Reportages pays
Radioskopie der neuen Regierung Barnier
Staatspräsident Emmanuel Macron rief nach den Neuwahlen der französischen
Nationalversammlung zur Bildung einer Regierung „der nationalen Einheit und des
Zusammenkommens“ auf. Die Ergebnisse der Parlamentswahlen hatten das Land durch das
Fehlen einer Mehrheit in die schwierige Lage gebracht, eine Regierung aufzustellen, die sich
nicht durch eine „natürliche Legitimation“ durch das Kräfteverhältnis in der
Nationalversammlung auszeichnet. Während sich die Neue Volksfront (NFP) als Gruppierung
mit den meisten Sitzen durch die Wahlergebnisse bemächtigt sah, dem Staatspräsidenten
eine Premierministerin vorzuschlagen, nahm dieser die Kandidatur von Lucie Castets, eine
hohe Beamtin aus der Pariser Stadtverwaltung, nicht an und argumentierte, dass eine durch
die NFP dominierte Regierung zur politischen Instabilität des Landes beitragen würde, da die
Bedrohung von Misstrauensvoten omnipräsent wäre. Zumindest hatten der Rassemblement
National und Les Républicains betont, dass sie jede Regierung zensieren würden und auch die
Macron-Partei machte deutlich, einer Regierung kritisch zu begegnen, in der Vertreter der
linkspopulistischen Partei La France Insoumise ein Ministeramt innehätten.
So kam es, dass Emmanuel Macron nach zahlreichen Sondierungsgesprächen es für sinnvoll erachtete, den früheren EU-Sonderbeauftragten für den Brexit und ehemaligen Außenminister Michel Barnier zum Premierminister zu ernennen, da dieser, so die Meinung Macrons, am ehesten eine Regierung zusammenstellen könne, ohne der omnipräsenten Gefahr von einem Misstrauensvotum ausgesetzt zu sein.
Barnier wollte sich tatsächlich auch den moderaten Kräften aus dem linken Lager annähern; was ihm nicht gelungen ist, so dass man nicht von einer „Regierung der Einheit“ sprechen kann. Vielmehr reichen die Kabinettsmitglieder der Regierung Barniers nun von zentristischen Vertretern bis hin zu rechtskonservativen Ministern und festzustellen bleibt auch, dass die Macronisten in der Regierung in der Überzahl bleiben. Von den 19 zentralen Ressorts der Regierung, die durch einen Minister geleitet werden (die anderen Ressorts werden durch beigeordnete Minister und Staatssekretäre geleitet) sind 9 Posten durch das Ensemble-Lager und 4 Posten durch Républicains (namentlich Bruno Retailleau als Innenminister, Annie Genevard als Landwirtschaftsministerin, Patrick Hetzel als Hochschulminister und François-Noël Buffet als Minister für Überseegebiete) abgedeckt. Ein Drittel der Minister war bereits Mitglied der macronistischen Regierungen unter Premierminister Gabriel Attal bzw. Elisabeth Borne, was die Opposition an dem deklarierten politischen Neuanfang zweifeln lässt.
Fakt ist aber, dass es zur vorherigen Regierung große Unterschiede gibt. Nachdem insbesondere die letzte Regierung unter Premierminister Gabriel Attal als „zu elitär“ bezeichnet wurde, scheint Michel Barnier für eine größere territoriale Sichtbarkeit seiner Regierung eingetreten zu sein. Die Geografie der Regierung Barnier weist im Vergleich zur Regierung Attal und Borne einen klaren Bruch auf. Von den vollbefugten 19 Ministern, stammen lediglich vier aus Paris, wohingegen die Hälfte der Mitglieder der Regierung Attal aus dem Großraum Paris stammte, was ihr häufig zum Vorwurf gemacht wurde; ebenso wie die Dominanz von Abgängern der Elitehochschulen. 13 der Minister der Regierung Barnier haben einen Abschluss einer öffentlichen Universität. Michel Barnier scheint mit dieser Wahl also auch ein Signal der Bürgernähe und Bodenhaftigkeit seiner Regierung senden zu wollen.
Die aktuellen politischen Baustellen und mögliche Konfliktfelder
Die Schaffung von neuen Ressorts für Staatssekretäre und beigeordnete Minister gibt wie bei jeder neuen Regierung in Frankreich einen Hinweis auf die Themenschwerpunkte, die sich die Regierung setzt. Auffällig sind in diesem Fall die neuen Ressorts Gesundheit und Zugang zur Gesundheitsversorgung, Künstliche Intelligenz und Digitalisierung, Regierungskoordination, Sicherheit im Alltag sowie Schulerfolg und berufliche Bildung, mit denen Premierminister Barnier Akzente in seinem Regierungsprogramm setzen möchte.
