Mindestens 195 Tote, über 1.000 zerstörte Häuser und in Folge unzählige vertriebene Menschen – das sind die erschreckenden Zahlen einer Serie von Überfällen in Nigeria, die sich am Heiligabend und 1. Weihnachtsfeiertag ereigneten. In drei Regierungsbezirken des Bundesstaates Plateau, östlich von Nigerias Hauptstadt Abuja, überfielen schwer bewaffnete Banden koordiniert mehrere Dutzend Dörfer und töteten auf brutalste Art und Weise deren Bewohnerinnen und Bewohner.
Der gesamte mittlere Gürtel Nigerias (darin insbesondere der Bundesstaat Plateau) erlebt seit Jahrzehnten ein dramatisches Ausufern von Gewaltexzessen (mehr als 60.000 Tote seit 2001)1. Auch wenn diese Entwicklung in der deutschen Öffentlichkeit bisher wenig Beachtung fand, lässt sich die Aufmerksamkeit für die Ereignisse an Weihnachten letzten Jahres erklären. So schreibt beispielsweise die Süddeutsche Zeitung von „Über- fällen auf christliche Dörfer“2, der Spiegel spricht von Gemeinden, die „überwiegend von Christen bewohnt werden“3. Zusammengefasst: Es wurde beachtet, weil es sich um ein Massaker an Christen an Weihnachten handelte.
Die singuläre Erklärung, dass es sich hierbei um einen religiösen Konflikt zwischen Christen und Muslimen handele, greift hier aber zu kurz. Es ist richtig, dass es sich bei den getöteten Menschen um Christen handelt. Auch zeigt der aktuelle Stand der Ermittlungen, dass es sich bei den Angreifenden um Menschen muslimischen Glaubens handelt. Richtig ist außerdem, dass Nigeria eines der Länder ist, in dem Christen weltweit am stärksten verfolgt werden. Laut Open Doors4, einem Portal zum Thema Christenverfolgung, werden 89 Prozent der weltweit wegen ihres Glaubens getöteten Christen in Nigeria registriert. Zudem belegt Nigeria den ersten Platz auf der Liste der Länder, in denen Christen Gewalt ausgesetzt sind. Religiöse Zugehörigkeit spielt damit eindeutig eine Rolle bei diesen Überfällen. Bei detaillierterer Betrachtung des Gesamtkontextes wird jedoch klar, dass andere Faktoren für die Eskalation der Gewalt ursächlich sind.
Zwei zentrale Aspekte sind hierbei einerseits der Bevölkerungszuwachs und andererseits der Klima- wandel. Beide Herausforderungen überlagern allerdings den ursprünglichen Auslöser der verheerenden Lage – der Konflikt um Ressourcen.
Die große Mehrheit der im Norden lebenden Menschen sind nomadische Hirten, die der Volksgruppe der Fulani angehören. Auf den einstigen Weideflächen im Norden findet, als Auswirkung des Klimawandels, fortschreitende Wüstenbildung statt. Um ihren Tieren das Weiden zu ermöglichen, wandern die Fulani immer weiter in Richtung Süden. Hier, im sogenannten Middle Belt Nigerias, trennt eine Savannenlandschaft den kargen Norden vom tropisch-feuchten Süden. In dieser Region treffen die Fulani-Hirten auf sesshafte Bauern, welche den fruchtbaren Boden für die Landwirtschaft nutzen. Dies führt dazu, dass die Hirten einerseits die bestellten Flächen der Bauern als Weideland für ihre Tiere nutzen. Andererseits geht es auch um die Frage, wer das Land langfristig zur Sicherung der Existenzgrundlage nutzen darf.
Dieser Konflikt um fruchtbares Land erhält eine weitere Verschärfung durch den dramatischen Bevölkerungszuwachs. Aktuellen Daten zufolge liegt die Geburtenrate in Nigeria bei 5,14 Kindern pro Frau (2022).5 Eine Entwicklung, die dazu führt, dass Nigeria im Jahr 2050 das dritt- bevölkerungsreichste Land der Erde sein wird. Damit sieht sich eine immer größer werdende Gesellschaft mit einer immer geringeren für die Landwirtschaft nutzbaren Fläche konfrontiert. Dabei reichen selbst heute die Erträge der nigerianischen Landwirtschaft nicht mehr aus, den eigenen Bedarf zu befriedigen.
Diesem Ursprungskonflikt, einem von der ethnischen Zugehörigkeit zunächst unabhängigen Ressourcenkonflikt, wurde im Laufe der Zeit immer stärker ein religiöses Element übergestülpt. Die in der Tschadseeregion im Nordosten Nigerias beheimatete islamistische Terrororganisation Boko Haram infiltriert und unterstützt die muslimischen Fulani-Hirten im Ressourcenkonflikt mit den sesshaften Bauern, die mehrheitlich Christen sind. Die Terroristen nutzen die bis dahin wenig beachtete unterschiedliche Religionszugehörigkeit der beiden konkurrierenden Volksgruppen, um den Konflikt einerseits zu befeuern und andererseits ihren ideologischen Kampf durch diesen bestehenden Konflikt auszuweiten. Aus einem Konflikt um die Nutzung von Ressourcen wurde damit auch ein Kampf zwischen Muslimen und Christen.
Kurzum: Die Entwicklungen der letzten Jahre haben ohne Zweifel dazu geführt, dass die Über- fälle auf die Dörfer an Weihnachten 2023 anti- christlich motiviert waren. Klar ist aber auch: dies ist eine Beschreibung der Wirkung, nicht der Ursache. Eine nachhaltige Lösung des Konflikts kann nur durch eine Auflösung der Auseinandersetzung um Ressourcen gefunden werden. Eine Betrachtung nur durch die Brille eines religiösen Konflikts wird der Komplexität der Lage nicht gerecht.
[1]punchng.com/over-60000-killed-in-farmer-herder-crises-since-2001-dons/ (letzter Abruf: 17.1.2024).
[2]sueddeutsche.de/politik/nigeria-wohl-mehr-als-hundert-tote-bei-angriffen-1.6324663 (letzter Abruf: 17.1.2024).
[3]spiegel.de/ausland/nigeria-mehr-als-100-tote-bei-ueberfaellen-auf-doerfer-a-2cbc7f09-19aa-4b6e-acd0-087035a9576b (letzter Abruf: 17.1.2024).
[4]opendoorsuk.org/persecution/world-watchlist/nigeria/ (letzter Abruf: 17.1.2024).
[5]de.statista.com/statistik/daten/studie/749023/umfrage/fertilitaetsrate-in-nigeria/ (letzter Abruf: 17.1.2024).
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