1. Im kriegerischen Einsatz
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert befinden sich nennenswerte Teile der Bundeswehr im Auslandseinsatz. Nicht dem Technischen Hilfswerk ähnlich, sondern im kriegerischen Einsatz. Mit Stand 2020 sind es mehr als dreitausend deutsche Soldaten, die ihren militärischen, mancherorts gefährlichen Dienst im Ausland tun – vor allem in Mali und Afghanistan. Deutschland konnte sich nach der Wiedervereinigung auch nicht länger verweigern und auf eine deutsche Sondermoral berufen. Für unsere NATO- und EU-Partner sind das ohnehin nur Ausreden. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist der schrittweise, teilweise sogar der politisch, öffentlich und medial gewollte Ruin der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands seit der Wiedervereinigung. Für Ende 2018 etwa musste man folgende Defizite feststellen: Zeitweise war keines der sechs U-Boote der 212A-Klasse fahrbereit; beim ADAC mussten 6500 Flugstunden angemietet werden mussten, um Fluglizenzen von Bundeswehrpiloten zu erhalten; von den Transporthubschraubern CH-53 waren nur 16 von 72, von den Transporthubschraubern NH 90 nur 13 von 58, vom (neuen!) Transportflieger A400M gerade mal 3 von 15, von den Leopard II-Panzern 105 von 244 „fit“ usw. Riesenprobleme, die die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr drastisch beschränken!
2. Lücken noch und noch
Die Liste an Defiziten und Desideraten setzt sich fort. Allein der im Januar 2020 veröffentlichte, 112 Seiten umfassende Bericht des Wehrbeauftragten des Bundestages, Dr. Hans-Peter Bartels, für das Jahr 2019 spricht Bände.
Das Mehrzweckkampfflugzeug Tornado (seit 1980/82 im Einsatz) hat demnach nur 88 Prozent, der Eurofighter (seit 2003 im Einsatz) nur 80 Prozent der für das jeweilige Kampfflugzeug notwendigen Flugzeugführer. Beim Transporter A400M sind es 83 Prozent. Immer noch geht es deshalb beim Transport nicht ohne die Transall C-160 (im Einsatz seit den 1960er Jahren) und die Hilfe alliierter Partner. Bei den diversen Hubschraubern der Luftwaffe sind nur 70 Prozent, beim Heer 74 Prozent der Pilotenplätze besetzt, konkret beim Kampfhubschrauber Tiger 82 Prozent, beim Transporthubschrauber NH-90 gerade eben 59 Prozent. Es kommt hinzu: Fliegende Besatzungen kündigen wegen zu wenig Flugstunden auf allen Typen. Da bildet man Flugzeugführer für Millionen und mit jahrelangem Aufwand aus und muss sie dann gehen lassen, weil sie nichts zum Fliegen haben! Die zivilen Fluggesellschaften freuen sich über hochqualifizierte Besatzungen, der Steuerzahler blutet!
Es kommt hinzu: der Tiger Kampfhubschrauber und der Transporthubschrauber NH90 sind nur eingeschränkt verwendbare Krücken, die noch Jahre für die volle Truppenverwendungsfähigkeit benötigen. Zu viele unterschiedliche Typen, zu hochkomplexe Technik: Allein das Mastvisier (Osiris-Sensorsystem) des deutschen Tigers ist ein eigenes Waffensystem, das niemand benötigt. Die Franzosen haben das mit ihrer Version des Tigers weit besser, weil einfacher gemacht. Dass die „Altsysteme“ Tornado Kampfjet und Transporthubschrauber CH-53 nicht genügend Ersatzteile haben, liegt ganz wesentlich am Kaputtsparen der Bundeswehr in den Jahren 2000 bis 2009. Wenn Hersteller pleitegegangen sind oder Geschäftsfelder aufgegeben haben, dauert es Jahre, bis die Lager wieder aufgefüllt werden können. In dieser Situation behilft sich die Truppe traditionell durch den sogenannten gesteuerten Ausbau. Einzelne Flugzeuge werden zu Schlachtschiffen erklärt (Bundeswehr-Jargon im Sinne von „Ausschlachten“) und daraus Teile entnommen.
