Drei Millionen Menschen zwischen regionalen Interessen eingekesselt. Die humanitäre Situation ist anhaltend prekär.
Die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens ist neben den kurdischen Gebieten im Nordosten die letzte Region, die das Assad-Regime noch nicht wieder unter seine Kontrolle bringen konnte. Die gewaltsamen Kämpfe um die Region werden aktuell maßgeblich zwischen der jihadistischen Rebellengruppe Hayat Tahrir al Sham (HTS) (1), und dem von Russland durch Luftschläge unterstützten syrischen Militär ausgetragen.
Neben den Jihadisten leben in der Region über drei Millionen Zivilisten, Binnenflüchtlinge und ehemalige Oppositionelle. Bewegungsraum für die Menschen gibt es kaum. Teilweise ursprünglich für 10.000 Menschen ausgelegte Camps beherbergen mittlerweile mehr als 100.000 Personen. Außerhalb dieser leben Menschen in provisorischen Zelten, unter Bäumen oder in deutlich vom Kriegsgeschehen gezeichneten Gebäuden.
Aufgrund der großen Anzahl an Flüchtlingen und mangelnder Arbeitsmöglichkeiten herrscht extreme Armut. Es gibt kaum Zugang zu Brot und Wasser: Hilfsorganisationen sprechen von einer Lebensmittelversorgung, die kaum 10 Prozent der benötigten Nahrung abdeckt. Fehlende sanitäre Einrichtungen verschlimmern die Überlastung der noch bestehenden örtlichen medizinischen Versorgung. Deutlich verschärft wird die Lage durch wiederholte Angriffe der syrischen und russischen Luftwaffe auf humanitäre Einrichtungen. Während Moskau und Damaskus darauf bestehen, dass die Luftschläge in Idlib der Bekämpfung örtlicher Extremisten dienen, sprechen die UN und lokale Hilfsorganisationen von Angriffen auf eindeutig humanitäre Ziele wie Krankenhäuser, Schulen und Wochenmärkte.
Die prekäre humanitäre Lage sowie die anhaltende Bedrohung der Menschen durch starke Kampfhandlungen resultieren in Fluchtbewegungen in Richtung der türkischen Grenze. In den letzten Wochen mussten fast 300.000 Menschen aus der Stadt Idlib in den Norden fliehen.
Wenige Szenarien für die Entwicklung in Idlib denkbar. Bestehende Lösungsvorschläge sind begrenzt.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass das syrische Regime seine territoriale Herrschaft in der Provinz Idlib zeitnah größtenteils wiederherstellen kann. Fraglich ist dabei nur das Ausmaß der russischen Unterstützung. Um die komplizierten Beziehungen zu Ankara nicht überzustrapazieren, könnte Russland sein Engagement zurückfahren, sobald die wichtigen Handels- und Verkehrsrouten M5 (Aleppo – Damaskus) und M4 (Latakia – Aleppo) vom Assad-Regime kontrolliert werden. Alleine wäre das syrische Regime militärisch nicht in der Lage, das Gebiet komplett zurückzuerobern. In beiden Fällen bliebe eine humanitäre Katastrophe nicht aus; die Menschen steckten weiter fest.
Insbesondere unter den Binnenflüchtlingen herrscht große Angst, dass türkische Pläne zur Zwangsumsiedlung in die selbsternannte „Safe Zone“ umgesetzt werden könnten. Im Oktober 2019 hatte Erdogan mit der Militäroffensive „Operation Friedensquelle“ einen rund 120 Kilometer langen Landstreifen an der nordöstlichen syrischen Grenze zwischen den Städten Tall Abyad und Ras Al-Ain besetzt. Dieser soll als Siedlungsraum für Flüchtlinge aus Idlib und einer Anzahl von bis zu zwei Millionen syrischen Flüchtlingen, die sich derzeit in der Türkei aufhalten, dienen; bisher sind keine Anzeichen für die konkrete Umsetzung dieses Planes zu erkennen.
Fest steht: Um weitere Flüchtlingsströme in den Westen und damit eine weitere Zerreißprobe in Deutschland und der EU zu vermeiden, scheint eine Intensivierung der Unterstützung für angrenzende Flüchtlingsaufnahmeländer wie Libanon, Jordanien und auch der Türkei unvermeidlich.
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(1) Bei den in Idlib kämpfenden oppositionellen Kräften kann nicht mehr die Rede von den ehemals vom Westen unterstützten Kräften der syrischen Opposition sein. Vielmehr handelt es sich vornehmlich um jihadistische Gruppierungen, die sich zwar teilweise von der Terrororganisation Al-Qaida losgesagt haben, aber ohne Zweifel noch immer stark radikale, jihadistische Ideologien vertreten.
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