Die erste Hürde für die neue Regierung gilt es in den kommenden Wochen zu überwinden. Das Haushaltsgesetz für 2025, welches eigentlich bis zum 1. Oktober vorgelegt werden soll, muss durch die Nationalversammlung gebracht werden. Premierminister Michel Barnier hat ein wenig bekanntes Duo mit der Aufgabe betraut, das riesige Loch im französischen Haushalt zu stopfen. Mit Antoine Armand (Ensemble) als Wirtschafts- und Finanzminister und Laurent Saint-Martin (Ensemble) als Haushaltsminister ist davon auszugehen, dass die politische Linie von Staatspräsident Emmanuel Macron in Form von Steuersenkungen und wirtschaftsfreundlichen Reformen nicht in Gefahr ist. Es ist nun eine Mammutsaufgabe, das Haushaltsgesetz 2025 durch das tief gespaltene französische Parlament zu bringen. Die Oppositionsparteien drohen mit Misstrauensvoten, die jedoch nur bei einem Zusammenschluss von der linken Neuen Volksfront und des Rassemblement National durchgesetzt werden und zum Fall der Regierung Barnier führen könnten. Ein weiterer Stolperstein wird es sein, die Haushaltsentscheidungen der Regierung in Brüssel zu verteidigen, wo Frankreichs Partner in der Europäischen Union wahrscheinlich wenig Verständnis dafür haben werden, dass Paris erneut mehr Zeit für den Abbau seines Haushaltsdefizits fordert. Michel Barnier hat inzwischen bestätigt, dass er den Kurs von Wirtschaftsminister a.D. Bruno Le Maire fortführen und vorgenommene Steuersenkungen nicht zurücknehmen wird. Dieses Zugeständnis holte sich der ehemalige Premierminister Gabriel Attal, der derzeitige Fraktionsvorsitzender von Ensemble im Parlament, als Voraussetzung für eine Regierungsbeteiligung seines Lagers ein. Eine mögliche Option könnten hingehen eine Erhöhung der Steuern auf Energieunternehmen und eine Steuer auf große Aktienrückkäufe von Unternehmen sein. Breitere Steuererhöhungen, so bleibt zu betonen, werden von den Républicains und der rechtspopulistischen Partei Rassemblement National abgelehnt. Das bedeutet jedoch auch, dass die Hauptlast der Bemühungen zur Verringerung des Haushaltsdefizits aller Voraussicht nach von unpopulären Ausgabenkürzungen getragen werden muss, die nach Berechnungen des Finanzministeriums etwa 20 bis 30 Milliarden Euro betragen dürften.
In seiner politischen Grundsatzrede vor der Nationalversammlung am 1. Oktober 2024 wird Premierminister Barnier die weiteren Themenfelder benennen, die er gemeinsam mit seiner neuen Regierung angehen möchte. In einer Pressemitteilung nannte er hier bereits die Themen Kaufkraft, ein zentrales Anliegen der Französinnen und Franzosen, Sicherheit und Einwanderung, aber auch die Bereiche „ökologische Schulden“, „wirtschaftliche Attraktivität“ und „Kontrolle der öffentlichen Finanzen“. Grundsätzlich bleibt festzustellen, dass sich alle an der Regierung teilnehmenden Parteien in dieser sehr breiten Themenaufstellung wiederfinden dürften. Dreh- und Angelpunkt für eine gelungene Zusammenarbeit dürften jedoch insbesondere gesellschafts- und migrationspolitische Fragestellungen sein, an der die fragile Allianz zerbrechen könnte. In Bezug auf die großen gesellschaftlichen Gesetze, die Staatspräsident Emmanuel Macron seit 2017 durchgebracht hat, hat das Präsidentenlager Michel Barnier bereits ein Lippenbekenntnis abverlangt, dass diese nicht zurückgenommen werden. Mit Catherine Vautrin (parteilos, ehemals Les Républicains), der neuen Ministerin für regionale Angelegenheiten und Laurence Garnier (Les Républicains), der neuen Staatssekretärin für Verbraucherschutz sind zwei dezidiert wertkonservative Frauen Teil der neuen Regierung. Beide stimmten in der Vergangenheit gegen die Ehe für alle und gegen die Verankerung des Rechts auf Abtreibung in der französischen Verfassung. Die zentristische Partei MoDem hatte aufgrund der Regierungsteilhabe von Laurence Garnier, die ursprünglich sogar als Familienministerin gehandelt wurde, eine Absage einer eigenen Regierungsteilnahme in Aussicht gestellt. Nur durch die Nominierung auf einen anderen Staatssekretärsposten konnte die Situation von Premierminister Barnier eingefangen werden.
Gerade im innenpolitischen Bereich dürfte es in der Nationalversammlung zu harten Schlagabtauschen kommen. Die Nominierung von Bruno Retailleau (Les Républicains), ehemaliger Fraktionsvorsitzender der Républicains im Senat, wird hart von der linken Opposition angegangen und sorgte auch im Präsidentenlager für Kritik. Retailleau gehört dem rechtskonservativen Flügel der Partei an und forderte härte Regeln im Hinblick auf Frankreichs Ausweisungspolitik sowie die Regeln für Familiennachzug.