Von den 284 eingekauften neuen Schützenpanzern Puma ist nur ein Viertel einsatzbereit. Bereits ausgelieferte brandneue Puma müssen, um der Truppenverwendungsfähigkeit näherzukommen, für viel Geld nachgerüstet werden. Ein regulärer Ausbildungs- und Übungsbetrieb in den Puma-Bataillonen ist aktuell nur mit erheblichen Einschränkungen möglich. - Viele Waffensysteme sind übertechnisiert, der Puma ist dafür ein bezeichnendes Beispiel. Ohne Bildschirme und Software ist der Schützenpanzer nicht mal fahrbereit. Die „Truppenverwendungsfähigkeit“ (eingeführter Begriff) ist zu bezweifeln. Zudem treibt die wehrtechnische Industrie systematisch ein übles Spiel: Sie bietet Rüstungsprodukte vergleichsweise günstig an und spekuliert auf Änderungsverträge, sobald sie den Zuschlag hat. Diese bringen viel Geld zusätzlich, erfordern aber auch sehr viel Zeit. Was nicht funktioniert oder nicht leistungsfähig genug ist, wird eben nachgebessert, der Bund bezahlt! Die schlechte Bevorratung mit Ersatzteilen tut ein Übriges.
Die Marine war nie kleiner als heute. Von den 15 größeren Kampfschiffen, die auf dem Papier stehen, existieren in der Realität der Flotte 2020 (nach Außerdienststellung von sieben 122er und Indienststellung einer neuen 125er Fregatte, die aber noch massive Nachbesserungsprobleme hat) neun. - Es ist unwidersprochene Tatsache, dass die Industrie Systeme abliefert, die nicht einsatzreif oder truppenverwendungsfähig sind. Das beste aktuelle Beispiel sind die Sea Lion Hubschrauber für die Marine, die ohne brauchbare Dokumentation ausgeliefert wurden und nun herumstehen, bis der Hersteller die erforderlichen Wartungsvorschriften nachgeliefert hat. Ganz zu schweigen davon, dass für die neubeschafften Korvetten K 150 pro Schiff gerade mal vier Schiff-Schiff-Flugkörper eingelagert sind. „Viermal schießen und der Krieg ist vorbei“, scheint die Devise der hochbezahlten Strategen zu lauten. Leerstellen über Leerstellen wohin man auch schaut!
Und der besondere Hammer, hier wörtlich aus dem Bericht des Wehrbeauftragten Bartels für 2019 zitiert: „Nach wie vor ist es ein Trugschluss zu glauben, jeder Soldatin und jedem Soldaten stünden in der Kaserne ein Bett und ein Spind zur Verfügung.“ Kommentar überflüssig!
Dass es zudem oft lange Bürokratiejahre dauert, bis die Soldaten neue Winterkleidung, neue Skier, neue Unterwäsche, neue Stiefel, neue Zelte, neue Nachtsichtgeräte usw. bekommen, kritisiert Bartels ebenfalls. Hier schlägt er das Prinzip „Ikea“ vor: Angebote durchforsten und einkaufen! Vor allem kann und darf es nicht sein, dass Soldaten dienstlich notwendige Bekleidungsstücke aus der eigenen Kasse bezahlen, weil sie nicht auf die Lieferung „von oben“ warten wollen.
3. Personalprobleme
Es grassiert ein eklatanter Personalmangel. Mit Stand Mitte 2019 waren 29.000 Stellen nicht besetzt. Zudem soll die Bundeswehr von 182.000 Soldaten bis 2025 auf 203.000 Soldaten anwachsen. Aber: Es gibt jetzt keinen Zugriff mehr auf junge Menschen. Konkret: Ende 2019 taten 8.337 Freiwillig Wehrdienstleistende Dienst in der Bundeswehr (2018: 8.252, 2017: 9.138). 7.642 haben ihren Dienst im Berichtsjahr aufgenommen (Vorjahr: 7.259). Alle Umfangsplanungen der Bundeswehr gehen immer noch illusionär von 12.500 einzuplanenden Freiwillig Wehrdienstleistenden aus. Ob in Zeiten einer prosperierenden Wirtschaft und erheblicher Nachwuchssorgen des gesamten öffentlichen Bereichs ausreichend geeignetes Personal gefunden werden kann, ist mehr als fraglich. Mal sehen, in welche Richtung sich dies im Zuge der Corona-Krise ändert.
Der 2017 neu eingerichtete Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum (CIR) ist mit knapp 13.500 bereits früher vorhandenen und einigen hundert neuen Dienstposten ausgestattet. Die Personalgewinnung bleibt schwierig, denn hier konkurriert die Bundeswehr in besonderem Maße mit der Wirtschaft. - Die Einrichtung des Organisationsbereiches Cyber war ein grundlegender Fehler. Cyber-Spezialisten zur Abwehr von IT-Angriffen gehören als Mittel der gesamtstaatlichen Krisenvorsorge zum Bundesnachrichtendienst oder zum Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik. Dort können ohne militärische Zwänge (militärische Ausbildung, Inübunghaltung etc.) Spezialisten leichter außerhalb des militärischen Dienstpostengefüges mit Zulagen gelockt oder gehalten werden. In der Bundeswehr sollten nur die Cyber-Spezialisten Dienst tun, die für militärische Systeme benötigt werden.
