Kritik an der Wahl der Präsidentin der Nationalversammlung
Während die Wahl der Präsidentin der Nationalversammlung ein erster Test des neuen Kräfteverhältnisses im Plenarsaal seit dem zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen darstellte, bestätigte die Wahl von Yaël Braun-Pivet die Logik der drei Blöcke. Sowohl seitens der extremen Rechten als auch im linken Lager und der Präsidentenmehrheit stimmten die Abgeordneten fraktionstreu ab.
Um im ersten oder zweiten Wahlgang gewählt zu werden, muss ein Kandidat die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten. Dies war im ersten Wahlgang nicht der Fall: André Chassaigne (PCF) lag mit 200 Stimmen vor Sébastien Chenu (Rassemblement National (RN), 142 Stimmen) und Yaël Braun-Pivet (Renaissance,124 Stimmen). Philippe Juvin (La Droite républicaine, 48 Stimmen), Naïma Moutchou (Horizons, 38 Stimmen) und Charles de Courson (Groupe Libertés, indépendants, outre-mer et territoires (LIOT) Fraktion Freiheit, Unabhängige, Übersee und Territorien, 18 Stimmen) lagen weit abgeschlagen zurück. Sowohl Naïma Moutchou als auch Philippe Juvin zogen sich aus dem zweiten Wahlgang zurück. Ihre Stimmen gingen im zweiten Wahlgang an die Renaissance-Abgeordnete Yaël Braun-Pivet. Damit lag sie im zweiten Wahlgang mit 210 Stimmen vor André Chassaigne (202 Stimmen). Die Präsidentenmehrheit und die Fraktion La Droite républicaine unter dem Vorsitz von Laurent Wauquiez hatten sich darauf geeinigt, den Kandidaten der Neuen Volksfront, André Chassaigne, zu blockieren. Somit gewann Yaël Braun-Pivet im dritten Wahlgang mit 220 Stimmen, wobei sie wahrscheinlich zusätzlich zu den vorherigen Übertragungen der Stimmen von Horizons und LR von einigen LIOT-Stimmen nach dem Rückzug von Charles de Courson profitierte. André Chassaigne belegte den zweiten Platz (207 Stimmen) vor Sébastien Chenu (141 Stimmen).
Nach ihrer Wahl stellte Yaël Braun-Pivet fest, dass die Nationalversammlung „vielleicht repräsentativer für die Franzosen als je zuvor“, aber auch „gespaltener als je zuvor“ sei, und rief die Abgeordneten dazu auf, „nach Kompromissen zu suchen“. Während das bürgerlich-konservative Lager seine Stimmenübertragungen und die Verhandlungen mit der Präsidentenmehrheit als wichtigen Teil eines demokratischen Prozesses einordnete, bezeichnete das linke Lager die Wahl als „gestohlen“. Der Verfassungsrat bestätigt am 22. Juli, dass er zwei Einsprüche von Abgeordneten der Partei La France insoumise bezüglich der Wiederwahl von Yaël Braun-Pivet zur Präsidentin der Nationalversammlung erhalten habe.
Die Fraktionsvorsitzende von La France insoumise, Mathilde Panot, kritisierte mit Verweis auf die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Parlament die Tatsache, dass 17 Abgeordnete, die auch Mitglieder der zurückgetretenen Regierung von Gabriel Attal sind, an der Wahl teilnahmen. Beide Klagen stützten sich auf Artikel 23 der Verfassung, der festlegt, dass „die Aufgaben eines Regierungsmitglieds mit der Ausübung jedes parlamentarischen Mandats unvereinbar sind“. Am Ende dieses Textes heißt es jedoch, dass „die Unvereinbarkeiten nicht wirksam werden, wenn die Regierung vor Ablauf der genannten Frist“ von einem Monat zurücktritt. Dieses Gesetz wurde jedoch für den Fall konzipiert, dass ein Abgeordneter Minister wird, und nicht für den Fall, dass ein Minister Abgeordneter wird. Das Verfassungsgericht erklärte sich in dieser Fragestellung als nicht zuständig.
Bürgerlich-konservatives Lagers: Oppositionspartei mit Willen zur konstruktiven Zusammenarbeit?
