Beim diesjährigen Rückblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurden Inhalt, Bedeutung sowie Tragweite der bemerkenswertesten Entscheidungen aus dem vergangenen Jahr über die verfassungsrechtlichen Anforderungen an notlagenbedingte Kreditaufnahmen, den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Polizeiarbeit und die Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten des Freigesprochenen in den Fokus gestellt: Wie steht es um die Zukunft der Schuldenbremse und die Anforderungen an deren Ausnahmen? Inwieweit erweist sich Datenschutz als Fessel des staatlichen Schutzauftrags und der Digitalisierung? In welchem Verhältnis steht das Bedürfnis nach Rechtssicherheit und die Schaffung von Rechtsfrieden gegenüber materieller Gerechtigkeit? Diesen vielfältigen sowie weiteren diffizilen Fragestellungen widmeten sich die hochkarätigen Vertreterinnen und Vertreter aus Justiz, Politik, Wissenschaft und Anwaltschaft in Berlin.
In seiner Begrüßung richtete der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Prof. Dr. Norbert Lammert, seinen besonderen Dank an Prof. Dr. Judith Froese (Universität Konstanz) und Prof. Dr. Klaus Gärditz (Universität Bonn) für deren wissenschaftliche Begleitung der Veranstaltung sowie ihren auf die Begrüßung folgenden Überblick aus der Fülle von Einzelentscheidungen, die eine besondere Aufmerksamkeit verdienten. Mit Blick auf die Podien wies der Vorsitzende daraufhin, dass sich in allen drei Fällen der exemplarisch ausgewählten und zu diskutierenden Entscheidungen schwerlich sagen ließe, dass die getroffene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so ganz sicher oder auf gar keinen Fall zu erwarten gewesen sei. „Eher gibt es für alle drei Beispiele starke Indizien dafür, dass es jedenfalls eher auf diese als auf eine andere Entscheidung hinauslaufen könnte“, so Lammert. Dies bestätigten auch die drei darauffolgenden Podiumsdiskussionen.
Ein Ende der Großzügigkeit?
Den Auftakt bildete das von Dr. Christian Rath moderierte Podium zur Entscheidung des Zweiten Senats über das spektakuläre Haushaltsmanöver der Ampelregierung vom 15. November 2023. Dieses sei das wichtigste Urteil des Jahres, da es nicht nur das erste Urteil zur Schuldenbremse sei, sondern auch zu einer massiven Regierungskrise geführt habe, betonte der rechtspolitische Journalist in seiner Einführung. Jedenfalls über die herausragende Bedeutung des Urteils aus verfassungsrechtlicher, politischer und ökonomischer Perspektive waren sich die drei Diskussionspartner einig. „Dass die neue Schuldenbremse greift und justiziabel ist, ist das überragend wichtige Signal, das von diesem Urteil ausgeht“, betonte Prof. Dr. Hanno Kube, LL.M. (Cornell) (Universität Heidelberg). Darüber hinaus bringe das Urteil neue Gewissheit und Klarheit im Finanzverfassungsrecht und das sei ein großes und bleibendes Verdienst laut dem Finanz- und Steuerrechtsexperte. Der Vorsitzende des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer Prof. Dr. Christofer Lenz identifizierte neben der Schuldenbremse selbst, den Landesverfassungsgerichten, den haushaltsrechtlichen Grundsätzen, dem Prinzip der Nichtigkeit und der parlamentarischen Opposition insbesondere das Bundesverfassungsgericht und die Bürgerinnen und Bürger als Gewinner dieser Entscheidung. Gleichzeitig stelle sich für den Rechtsanwalt die Frage, ob eine Überprüfung der Schuldenbremse in einem Organstreitverfahren in Zukunft noch möglich sei, sollte die „große“ politische Opposition einmal in einen Konsens gebunden sein. Den Blick in die Zukunft wagte auch der stellv. Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Haushalt, Finanzen und Kommunalpolitik, Dr. Mathias Middelberg MdB, der die Folgen des Urteils aus politischer Perspektive beleuchtete. Diese würden zeigen „wie sehr die Verschuldung aus der Vergangenheit, das Handeln in der Zukunft einschränkt“ und verwies auf die Verantwortung, die gegenüber künftigen Generationen nicht nur im Hinblick auf die Klimapolitik, sondern auch mit Blick auf politische, volkswirtschaftliche und finanzwirtschaftliche Folgen bestehe.
Staatlicher Schutzauftrag und Datenschutz im Widerstreit?