Bei den Offizieren des Militärfachlichen Dienstes liegt die Besetzungsquote bei 75 Prozent. Die Unteroffiziere ohne Portepee weisen mit 66 Prozent den niedrigsten Besetzungsgrad auf. Besonders düster ist die Lage bei den IT-Feldwebeln. Hier sind weiterhin 40 Prozent der Dienstposten nicht besetzt.
Der Übergang von der Wehrpflicht- zur Freiwilligenarmee ist jedenfalls nicht gelungen. Denn die CDU/CSU/FDP-Bundesregierung folgte am 15. Dezember 2010 dem reichlich populistischen Vorschlag des damaligen Verteidigungsministers zu Guttenberg: Ab dem 1. März 2011 wurde niemand mehr zum Pflichtwehrdienst einberufen. Vonseiten der CDU und ihrer Kanzlerin gab es keinen Widerstand, die FDP sah in diesem Beschluss ohnehin die Erfüllung eines lange gehegten Wunsches. Realiter ist die Bundeswehr damit im Alltag kaum noch sichtbar. Es gibt auch immer weniger Soldaten, und von diesen scheuen sich immer mehr, außerhalb der Kasernen in Uniform aufzutreten. Ob die nun kostenlosen Bahnfahrten von Soldaten in Uniform und öffentliche Gelöbnisse an dem Sachverhalt etwas ändern können, bleibt abzuwarten.
Oder nehmen wir den Koalitionsvertrag der im März 2018 konstituierten CDU/CSU/SPD-Bundesregierung: Wenn der Umfang einzelner Kapitel etwas aussagt über die Bedeutung eines Politikfeldes, auch dann steht es um die Bundeswehr schlecht. 177 Seiten macht dieser GroKo-Vertrag aus. Gerade etwas mehr als drei Seiten sind dem Punkt „Moderne Bundeswehr“ gewidmet! Die Besetzungsprobleme werden sich jedenfalls weiter vergrößern, das ist unschwer an der Demografie abzulesen. Merke: Im Jahr 2025 gibt es rund 11 Prozent weniger Schulabgänger als 2015. Eine allgemeine Dienstpflicht sollte allein deshalb ernsthaft diskutiert werden.
4. Wechsel an der Spitze des Bundesministeriums der Verteidigung
All dies sind keine vorübergehenden, akuten Probleme, denn die Ursachen dafür liegen zum Teil Jahre zurück. Es ist auch nicht alles durch Ursula von der Leyen verursacht, der Bundesministerin der Verteidigung von 2013 bis 2019, was die Bundeswehr quält. Bei aller berechtigten Kritik führt nichts an der Feststellung vorbei, dass für die mangelhafte Einsatzbereitschaft der Waffensysteme im Wesentlichen frühere Regierungen die Verantwortung tragen. Seit Jahren wurde beispielsweise bei der Einführung neuer Waffensysteme darauf verzichtet, ausreichend Ersatzteile zu beschaffen und Rahmenverträge für ihre Instandsetzung abzuschließen. Die noch verfügbaren Haushaltsmittel wurden auf die weltweite Konfliktverhütung, Krisenbewältigung und Terrorismusbekämpfung konzentriert. Bundeswehr im Auslandseinsatz lautete die Devise. Das übrige Gerät wurde nicht mehr betriebsbereit gehalten, stillgelegt oder gar verschenkt.
Am 17. Juli 2019 löste Annegret Kramp-Karrenbauer Ursula von der Leyen (beide CDU) als Bundesministerin der Verteidigung ab. Zur Hinterlassenschaft der Letzteren und ihrer Vorgänger gehört nicht nur ein in weiten Teilen desaströser Zustand der Bundeswehr, sondern auch eine „Berateraffäre“. Der Verteidigungsausschuss des Bundestages versucht als Untersuchungsausschuss seit Anfang 2019 Licht in die Praktiken zu bringen, wiewohl sich das Verteidigungsministerium und dessen frühere Chefin nur bedingt aufklärungsbereit zeigen.