Für eine erklärte Oppositionsfraktion mit siebenundvierzig Abgeordneten wurde die Fraktion La Droite républicaine, die eine Mehrheit der „historischen“ Républicains“, also des Lagers, das bei der Partei Les Républicains sich nicht Eric Ciotti angeschlossen hat, bei der Verteilung der Posten im Präsidium der Nationalversammlung am 19. Juli, sehr gut bedient. Sie erhielt zwei Vizepräsidentschaften (Xavier Breton und Annie Genevard), aber auch einen der insgesamt drei Quästorenposten (Michèle Tabarot). La Droite républicaine betont, dass sie weiterhin eine Oppositionsfraktion sei; die Verhandlungen mit der Präsidentenmehrheit seien für die Präsidiumsposten eingegangen worden, um den Linkspopulisten den Weg zu versperren. Diese Gangart wird als „unabhängig aber konstruktiv“ eingeordnet. Während die Präsidentenmehrheit nun aufgrund dieser Absprachen auch auf eine Koalition mit dem bürgerlich-konservativen Lager hofft, schließt die Fraktion La Droite républicaine eine solche bisher kategorisch aus. Stattdessen stellte der Fraktionsvorsitzende Laurent Wauquiez am 22. Juli gemeinsam mit dem Fraktionsvorsitzenden im Senat, Bruno Retailleau, die Konturen eines Gesetzespaktes vor, die das bürgerlich-konservative Lager mit der Präsidentenmehrheit abschließen will.
Der aus dreizehn Texten bestehende „Gesetzespakt“ stützt sich auf „drei Achsen“: die Wiederherstellung der staatlichen Autorität, die Wiederansiedlung von Industrie in Frankreich sowie den Bürokratieabbau im öffentlichen Dienst. Als rote Linien definierte das bürgerlich-konservative Lager die Erhöhung von Steuern sowie die Senkung von Renten. An der Spitze der Liste stehen Gesetze zu den Themen Sicherheit, Justiz, Einwanderung und Bekämpfung des Drogenhandels.
Rassemblement National als Verlierer der konstituierenden Sitzung der Nationalversammlung
Die Präsidentin der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet, betonte in einem Fernsehinterview, dass es nicht normal sei, dass die Fraktion Rassemblement National trotz ihrer Größe von 126 Abgeordneten nicht im Präsidium der Nationalversammlung vertreten ist. In der Geschäftsordnung der Versammlung heißt es: „Die Wahl der Vizepräsidenten, Quästoren und Sekretäre erfolgt, indem man sich bemüht, im Präsidium die politische Konfiguration der Versammlung wiederzugeben“. Zum ersten Mal in der Fünften Republik hat die größte Fraktion der Versammlung (126 Mitglieder) nun jedoch keinen der 22 Posten. Nach den Parlamentswahlen im Jahr 2022 stellte RN mit 89 Abgeordneten noch 2 Vizepräsidenten.
Marine Le Pen schlachtet diesen Missstand nun politisch aus. Rassemblement National sei die einzige Oppositionspartei, wohingegen das bürgerlich-konservative Lager durch die Kompromisse mit der Präsidentenmehrheit Teil einer „Einheitspartei“ Frankreich sei.
Überraschungserfolg des linken Lagers im Präsidium der Nationalversammlung
Zur allgemeinen Überraschung errang die Neue Volksfront die Mehrheit der Sitze im Präsidium der Versammlung. Mit dem Gewinn von 12 von 22 Sitzen im Präsidium zwingt die Neue Volksfront der Präsidentin Yaël Braun-Pivet, nach eigenen Worten, „eine Kohabitation“ auf. In der Tat ist es außergewöhnlich, dass ein Präsident die Minderheit im Präsidium hat. Der politische Coup soll gelungen sein, weil zahlreiche Abgeordnete der Präsidentenmehrheit aber auch der Fraktion Rassemblement National die Nachtsitzung vorzeitig verlassen hätten. RN hatte sich bewusst dazu entschieden, an der Abstimmung für die Sekretärsposten nicht teilzunehmen, nachdem man keine Vizepräsidentschaft und Quästur erhalten hatte.
Die Neue Volksfront sieht sich nun erneut legitimiert, das Amt des Premierministers für sich einzufordern. Die Niederlage des Kommunisten André Chassaigne bei der Wahl des Präsidenten der Nationalversammlung hatte diese Hoffnungen leicht gedämpft. Die starke Position im höchsten Exekutivorgan der Versammlung wird es dem linken Lager zudem ermöglichen, sich gegen die von Yaël Braun-Pivet vorgeschlagenen Sanktionen gegen Abgeordneten zu stellen. Das Präsidium ist befugt, Abgeordnete zu bestrafen, wie es beispielsweise gegen die Abgeordneten Sébastien Delogu (LFI), der im Plenarsaal eine Palästina-Flagge schwenkte, in der letzten Legislaturperiode erfolgte. Außerdem verfügt das Präsidium über eine bedeutende Regelungsbefugnis, die die interne Geschäftsordnung sowie die Arbeitsweise der Verwaltung umfasst. Es ist auch das Präsidium, das über die ordnungsgemäße finanzielle Zulässigkeit von Gesetzesvorschlägen urteilt. Schließlich ist das Präsidium der Versammlung befugt, die parlamentarische Immunität eines Abgeordneten nach Rücksprache mit der Justiz aufzuheben.
