Von der Teilung bis BIMSTEC
Mit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft zeichnete sich eine Teilung entlang religiöser Grenzen ab, die ab August 1947 zu einem Bürgerkrieg führte. Obwohl diese Jahre selten als Bürgerkrieg bezeichnet werden, kam es zu mehr als einer Million Toten. „Zwischen 1947 und 1950 wanderten nach Schätzungen mehr als 10 Millionen Menschen über die neuen Grenzen – ein weltweit nie da gewesener Bevölkerungsaustausch.“[i]. Diese Zeit wirkt noch heute nach und hat in Familien im heutigen Indien, Pakistan und Bangladesch Traumata hinterlassen. Die Spannungen hielten entlang ungeklärter Grenzverläufe an und es kam 1965 zum Zweiten Kaschmirkrieg. 1971 folgte ein weiterer Krieg, dessen Folge die Gründung von Bangladesch bzw. die Teilung in das heutige Pakistans und Bangladesch, damals Ostpakistan, war.
Erst 35 Jahre nach dem Ende der Kolonialherrschaft kam es zu der Gründung von SAARC (South Asian Association for Regional Cooperation). Bangladesch, Bhutan, Nepal, die Malediven, Sri Lanka und Pakistan hatten zwischenzeitlich große Ziele für SAARC gesteckt. Ein gemeinsamer Markt und eine Währungsunion standen auf der Agenda, doch gab es seit 1985 gerade einmal 18 SAARC Summits, von denen die Hälfte während der ersten sechs Jahre stattfand. Seit 2014 ist SAARC de facto irrelevant, da Indien nach einem Terrorangriff in Kaschmir 2016 den für dieses Jahr in Pakistan geplanten Gipfel boykottierte und seitdem kein Treffen mehr stattfand. Erwähnenswerte Versuche einer Wiederbelebung blieben bisher aus. Allerdings wurde stattdessen ein größeres Augenmerk auf die 1997 gegründete BIMSTEC (Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation) gelegt. Der primäre Unterschied ist hier die Inklusion Thailands und der Ausschluss Pakistans, wodurch der indisch-pakistanische Dauerkonflikt die Organisation nicht lähmen kann.
Nach 27 Jahren gelangt es im Jahr 2024 schließlich eine BIMSTEC-Charta zu verabschieden, die abstrakte Zukunftsziele festlegt, aber nicht konkret wird. „Among the key facets of the charter is that it highlights the long-term vision“[ii]. Letztlich handelt es sich um eine Geschäftsordnung der Organisation, die darüber hinaus bspw. festhält, dass die Mitglieder gemeinsam Frieden und Stabilität in der Region sichern möchten[iii]. Dies ist ein erreichbares Ziel, da es unter den Mitgliedern keine schwelenden Konflikte gibt. Die wirtschaftliche und politische Relevanz der BIMSTEC ist überschaubar[iv]. Die Region sucht noch immer nach einer politisch-wirtschaftlichen Plattfom, die in der Lage ist eine Relevanz zu entfalten[v].
Die politische Fragmentierung Südasiens ist aus zwei Gründen erstaunlich. Erstens: Der geografische Raum ist durch den Hindukusch und den Himalaya relativ abgegrenzt. Im indischen Ozean liegen die Malediven und Sri Lanka nah am indischen Festland und beide Staaten sind weit entfernt von jeder anderen Küste. Es wäre anzunehmen, dass die Interdependenzen innerhalb dieses Raumes schon durch die Geografie intensiv sind. Zweitens: Die Regionen in Südasien waren in der Vergangenheit vielfach in Staaten zusammengefasst. Pakistan und Bangladesch waren bis 1971 ein Staat. Britisch-Indien umfasste Indien, Pakistan, Bangladesch, Myanmar und Bhutan. Das Mogul-Reich um 1700 reichte von Afghanistan bis Bangladesch. Noch heute gibt es ethnische, religiöse und sprachliche Gruppen, die beidseitig von Staatsgrenzen zu finden sind. Dies lässt sich anhand der Tamilen im Süden Indiens und im Norden Sri Lankas, im Punjab beidseitig der pakistanischen-indischen Grenze oder zwischen Nagaland und Myanmar veranschaulichen.