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer ist jedenfalls nicht um ihre Aufgabe zu beneiden. Sie übernahm ein schweres Erbe, zumal sie noch zwei Wochen zuvor öffentlich geäußert hatte, sich auf ihre Aufgabe als CDU-Vorsitzende konzentrieren zu wollen. Vertrauen stiftend war das nicht. Anfängerfehler kamen hinzu, als sie aus der Hüfte geschossene und unausgegorene Vorschläge in die Öffentlichkeit lancierte: die Errichtung einer Sicherheitszone in Nordsyrien, die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates, die Anschaffung von Drohnen usw. Dadurch geriet in den Hintergrund, dass die „Neue“ positive Ansätze konsequent verfolgt: etwa die Absicht, die Bundeswehr wieder öffentlich sichtbarer zu machen, oder die Streichung fragwürdiger Privatisierungspläne ihrer Vorgängerin in Beschaffung und Logistik.
Zugleich hegt sogar das Verteidigungsministerium selbst Zweifel, ob die Bundeswehr ihre Ausrüstungs- und Personalziele erfüllen kann. In einem vertraulichen Schreiben an den Verteidigungsausschuss von Mitte Dezember 2019 schreibt das Ministerium, die eigenen Pläne würden sich angesichts der bisherigen Finanzplanung "absehbar verzögern.“ Das betrifft vor allem die Schnelle Eingreiftruppe der NATO, die 2023 wieder von der Bundeswehr geführt werden soll, und zwar ohne, dass diese Eingreiftruppe sich wie bisher Material bei anderen Einheiten ausleihen muss. Die ministeriellen Planer verabschieden sich insofern bereits jetzt klammheimlich von der Perspektive, bis Ende 2031 drei voll ausgerüstete Heeresdivisionen mit jeweils etwa 20.000 Soldaten aufzustellen.
5. Die NATO und das strategische Umfeld
Der INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme von 1988 ist seit 2. August 2019 tot. Die USA denken über einen weiteren Truppenabzug aus Deutschland bzw. deren Verlagerung in Richtung Osteuropa nach. US-Präsident Donald Trump bezeichnete die NATO mal als „obsolet“, mal bekannte er sich zu ihr. Frankreichs Staatspräsident attestiert der NATO den „Hirntod“. Großbritannien hat inzwischen die EU verlassen und damit endgültig die Frage aufgeworfen, welche Auswirkungen dies auf die europäische Sicherheitspolitik und die NATO hat. Am 3. Dezember 2019 feierte die NATO in London ihr 70jähriges Bestehen, Feierlaune kam keine auf.
Währenddessen rüsten Russland und China gewaltig auf, Putin kündigt neue, „unbesiegbare“ Waffensysteme an. Ende Dezember 2019 veranstalteten Russland, China und der Iran ein gemeinsames, viertägiges Seemanöver im Indischen Ozean und im Golf von Oman. Beteiligt war Russland mit drei Schiffen der russischen Ostseeflotte: einer Fregatte, einem Tanker und einem Rettungsschlepper, China mit einem Zerstörer. Polen sieht sich aus dem französisch-deutschen Panzervorhaben „Main Ground Combat System“ (MGCS) ausgeschlossen und freundet sich rüstungspolitisch zeitweise mit Südkorea an, um gemeinsam bis zu 800 Panzer zu bauen. Auch dies kein gutes Zeichen für die NATO.
Der Nahe Osten und die Sahelzone sind alles andere als befriedet. In Syrien, im Iran, im Irak und in Libyen haben die Spannungen zugenommen. Das NATO-Mitglied Türkei macht seine eigene Politik: Marschiert in Syrien ein, schickt Truppen nach Libyen und kauft ein russisches Raketenabwehrsystem.
Der Bundestag verlängerte den einen oder anderen Auslandseinsatz der Bundeswehr. Als freilich Frankreich die Deutschen im November und im Dezember 2019 um Unterstützung in der Sahelzone (Mail, Niger, Tschad, Mauretanien, Burkina Faso) bat, gab es aus Berlin zweimal eine Absage. Frankreich stellt dort übrigens 4.500 Soldaten, Deutschland 1.100. Ebenso gab es eine Absage aus Berlin, als die USA und Großbritannien Deutschland baten, einen Beitrag zu Sicherung der Schiffsstraße von Hormus zu leisten. Was ist der Grund für solches Beiseitestehen? Ist es innen- oder außenpolitisches Kalkül, oder ist es schlicht und einfach die Tatsache, dass die Bundeswehr solche Einsätze personell und materiell nicht „im Kreuz“ hat?