Der Entscheidung des Ersten Senats über die automatisierte Datenanalyse bzw. Datenauswertung polizeilicher Daten vom 16. Februar 2023 widmete sich das von Dr. Stephan Klenner moderierte Podium. Auch wenn diese Entscheidung nicht gleichermaßen Beachtung in der öffentlichen Debatte gefunden habe, sei das Zusammenspiel von Datenschutz und staatlichem Schutzauftrag von elementarer Bedeutung, so der rechtspolitische Journalist. Prof. Dr. Liane Wörner, LL.M. (UW-Madison) (Universität Konstanz), verortete die Entscheidung zunächst in der Judikatur des Gerichts unter Berücksichtigung damit verbundener Restriktionen und analysierte den sich daraus ergebenden Entscheidungskern mit Blick auf die Zukunft der Datafizierung. „Wir müssen das ‚Wie‘ des Datenumgangs regeln, bevor sie uns regeln“, forderte die Strafrechtswissenschaftlerin in ihrem Aufruf zur Neuanalyse und identifizierte die Antwort auf die Frage, mit welchen Daten wir in welcher Datenumwelt leben wollten als „umfassende Aufgabe der Gesellschaft“. Laut dem Richter am Bundesgerichtshof Dr. Peter Allgayer handele es sich bei der Entscheidung „nicht nur um eine erwartbare Fortschreibung oder behutsame Fortentwicklung einer bereits existierenden Rechtsprechungslinie“. Vielmehr beträfe die Entscheidung als dritte Ebene neben der etablierten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Frage der Datenerhebung und Datenverwendung, die automatisierte Datenauswertung als spezielle Form der Verwendung. Trotz der umfangreichen Ausführungen zu den Auswirkungen der Gesichtspunkte auf die Verhältnismäßigkeit, bestehe für zukünftige Entscheidungen erheblicher Spielraum. „Der Gesetzgeber hat insoweit also noch keinen sicheren Boden unter den Füßen“, resümierte der Datenschutzrechtsexperte. Die Konsequenzen für den Gesetzgeber analysierte die Berichterstatterin für Digitales und Recht der Arbeitsgruppe Digitales der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Catarina dos Santos-Wintz MdB, in ihrer politischen Einordnung der Entscheidung. Aus den strengen Voraussetzungen ergebe sich ein Spannungsfeld für den Gesetzgeber, allerdings sei die automatisierte Datenanalyse nicht als grundsätzlich unzulässig beschieden worden, sodass die Politik, „die ihr gegebenen Spielräume wahrnehmen“ müsse, forderte die Unionspolitikerin. Laut dos Santos-Wintz sei es für ein zusammenfassendes Agieren wichtig, einen konstruktiven Dialog nicht nur zwischen Bundesregierung und Opposition, sondern auch zwischen Innenministerin und den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder, zu führen.
Absoluter Vorrang der Rechtssicherheit?
Bereits die Einführung von Moderatorin Gigi Deppe in das letzte Podium, das sich der Entscheidung über die Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten von Freigesprochenen widmete, verdeutlichte die ausgeprägte Divergenz der Meinungen zu diesem verfassungssensiblen und in der Gesellschaft intensiv diskutierten Thema. Es gebe gute Argumente für beide Seiten, die ebenfalls auf dem Podium vertreten seien, führte die Leiterin der ARD-Rechtsredaktion/Hörfunk an. Der Unionspolitiker Ansgar Heveling MdB unterstrich in seiner Einführung aus rechtspolitischer Sicht, dass die Diskussion um die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe bereits älter sei als der hier zu diskutierende Fall. Durch diesen habe das Thema allerdings einen zusätzlichen Impuls erfahren und die Überlegungen einer Neuregelung Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden. Die Möglichkeit, das Thema der Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten von Freigesprochenen zukünftig allerdings noch einmal politisch aufzugreifen, sei durch das Urteil erheblich erschwert worden, kritisierte der Justiziar der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Zumindest in diesem Punkt konnte Prof. Dr. Björn Schiffbauer (Universität Rostock) dem Unionspolitiker zustimmen, allerdings zeigte er sich mit dem Ergebnis der Entscheidung, die die Neuregelung des § 362 Nr. 5 StPO für unvereinbar mit Art. 103 Abs. 3 GG erklärte, in seiner rechtswissenschaftlichen Einordnung zufrieden. Laut dem Rechtswissenschaftler führe die generalklauselartige Öffnung eines Strafverfahrens letztlich dazu, dass selbst ein Freispruch de facto jedenfalls unter Vorbehalt zu sehen sei. „Das halte ich für rechtsstaatlich nicht nur bedenklich, sondern für schlicht eines Rechtsstaats unwürdig“, betonte Schiffbauer. Einen eindrücklichen Einblick in die Auswirkungen auf die strafrechtliche Praxis bot Dr. Angelika Allgayer, Richterin am Bundesgerichtshof, anhand eines Falles, über den der Strafsenat im vergangenen Jahr entscheiden musste. Dieser sei zwar kein Wiederaufnahmefall gewesen, hätte allerdings leicht einer werden können, so Allgayer. Mithilfe der Schilderung der Geschehnisse veranschaulichte die Richterin die „Zufälligkeiten und Wertungswidersprüche“, die sich aus dem Urteil vom 31. Oktober 2023 ergäben. „Man hat hier Bewertungen zu treffen, die in die eine oder in die andere Richtung gehen können. Anders als mein Vorredner bin ich in der Sache allerdings nicht bei der Senatsmehrheit“, verdeutlichte die Strafrechtsexpertin.
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