Indikatoren der Fragmentierung
Südasien ist nicht nur politisch fragmentiert, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine kaum vernetzte Region. Die fünf größten Handelspartner Indiens sind China (118 Mrd. USD), die USA (118 Mrd. USD), die VAE (84 Mrd. USD), Russland (65 Mrd. USD) und Saudi-Arabien (43 Mrd. USD)[vi]. Die indischen Exporte gehen primär in die USA (18%), in die VAE (7%) und nach China (5%). Dies kann von Jahr zu Jahr schwanken, doch sind die USA und die VAE in der Regel unter den drei wichtigsten Exportmärkten[vii]. Indiens Nachbarländer sind für den Export weniger relevant. Bangladesch ist mit rund 2,5% noch vor Nepal mit rund 1,5%, während bspw. schon Pakistan oder Sri Lanka mit weniger als einem Prozent keine Rolle spielen[viii][ix][x]. Mit Blick auf die Importe gibt es noch etwas stärkere Schwankungen, doch sind unter den Top 3 in der Regel China, die USA, die VAE oder Russland. Etwa ein Drittel der Importe nach Indien verteilen sich auf China, die USA und die VAE[xi]. Der indische Außenhandel ist in der Region kein Sonderphänomen. Obwohl Bangladesch fast von Indien umschlossen wird und sonst nur an Myanmar grenzt, rangiert der große Nachbar nur auf Platz 4 der wichtigsten Handelspartner und ist dabei das einzige relevante Land in Südasien[xii]. Im Fall von Pakistan sind die Außenhandelsbeziehungen ähnlich strukturiert: Wichtigste Exportmärkte sind die USA, China, UK, Deutschland, die Niederlande, die VAE und Spanien, die zusammen deutlich mehr als die Hälfte der pakistanischen Exporte aufnehmen. Bei den Importen machen allein China und die VAE fast 40% aus. Es folgen Indonesien, die USA, Saudi-Arabien, Katar und Kuwait.
Wie wenig die Region vernetzt ist, kann man auch an einem anderen Indikator veranschaulichen. Im Jahr 2023 machten indische Touristen lediglich 20 Prozent der Gäste auf Sri Lanka aus, was etwa Dreihunderttausend Personen entspricht. Auf den Malediven machten rund Zweihunderttausend Inder Urlaub, was in etwa der Anzahl an russischen Touristen entspricht. Chinesische Gäste nehmen zu, doch lagen noch um Zwanzigtausend Personen hinter den indischen Touristen[xiii][xiv]. Im drei bis vier Flugstunden entfernten Thailand machten im Jahr 2023 rund 1,5 Millionen Inder Urlaub, also fast dreimal so viele indische Touristen wie auf Sri Lanka und den Malediven zusammen[xv][xvi]. Da es sich in erster Linie um Strandurlaub handelt, wäre das ungefähr so, als wenn mehr Deutsche in Armenien Skiurlaub machen würden als in der Schweiz und Österreich zusammen.
Andere Migrationsbewegungen zeichnen ein ähnliches Bild. Indien ist für seine kleineren Nachbarländer nicht das bevorzugte Ziel von Arbeitsmigration. Auch für Studenten aus Indiens Nachbarländern verliert das Land stetig an Attraktivität. So studieren in China etwa dreimal so viele Bangladescher wie in Indien.[xvii]. In der Region bietet nur die Maldiven „Visa-on-arrival“ an und lediglich Nepal, Bhutan und Indien haben Abkommen zur freien Einreise[xviii].