6. Was geschehen muss
Ab 1990 und mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks galt die Überzeugung, es habe ein für alle Mal eine global-liberale Ordnung gesiegt. In Deutschland wurde der Glaube verkündet, dass man jetzt nur noch von Freunden umgeben sei. Die Bundeswehr wurde von der Personalstärke von 495.000 „Mann“ im Jahr 1989 auf nominell 183.000 „Mann“ im Jahr 2020 heruntergefahren. Auf die damit verbundenen Gefahren haben die militärischen Verantwortungsträger seinerzeit hingewiesen. Parlament und Regierung ignorierten die Einwände, bis 2014 das Erwachen mit der Ukraine-Krise einsetzte. Dass die Russen bereits seit dem Kaukasuskrieg 2008 militärisch in Georgien eingegriffen hatten, wurde erst mit mehrjähriger Verzögerung so richtig zur Kenntnis genommen. Ebenso wenig wurde registriert, dass China und Russland hochrüsten, dass beispielsweise Russland mit China zusammen bereits Seemanöver in der Ostsee veranstaltet.
Deutschland muss jedenfalls endlich bereit sein, sinnvoll (!) zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für äußere Sicherheit, respektive die Bundeswehr auszugeben. Dieses Ziel kann man aus einem plumpen Anti-Amerikanismus heraus nicht damit abtun, dass US-Präsident Donald Trump diese zwei Prozent vehement einfordert. Nein, es geht nicht um Trump, sondern es geht darum, dass Deutschland der NATO diese zwei Prozent lange vor Trump zugesagt hat. Heute stehen wir bei 1,3 Prozent und sind nicht in der Lage, die uns zustehende militärische Rolle im Konzert mit den Bündnispartnern einzunehmen. Dem Zwei-Prozent-Ziel nähert sich deutsche Politik jedenfalls nur in Trippelschritten; der Koalitionspartner SPD zweifelt es mit schöner Regelmäßigkeit an.
Vor allem muss sich unsere Gesellschaft entscheiden, ob sie eine Bundeswehr will oder nicht will, braucht oder nicht braucht. Wenn wir sie wollen, weil wir sie brauchen, dann muss die Bundeswehr ordentlich organisiert, ausgestattet und geführt werden - aber vor allem: Sie muss als Institution quer durch Staat, Gesellschaft und Politik Wertschätzung erfahren. Im Endeffekt steht die Frage im Raum: Wozu brauchen wir die Bundeswehr eigentlich noch? „Schafft sie doch ganz ab!“ Diese Parole hätte bei einem fiktiven Volksentscheid möglicherweise sogar eine Mehrheit. Die Politik weiß darum, sie handelt aber nicht gegen vorhandene Ressentiments weiter Teile der Bevölkerung gegen alles Militärische. Es ist auch eine Form von Populismus, gegen besseres Wissen den Dingen ihren Lauf zu lassen, statt für die Wertschätzung der Soldaten und die Verteidigungs-fähigkeit unseres Landes zu kämpfen. Dazu passt die vormalige Verteidigungsministerin, die eine „Säuberung“ der Armee verlangte, nachdem in einem Einzelfall ein Oberleutnant als Extremist enttarnt wurde.
7. Bundeswehr als Garant einer freiheitlichen Demokratie
Wie konnte in unserem Land eine derart weltfremde Entwicklung um sich greifen, was sind entscheidende Faktoren, die zu dieser Entfremdung von fast allen Partnern in EU und NATO geführt haben? Nun, Deutschland ist ein friedliches Land, man ist ja seit 1990 auch nur noch „von Freunden umgeben.“ Das Problem ist allerdings, dass seit dem Niedergang des Warschauer Paktes weltweit keineswegs ausschließlich liberale, friedliche Ordnungen gesiegt hätten. Wir sind mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der Sowjetunion nicht am Ende der Geschichte angelangt, wie der US-Politologe Francis Fukuyama 1992 meinte. Eine allumfassend friedliche Weltordnung gibt es nicht und wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Von solcher Illusion ließ sich deutsche Politik jedoch paralysieren – nach dem Motto: In der Verteidigung können wir Milliarden streichen und damit soziale Füllhörner über dem Land auskippen.