Ausblick
Die Konstituierung der Nationalversammlung hat einige Überraschungen hervorgebracht und insbesondere RN sieht sich als großer Verlierer. Die Präsidentenmehrheit befürchtet nun „chaotische Zustände“ in der Nationalversammlung, denn sicherlich werden sich die Enttäuschten nicht zurückhalten und ihrem Unmut Luft machen, denn ihrer Meinung nach spiegelt die Postenvergabe in der Nationalversammlung nicht die Ergebnisse des zweiten Wahlgangs zur Nationalversammlung korrekt wider. Frankreich wird noch turbulente Wochen erleben. Staatspräsident Emmanuel Macron forderte am 22. Juli einen „politischen Waffenstillstand“ während der Olympischen Spiele. Es ist davon auszugehen, dass er vor dem Ende der Olympischen Spiele keine neue Regierung ernennen wird. Derweil scheint das linke Wahlbündnis Neue Volksfront zerstrittener denn je. Die von Sozialisten, Kommunisten und Grünen vorgeschlagene Kandidatin für den Premierministerposten, Laurence Tubiana, kündigte am 22. Juli an, dass sie nicht mehr für den Posten zur Verfügung steht. Tubiana war Botschafterin für die Verhandlungen der Pariser Klimakonferenz von 2015. Seit 2017 leitet sie die Europäische Klimastiftung. In den Jahren 2019 und 2020 war sie Ko-Vorsitzende des Bürgerkonvents für das Klima, eine von Premierminister a.D. Edouard Philippe einberufene Versammlung, die 150 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bürger zusammenbrachte. Tubiana erklärte ihren Rückzug mit der Kritik seitens der Linkspopulisten von La France insoumise.
Während das Präsidentenlager weiterhin auf eine Koalition mit dem bürgerlich-konservativen Lager hofft, haben sich die historischen Républicains (La Droite Républicaine) scheinbar darauf festgelegt, als konstruktive Opposition aufzutreten und im Rahmen bestimmter Gesetzesvorhaben mit Renaissance und Verbündeten kooperieren zu wollen. Wenige Tage vor der Eröffnung der Olympischen Spiele und der Paraolympics bleibt politisch also weiterhin alles offen.
Zusammensetzung des Präsidiums und Ausschussvorsitze
Präsidentin der Nationalversammung:
Yaël Pivet-Braun (Ensemble pour la République/Renaissance)
Stellvertretende Vorsitzende
Clémence Guetté (La France insoumise)
Nadège Abomangoli (La France insoumise)
Xavier Breton (Droite républicaine)
Moutchou (Horizons)
Roland Lescure (Ensemble pour la République/Renaissance)
Annie Genevard (Droite républicaine)
Quästoren
Brigitte Klinkert (Ensemble pour la République/Renaissance)
Christine Pirès-Beaune (Socialistes et apparentés)
Michèle Tabarot (Droite républicaine)
Sekretäre
Gabriel Amard (La France insoumise)
Farida Amrani (La France insoumise)
Iñaki Echaniz (Socialistes et apparentés)
Sophie Pantel (Socialistes et apparentés)
Stéphane Peu (Parti communiste/GDR)
Mereana Reid Arbelot (Polynesische Partei Tavini huiraatira GDR)
Stéphane Peytavie (Ecologistes)
Sabrina Sebaihi (Ecologistes)
Eva Sas (Ecologistes)
Lise Magnier (Horizons)
Laurent Panifous (LIOT)
Christophe Naegelen (LIOT)
Das Präsidentenlager hat sechs der acht ständigen Ausschussvorsitze in der Nationalversammlung erhalten.[1]
Finanzausschuss: Eric Coquerel (La France insoumise).
Rechtsausschuss: Florent Boudié (Ensemble pour la République/Renaissance) ;
Auswärtige Angelegenheiten: Jean-Noël Barrot (Les Démocrates).
Soziale Angelegenheiten: Paul Christophe (Horizon und Unabhängige).
Wirtschaftliche Angelegenheiten: Antoine Armand (Ensemble pour la République/Renaissance).
Nachhaltige Entwicklung: Sandrine Le Feur (Ensemble pour la République/ Renaissance).
Verteidigung: Jean-Michel Jacques (Ensemble pour la République/Renaissance)
Kulturelle Angelegenheiten: Fatiha Keloua Hachi (Socialistes)
[1] Der Vorsitz des Europaausschusses wird am 25. Juli gewählt.