Die Modi-Administration hat mit der „Act East Policy“ und der „Neighbourhood First Policy“ einen Schwerpunkt in der direkten Nachbarschaft legen wollen.[xix]. Die Reisen des Premierministers zeichnen jedoch ein anderes Bild. PM Modi war bisher so häufig in Bangladesch, den Malediven, Myanmar oder Afghanistan wie in Kasachstan, Kirgisistan, der Schweiz und Katar. Bhutan und Sri Lanka besuchte er so häufig wie Usbekistan und Südafrika. Zudem war der Premierminister häufiger in Deutschland als in Nepal. Modi war ganze acht Mal in den USA und jeweils sieben Mal in Japan, Frankreich und den VAE[xx]. Die Reisetätigkeit des Premierministers lässt sich klar interpretieren. Die USA, Japan, Frankreich und Deutschland sind politisch und wirtschaftlich die relevanten Partner, während Russland und die VAE für Indiens Energieversorgung entscheidend sind. Reisen in die direkte Nachbarschaft sind aus indischer Perspektive eher herausfordernd. In Bangladesch ist im August 2024 die Regierungschefin aus dem Land geflohen. Myanmar wird seit dem Putsch im Jahr 2021 vom Militär regiert. Sri Lanka hat sich von der Wirtschafts- und Staatkrise 2022 nicht erholt. Afghanistan wird wieder von den Taliban regiert. Die Malediven haben eine pro-chinesische Regierung. Nepal steht ebenfalls bis zu einem gewissen Maß unter dem Einfluss Chinas. Wahrscheinlich reiste Modi deshalb bereits dreimal in das kleine Königreich Bhutan, wo die politischen Verhältnisse stabil sind.
Militärisch ist die Region ebenso weit davon entfernt gemeinsame Strukturen zu etablieren. Das liegt einerseits an dem indisch-pakistanischen Konflikt und andererseits an China. China führt de facto immer wieder kleine Annexionen in Bhutan durch, die für Bhutan natürlich eine große Tragweite haben. Indien konnte seiner Rolle als vermeintliche Schutzmacht nicht gerecht werden. Kleinere Staaten der Region, wie Nepal, Sri Lanka und die Malediven sehen, dass Indien keine militärische Dominanz in Südasien hat und Auseinandersetzungen mit China zu vermeiden sucht. Neben der finanziellen Anreize ist dies ein Grund für den Anstieg an Belt-and-Road-Projekten im Indischen Ozean. Im Falle von Bangladesch wird sich zeigen, wie sich die Beziehungen zu Indien aus sicherheitspolitischer Perspektive ausgestalten. Dass Indien Sheikh Hasina, der ehemaligen Premierministerin von Bangladesch, Zuflucht gewährt hat, hat die Glaubwürdigkeit der Inder gestärkt. Umgekehrt mag es eine Hypothek für die Beziehungen zu der neuen Regierung sein. Zudem ist bisher nicht klar, wie sehr islamistische Kräfte in der neuen Führung in Bangladesch involviert sein werden.
Für Indien ist die QUAD (mit USA, Japan, Australien) die sicherheitspolitisch wichtigste Plattform. Für Pakistan steht das Verhältnis zu China im Fokus. Bangladesch, Nepal, Sri Lanka und die Malediven haben ein Eigeninteresse an einem guten Verhältnis zu Beijing. Eine wie auch immer ausgestaltete militärische Allianz, die sich tendenziell gegen ein Land außerhalb Südasiens - sei es China oder die USA - richtet, ist daher unrealistisch. Nicht einmal ein Sicherheitsbündnis, dass auf interne Stabilität ausgerichtet ist, kann in Südasien etabliert werden. Dazu müsste der Konflikt zwischen Indien und Pakistan befriedet werden und die kleineren Nachbarländer Indiens müssten auf Belt-and-Road-Investitionen verzichten – beides ist nicht absehbar.
Südasien scheint ein behelfsmäßiger Begriff zu sein. Rund ein Viertel der Einwohner dieser Region sind keine Inderinnen und Inder, weshalb man die Region nicht auf Indien reduzieren sollte, doch tatsächlich ist der Terminus Südasien für nicht viel mehr nutzbar. Wirtschaftlich, militärisch und politisch existiert kein Südasien.