Der pazifistischen Gesellschaft in Deutschland scheint das Verständnis für die Grundlagen einer freiheitlichen Demokratie schon früh abhandengekommen zu sein. Hier schlägt sich nieder, dass Deutschlands Bürger und in der Folge seine Politiker bis heute maßgeblich geprägt sind von einem zwar moralisch hochwertigen, aber unrealistischen „Nie wieder!“ Diese Einstellungen und Bewertungen kommen oft aus dem sprichwörtlich hohlen Bauch. Das Wissen breiter Bevölkerungsschichten um die Bundeswehr ist miserabel. Die Zahl der Soldaten im Auslandseinsatz wird nur von 17 Prozent der Befragten näherungsweise richtig geschätzt (Stand 11.5.2020: 2.802, davon 1.033 in Afghanistan, 1.020 in Mali, Quelle Bundeswehr), die Zahl der Soldaten der Bundeswehr insgesamt nur von 11 Prozent (rund 182.000 Sept. 2019). Man könnte auch sagen: Wenig Wissen, viel Meinung!
Jetzt steht die Truppe personell ausgedünnt da, die Motivation ist teilweise im Keller, das Material kaum einsatzfähig, die Gesamtorganisation in einem desaströsen Zustand. Eine Reform jagt die nächste. Besser ist dadurch kaum etwas geworden, außer dass der Reformeifer die Illusion des Fortschritts aufkeimen ließ. Tatsächlich ist die Bundeswehr mit Ausnahme einiger Bereiche, wie z.B. der Krisenreaktionskräfte KSK (Kommando Spezialkräfte), einzelner Marine- und Heereseinheiten sowie fliegender Verbände und Unterstützungseinheiten zu einer Reformruine geworden.
8. Aus gegebenem Anlass: Bundeswehr und Terroranschläge? Bundeswehr und „Corona“?
Weltweit setzen immer mehr Staaten zur Eindämmung von „Corona“ ihr Militär ein; sie rufen dazu den Ausnahmezustand aus, zuletzt Bulgarien und die USA. China tut das ohnehin seit Anbeginn der Pandemie. Wie aber ist der Einsatz der Bundeswehr unter solchen Umständen geregelt? In unserem Land sind dem Einsatz der Bundeswehr im Innern enge Grenzen gesetzt. Der rechtliche Rahmen ist sehr restriktiv im Vergleich zu NATO- und EU-Partnerländern. Das Grundgesetz sagt dazu: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt“ (Artikel 87a, Abs. 2). Selbst bei Terroranschlägen ist der Einsatz nur "zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung" erlaubt (GG 87a, Abs. 4). Das bedeutet: In Deutschland gibt es eine strikte Trennung von Polizei und Bundeswehr. Wir sind damit einer von wenigen Staaten weltweit, die sich einer strikten Trennung von militärischen und polizeilichen Aufgaben verschrieben haben. Begründet wird dies mit den geschichtlichen Erfahrungen aus Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg.
Bei unseren Partnerländern ist das grundlegend anders geregelt: Frankreich etwa hat nach den Anschlägen von Paris 2015 und Nizza 2016 die französische Armee zur Unterstützung der Polizei herangezogen. Soldaten bewachen mit Kampfanzug und Sturmgewehr den Eiffelturm in Paris und viele andere wichtige Orte mehr. Zudem steht bei unseren Nachbarn die Gendarmerie zur Verfügung. Sie war seit ihrer Gründung Teil der französischen Streitkräfte und daher im Unterschied zur Polizei dem Verteidigungsministerium unterstellt. Seit dem 1. Januar 2009 untersteht sie zugleich dem Innenministerium. Allein diese zwischen Militär und der regulären Polizei angesiedelte Truppe umfasst über 100.000 Soldaten. Frankreich verfolgt zudem den Plan, eine Nationalgarde mit 84.000 Mann nach US-Vorbild einzurichten, die sowohl militärische als auch polizeiliche Aufgaben wahrnehmen kann. Kaum anders ist die Lage bei weiteren Partnerländern: Soldaten sichern den Grand Place in Brüssel oder in Rom das Kolosseum. Und für die USA war es selbstverständlich, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York, umgehend die Nationalgarde und Teile der Streitkräfte in Marsch zu setzen.
Bei unseren Verbündeten also keine Spur von prinzipieller Trennung zwischen Polizei und Militär. Warum muss bei uns mal wieder alles anders geregelt sein? Bezeichnend ist, dass über 65 Prozent der Bundesbürger nach einer Umfrage aus dem Jahr 2017 keine Einwände gegen einen Einsatz der Streitkräfte im Inneren hegen. Für den Fall eines schwerwiegenden Terroranschlags sprechen sich fast 70 Prozent der Deutschen für diese Möglichkeit aus. Die Menschen in unserem Lande haben diesbezüglich weit weniger Vorbehalte, als in vielen politischen, medialen und juristischen Rängen immer wieder behauptet wird.