Im Bereich Außenpolitik und Verteidigung scheint Barnier auf Kontinuität und starkes französisches Engagement in Europa zu setzen. Der neue Außenminister Jean-Noël Barrot war bisher beigeordneter Minister für europäische Angelegenheiten; Verteidigungsminister Sébastien Lecornu wurde in seinem Amt bestätigt. Beide gehören der Macron-Partei an. Für die europäischen Partner besteht hier die Gewissheit, dass Frankreich, insbesondere im Hinblick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ein verlässlicher Partner bleiben wird.
Positionen und Strategien der Opposition
Noch vor der Ernennung der Regierung hatte das Bündnis der Linksparteien, die Neue Volksfront, angekündigt, der Regierung das Misstrauen aussprechen zu wollen. Die linkspopulistische Partei La France Insoumise hat sich klar positioniert: der Gründer Jean-Luc Mélenchon rief dazu auf, sich „so schnell wie möglich“ dieser „Regierung der Verlierer“ zu entledigen, die seiner Meinung nach „weder Legitimität noch Zukunft“ habe. Auch die Vorsitzende der französischen Grünen, Marine Tondelier, schloss sich dieser Meinung an. Olivier Faure, der erste Sekretär der Parti socialiste, bestätigte am 22. September, dass seine Partei einen Misstrauensantrag gegen die Regierung von Michel Barnier nach ihrer politischen Erklärung am 1. Oktober einreichen werde. Der Chef der Sozialisten bezeichnete die neue
Regierung als „die am weitesten rechtsstehende Regierung der Fünften Republik“, räumte
jedoch ein, dass dieser Misstrauensantrag ohne die Stimmen des Rassemblement National
„wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt“ sein werde. Während es ausreicht, dass 58
Parlamentarier einen Misstrauensantrag stellen, damit dieser auf die Tagesordnung der
Nationalversammlung gesetzt wird, muss er die absolute Mehrheit, d. h. 289 Stimmen,
erhalten, um erfolgreich zu sein. Diese Hürde liegt weit über den 193 Sitzen der Neuen
Volksfront.
Dieser politischen Pattsituation ist sich auch das rechtspopulistische Lager bewusst. Mit der
Möglichkeit, der neuen Regierung jederzeit das Misstrauen auszusprechen zu können, will die
Partei nun die Gelegenheit nutzen, dem neuen Premierminister einige, wenn auch
symbolische, Siege abzuringen. Das RN wird sich weniger mit den von Michel Barnier
gemachten Zugeständnissen zufriedengeben als mit dem, was in den Augen seiner Gegner,
Beobachter und Wähler als solche erscheinen. Denn wenn die Linke die Regierung
beschuldigt, „in den Händen von Le Pen“ zu sein, werden die Rechtspopulisten als große
Sieger der Situation herausgehen.
Ausblick
Mit der Feststellung, dass seine Regierung keine Kohabitation darstelle und es weiterhin
keine Mehrheiten gibt, hat Premierminister Michel Barnier bereits indirekt auf die Fragilität
seiner neuen Regierung hingewiesen. Auffällig ist, dass insbesondere die politischen
Schwergewichte auf eine Regierungsteilnahme verzichtet haben und sich somit bereits aktiv
für die Präsidentschaftswahlen 2027 warmlaufen. Der Fraktionsvorsitzende der Républicains
in der Nationalversammlung, Laurent Wauquiez, hat das Wirtschafts- und Finanzressort
abgelehnt. Der ehemalige macronistische Innenminister Gérard Darmanin beanspruchte
das prestigeträchtige Außenministerium für sich, das als gute Vorbereitung für das
Präsidentenamt gilt. Andere Posten kamen für ihn nicht in Frage. Auch Edouard Philippe, der
bereits seine Kandidatur für das Präsidentenamt angekündigt hat, war auffällig ruhig im
Regierungsbildungsprozess. Hier bleibt zu hoffen, dass die Regierung Barnier politische
Akzente setzen, das Land aus der politischen Krise führen kann und nicht nur als leere
Klammer bis zu den nächsten Wahlen hinhalten muss.
Für das bürgerlich-konservative Lager hat sich ein unverhofftes Handlungsfenster ergeben.
Als Tonangeber in der neuen Regierung kann die Partei nun beweisen, dass sie eine solide
Regierungsoption darstellt und sich von den Wahlschlappen der vergangenen Jahre
freischwimmen kann. Als Befreiungsschlag ist in diesem Hinblick auch der Parteiaustritt des
nunmehr ehemaligen Parteivorsitzenden Eric Ciotti zu werten, der im Rahmen der
Parlamentsneuwahlen den Schulterschluss mit den Rechtspopulisten gesucht hat. Die
Républicains müssen sich wieder mit solider bürgerlich-konservativer Politik ausweisen, die
eine klare Brandmauer zum Rassemblement National aufzieht.