[i] Mann, M. (2014, April 7). The Partition of British India in 1947. bpb.de. https://www.bpb.de/themen/asien/indien/44402/die-teilung-britisch-indiens-1947/
[ii] Padmanabhan, K. (2024, May 22). BIMSTEC’s 27-year evolution: Charter comes into force after Nepal’s ratification. The Print. https://theprint.in/world/bimstecs-27-year-evolution-charter-comes-into-force-after-nepals-ratification/2096490/
[iii] BIMSTEC. (n.d.). BIMSTEC CHARTER. https://www.mea.gov.in/Portal/LegalTreatiesDoc/022M3847.pdf
[iv] Hussain, N. (2018, November 2). Can BIMSTEC finally become relevant? The Diplomat. https://thediplomat.com/2018/11/can-bimstec-finally-become-relevant/
[v] Bhattacharjee, J. (2023). SAARC vs BIMSTEC: The search for the ideal platform for regional cooperation. Observer Research Foundation. https://www.orfonline.org/research/saarc-vs-bimstec-the-search-for-the-ideal-platform-for-regional-cooperation
[vi] Online, E. (2024, May 12). China overtakes US to become India’s top trading partner in FY24. The Economic Times. https://economictimes.indiatimes.com/news/economy/foreign-trade/china-overtakes-us-to-become-indias-top-trading-partner-in-fy-2023-24/articleshow/110049223.cms
[vii] Statista. (2024, September 5). Share of Indian exports FY 2023, by leading destination country. https://www.statista.com/statistics/650654/export-share-by-destination-country-india/
[viii] Unknown. (n.d.). Number of tourist arrivals - 2023. https://www.sltda.gov.lk/storage/common_media/Number%20of%20Tourist%20Arrivals%20Jan%20-%20Dec%202023.pdf
[ix] Ani. (2024, May 20). Country depends on tourism; 60 pc people come from India: Sri Lankan MP V Radhakrishnan. The Economic Times. https://economictimes.indiatimes.com/nri/latest-updates/country-depends-on-tourism-60-pc-people-come-from-india-sri-lankan-mp-v-radhakrishnan/articleshow/110263133.cms?from=mdr
[x] Kaul, R. (2024, February 21). Sri Lanka eyes record international tourist arrivals from India in 2024 | TTG Asia. https://www.ttgasia.com/2024/02/21/sri-lanka-eyes-record-international-tourist-arrivals-from-india-in-2024/
[xi] Statista. (2024b, September 5). Share of Indian imports FY 2023, by leading country. https://www.statista.com/statistics/650670/import-share-by-source-country-india/
[xii] Länderinformationen: Bangladesch. (n.d.). https://international.bihk.de/laenderinformationen/laenderauswahl/land/BGD/uebersicht.html
[xiii] Zandt, F. (2024, January 10). The most important markets for the Maldives tourism industry. Statista Daily Data. https://www.statista.com/chart/31536/countries-with-the-most-tourists-traveling-to-the-maldives/
[xiv] Business Today Desk. (2024, March 14). Maldives feel the pinch as Indian tourists shun island country in 2024: Report. Business Today. https://www.businesstoday.in/latest/world/story/maldives-feel-the-pinch-as-indian-tourists-shun-island-country-in-2024-report-421534-2024-03-14
[xv] Ani. (2023, March 6). Thailand targets 2 million Indian tourists in 2023, same as before Covid. The Times of India. https://timesofindia.indiatimes.com/world/rest-of-world/thailand-targets-2-million-indian-tourists-in-2023-same-as-before-covid/articleshow/98438929.cms
[xvi] Chuenniran, A. (2023, December 15). Indian arrivals increase to 1.5m this year due to visa-free policy. https://www.bangkokpost.com. https://www.bangkokpost.com/thailand/general/2706236/indian-arrivals-increase-to-1-5m-this-year-due-to-visa-free-policy
[xvii] Jacob, H. (2024, July 22). The End of South Asia. Foreign Affairs. https://www.foreignaffairs.com/south-asia/end-south-asia
[xviii] Jacob, H. (2024, July 22). The End of South Asia. Foreign Affairs. https://www.foreignaffairs.com/south-asia/end-south-asia
[xix] Government of India. (n.d.). Neighbourhood first policy. https://fsi.mea.gov.in/Images/CPV/LS97_00.pdf
[xx] Wikipedia contributors. (2024, October 25). List of international prime ministerial trips made by Narendra Modi. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_international_prime_ministerial_trips_made_by_Narendra_Modi
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