Es geht schließlich auch um die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte mit verheerenden terroristischen Attacken: Die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit wurden nachhaltig verwischt. In großer Weitsicht ist der Sachverhalt im Grundgesetz bereits wie folgt geregelt: Eine drohende Gefahr für den Bestand der demokratischen Grundordnung des Bundes oder eines Landes durch organisierte und militärisch bewaffnete Aufständische, der durch Polizeikräfte nicht hinreichend begegnet werden kann, reicht aus, um gemäß Art. 87a, Abs. 4 GG die Bundeswehr im Inland einzusetzen.
Es gilt aber auch: Die Bundeswehr darf nicht als Notnagel dienen, wenn in den deutschen Ländern die oft ausgedünnten Polizeikräfte bei der Wahrnehmung ihrer verfassungsrechtlichen Aufgaben an Grenzen stoßen. Die Polizeibehörden der Länder wie auch die Bundespolizei müssen nach Ausrüstung, Ausstattung und personeller Stärke in der Lage sein, ihre regulären Aufgaben selbständig zu erfüllen.
Der Einsatz der Streitkräfte ist daher nur als Ultima Ratio zulässig. In gemeinsamen Übungen zwischen Polizei und Bundeswehr wird dies durchaus gelegentlich erprobt. GETEX 2017 erbrachte interessante Erkenntnisse (GETEX = Gemeinsame Terrorismus-Abwehr Exercise): "Zu lange Dienstwege, fehlendes Gesamtlagebild, kein sicheres Netz zum Datenaustausch, unterschiedliche Fachbegriffe, eine unklare Rechtssituation" wurden als Mängel mit Handlungsbedarf identifiziert.
9. Die Bundeswehr als stabilisierender Faktor
Unsere Armee war in den gut sechs Jahrzehnten ihres Bestehens wiederholt im Inland im Einsatz: bei Schnee- und Hochwasserkatastrophen, bei Waldbränden usw. Zuletzt war unsere Armee im Januar 2019 beim Schneechaos in Bayern, zuvor 2002 und 2013 bei Hochwasserkatastrophen eine willkommene Hilfe.
Besonders nachhaltig eingeprägt hat sich der Einsatz der Bundeswehr bei der Sturmflut in Hamburg vom Februar 1962, der 315 Menschen zum Opfer fielen. Damals hatte der Hamburger Innensenator, spätere Verteidigungsminister und Bundeskanzler Helmut Schmidt von Bundeswehr und NATO-Armeen – damals noch verfassungswidrig – unter anderem Hubschrauber als „rettende Engel“ angefordert. Für das Ansehen der Bundeswehr waren solche Einsätze stets ein Gewinn, sie lenken aber auch davon ab, dass die Bundeswehr eben kein Technischer Hilfsdienst in „NATO-Oliv“, sondern eine Kampftruppe ist.
Die Bundeswehr kann im Inland auch eingesetzt werden, um (gemeinsam mit der Polizei) die öffentliche Ordnung zu bewahren oder wiederherzustellen, etwa wenn geplündert wird oder Krankenhäuser belagert werden. Dies ist in den Artikeln 35, 87a und 91 des Grundgesetzes geregelt. Die Vorschriften gehören zu den „Notstandsgesetzen“, die 1968 gegen den Widerstand der außerparlamentarischen Opposition (APO) beschlossen wurden. Als Notstandsgesetze werden auch rund zehn Sicherstellungsgesetze bezeichnet, die das öffentliche Leben und die militärische Verteidigung sichern sollen. In der Regel sind sie auf den Spannungs- und Verteidigungsfall beschränkt.
Nun also geht es aktuell um die Frage, wie die Bundeswehr im Kampf gegen eine Pandemie eingesetzt werden kann. Tatsächlich ist dies sehr früh geschehen. So hat der von „Corona“ besonders betroffene Landkreis Heinsberg in Nordrhein-Westfahlen die Bundeswehr gebeten, mit Laborkapazitäten bei „Corona“-Tests auszuhelfen. Zudem gab es in kürzester Zeit Mitte März 2020 mehr als 50 „Amtshilfeersuchen“ anderer Behörden an die Bundeswehr. Die Bundeswehr hilft zudem bei Transporten aus, baut Feldbetten auf oder versorgt liegengebliebene Lastwagenfahrer mit dem Notwendigsten.
