ziel der NATO auch im Haushalt zu verankern: „Es darf nicht passieren, dass die 100 Mrd. € des Sondervermögens in einigen Jahren für Betriebsausgaben der Bundeswehr aufgewendet werden. Das Geld wird gebraucht, um die materiellen Lücken zu schließen.“ Dabei müssten aber auch die strukturellen Schwächen der Bundeswehr behoben werden, die noch immer teilweise dysfunktional aufgestellt sei. So sei der Wehretat in Deutschland zwar vergleichsweise hoch, allerdings würden auch viele Gelder nicht für die Wehrfähigkeit, sondern für andere Kosten aufgewendet: „Die Ukraine hat im vergangenen Jahr einen Wehretat von 5 Mrd. € gehabt, während die Bundeswehr mit einem Budget von 50 Mrd. € die Hälfte des ukrainischen Etats allein für Mietkosten ausgibt.“
Inspekteur Mais verwies auf das Jahr 2011, als die Aufgabe der Landesverteidigung quasi aus dem Portfolio der Bundeswehr gestrichen und die Wehrpflicht ausgesetzt worden sei. Es habe eine Fokussierung auf die Auslandseinsätze wie in Afghanistan stattgefunden. Instrumente eines dem Militär weniger entsprechenden Prozessmanagements hätten Anwendung gefunden, die zu Privatisierungs- und Outsourcing-Projekten geführt hätten, die der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr nicht unbedingt immer gedient hätten. Mit Blick auf seine Empfehlungen an die Bundesregierung zur Ausstattung des Heeres, stellte der Inspekteur fest, dass diese klar formuliert seien und von den politisch Verantwortlichen auch gehört würden. Es sei durchaus ein Vorteil, dass das Kommando Heer mit seinem Sitz in der Von-Hardenberg-Kaserne in Strausberg nicht Teil des Verteidigungsministeriums sei: „Die Position des Heeres unterliegt nicht der Geschäftsordnung der Bundesregierung und muss daher auch nicht erst rot-gespült werden, bevor sie formuliert werden kann.“ Zudem verlasse sich der Kanzler sogar in der Corona-Krise auf die Bundeswehr in Person von Generalmajor Carsten Breuer, der im Kanzleramt den Krisenstab leitet, was für die Offenheit der Bundesregierung gegenüber der Bundeswehr spreche.
Aus dem Publikum wurde unter anderem gefragt, wie weit die Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland reiche und welche Ziele damit verbunden seien: Darauf antwortete der Diplomat Heusgen, dass der Kampf der Ukraine nicht nur aus moralischen Gründen sowie zur Stabilisierung der völkerrechtlichen Ordnung geboten sei, sondern auch, weil Putins Machtanspruch über die Ukraine hinausreiche: „Indem wir die Ukraine unterstützen, verteidigen wir uns selbst, denn wenn Putins ursprünglicher Plan eines Durchmarschs zur Eroberung der gesamten Ukraine funktioniert hätte, hätte dieser doch nicht an den Grenzen der Ukraine Halt gemacht, sondern wäre anschließend auf Moldau, Georgien oder die baltischen Staaten marschiert.“ Man solle sich dabei auch nicht von den nuklearen Drohungen Putins einschüchtern lassen, da diese der Logik des Kalten Krieges unterlägen und daher in beide Richtungen abschreckend wirkten. Der Politiker Bartels plädierte dafür, sich weniger an Szenarien zu orientieren, sondern klare Ziele zu definieren, diese geschlossen zu verfolgen und die auftretenden Probleme gemeinsam zu bewältigen.
Ein gesamtstaatlicher Ansatz bei Auslandseinsätzen
Heusgen verwies zudem darauf, dass sich auch im Ukrainekonflikt der wachsende Einfluss Chinas und Russlands auf Afrika zeige, schließlich habe die Generalversammlung der UN zunächst den Angriffskrieg Russland mit nur einzelnen Gegenstimmen verurteilt, jedoch zwei Wochen später nur noch mit 93 Stimmen den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat beschlossen, weil sich gerade viele afrikanische Staaten hier nicht eindeutig positionieren wollten. General Mais fügte hinzu, dass man einem gesamtstaatlichen Ansatz benötige, wenn man sich in Auslandseinsätzen in diesen Ländern engagiere, indem beispielsweise Sicherheitsstrukturen durch eigenes Militär unterstützt und Ortskräfte ausbilgebildet werden, was wiederum die Voraussetzung für Entwicklungshilfe und Diplomatie sei. Auf die Frage nach konkreten Forderungen der NATO an Deutschland wies Bartels dezidiert auf die Streitkräfte hin: „Was die NATO von Deutschland am dringendsten braucht und am wenigsten hat, sind große, verlegungsfähige und kampfkräftige Heeresverbände in der Mitte Europas.“ Es seien zwar drei voll ausgestattete Bundeswehr-Divisionen (mit je mehr als 10.000 Soldaten) bis 2031 geplant, jedoch müsse dies angesichts der aktuellen Entwicklungen nun schneller umgesetzt werden, um der NATO zu helfen.
Das Forum „Politik & Sicherheit“ machte deutlich, vor welch großen Aufgaben Deutschland in der Außen- und Sicherheitspolitik steht. So müsse sich Deutschland weiterhin eng an den EU- und NATO-Partnern orientieren, dabei aber eine aktivere Führungsrolle einnehmen und seine militärischen Möglichkeiten ausbauen. Dafür gelte es, sich militärpolitisch auf die Kernaufgaben der Bundeswehr zu konzentrieren, die verfügbaren Ressourcen zu erhöhen, organisatorisch zu bündeln und möglichst effizient einzusetzen. Entscheidend wird jedoch sein, dass die vom Kanzler ausgerufene „Zeitenwende“ keine rhetorische Formel bleibt, sondern diese programmatisch, strukturell und finanziell in Angriff genommen wird. Insofern wird es auch in den kommenden sicherheitspolitischen Foren einiges zu besprechen geben.
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