Vorübergehend wurden - nach der ab 1990 erfolgten drastischen Reduzierung – die fünf noch verbliebenen Krankenhäuser der Bundeswehr (Berlin, Hamburg, Koblenz, UIm, Westerstede) wegen „Corona“ in die zivile Krankenhausstruktur integriert; der militärische Sanitätsdienst mit insgesamt rund 3.000 Ärzten behandelt – wie auch schon zuvor – nicht nur Soldaten. Dafür stehen 1.200 Betten mit Isolationsoption zur Verfügung – eine Zahl, die verdoppelt werden soll. Bis 16. März hatten sich zudem bereits 2.336 Ex-Soldaten als Reservisten zurück zum Sanitätsdienst gemeldet.
Es wird aber keine Soldaten geben, die Ausgangssperren durchsetzen. „Es braucht sich keiner Sorgen machen, dass die Bundeswehr sogenannte Corona-Partys auflöst oder Ausgangsbeschränkungen überwacht“, sagte Mitte März 2020 Eberhard Zorn, Generalinspekteur und damit oberster Soldat der Bundeswehr. Laut Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer könnte die Bundeswehr aber Aufgaben übernehmen, die bisher private Sicherheitsdienste ausüben – etwa die Bewachung öffentlicher Einrichtungen.
In Zeiten von Terror oder Corona gilt es, ernsthaft darüber nachzudenken – gegen alle künstlich militär-allergischen Bedenkenträgereien. Bundeswehrsoldaten sind noch zu keinem Zeitpunkt zur Bedrohung für friedliebende Zivilisten geworden. Nur Ewiggestrige können dahinter eine Militarisierung der Polizei wittern. Oder gar eine schleichende Militarisierung der Gesellschaft. Allen Zweiflern sei es ins Stammbuch geschrieben: Die Bundeswehr ist über die Jahrzehnte in vielerlei Beziehung zu einem stabilisierenden Faktor unseres Landes geworden. Sie ist parlamentarisch kontrolliert, rechtsstaatlich verfasst und ein Garant für die freiheitlich demokratische Grundordnung. Wer die Bundeswehr aus ideologischen Gründen bei Gefahr im Verzug außen vorlässt, macht sich schuldig zu Lasten möglicher Opfer.
10. Folgerungen für die politische Bildung
In Deutschland will man politisch und medial möglichst wenig mit Militär zu tun haben. Ein biederer, naiver Pazifismus ist angesagt – auch in vielen Bildungseinrichtungen. Symptomatisch dafür ist, dass viele Schulen in Deutschland keine Jugendoffiziere zur sicherheitspolitischen Unterrichtung ins Haus lassen oder gar Schulen, die so handeln, mit „Friedenspreisen“ ausgezeichnet werden. Immer mehr Hochschulen rühmen sich im Zuge einer „Zivilklausel“, dass sie keinerlei Forschung betreiben, die irgendetwas mit Militär zu tun habe. Die erste solche Zivilklausel trat 1986 an der Universität Bremen in Kraft. Mittlerweile haben 65 deutsche Hochschulen solche Klauseln. Entsprechendes ist zudem in vier Landeshochschulgesetzen verankert: in Niedersachsen, Thüringen, NRW und Bremen. Damit verschwindet natürlich auch das Themenfeld Sicherheits- und Rüstungspolitik aus der hochschulpolitischen Öffentlichkeit.
Das ist sträflich leichtsinnig, denn damit verweigert man jungen Leuten und der Bevölkerung insgesamt die Aufklärung über die eminent wichtige sicherheitspolitische Lage auf dem Globus. Vor diesem Hintergrund ist zu hoffen, dass wenigstens Einrichtungen der Erwachsenenbildung, etwa die politischen Stiftungen, Themen wie „Bundeswehr“, „Nato“, „äußere Sicherheit“ aufgreifen und unter die Menschen bringen.
Weiterführende Lektüre
Josef Kraus / Richard Drexl: Nicht einmal bedingt abwehrbereit – Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine. FinanzBuchVerlag München, Juni 2019, 240 Seiten, Euro 22.99.
Zu den Autoren:
Josef Kraus, geb. 1949, Kolumnist, Oberstudiendirektor a.D., langjähriger ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, von 1990 bis 2013 Mitglied im Beirat für Innere Führung des Bundesministers der Verteidigung.
Richard Drexl, geb. 1952, war 41 Jahre Berufssoldat, zuletzt als Oberst Kommandeur der Technikerschule der Luftwaffe in Kaufbeuren; er ist ehrenamtlicher Präsident des Bayerischen Soldatenbundes von 1874 e.V.