Comptes-rendus d'événement
Die revolutionären Vorgänge in der arabischen Welt dürften
nicht überstürzt bewertet
werden. Für eine umfassende Einschätzung sei es noch zu früh. Betrachte man historische revolutionäre Umbrüche in der Menschheitsgeschichte, zeigten sich Zeitspannen von mehreren Jahrzehnten, bis sich neue Ordnungen herausgebildet hatten. Ganz sicher könne aber schon heute gesagt werden – so der langjährige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Ruprecht Polenz - , dass der arabische Frühling den Beginn eines historischen Umbruchs darstelle.
Polenz eröffnete mit einer ersten These, nach der die
Transformationsaufgaben der arabischen Gesellschaften noch größer
seien als die Herausforderungen 1989 der mittel- und osteuropäischen Länder und des östlichen Teils Deutschlands.
Die
Konfliktlagen
seien außerordentlich vielschichtig und komplex.
Problematisch sei etwa, dass die betroffenen Menschen nach Kolonialzeit und Jahrzehnten autoritärer diktatorischer Herrschaft erst jetzt erstmals die Hoffnung bekämen, an den Strukturen ihrer Länder selbst mitarbeiten zu können.
Weitere Defizite seien unterschiedlichste Bildungsniveaus, ein weit verbreitetes Analphabetentum in manchen Ländern, eine schwache z.T. am Boden liegende Wirtschaft, eine geringe Bedeutung von Wissenschaft und Universitäten, ein weitgehender Ausschluss etwa der Hälfte der Bevölkerung – der Frauen - von den gesellschaftlichen Prozessen, ein sehr hohes Bevölkerungswachstum.
Europa habe viel weniger Einflussmöglichkeiten, die Prozesse zu begleiten. Anders als in Mittel und Osteuropa, wo es ein gemeinsames Ziel der EU-Mitgliedschaft gegeben habe, sei hier keine gemeinsame verbindende Wegrichtung vorhanden. Auch seien die Europäer nicht die einzigen Akteure, die sich um die Region kümmerten.
Erschwerend komme außerdem hinzu, dass die Nachbarschaften aufgrund rivalisierender Regionalmächte konfliktbeladen seien.
Innerreligiöse Konflikte etwa zwischen Schiiten und Sunniten spielten eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Es fehle eine überwölbende Sicherheitsarchitektur, etwa im Sinne einer europäischen Sicherheitspolitik, die auf ein gemeinsames Sicherheitsstreben setze, nicht aber auf eine Sicherheit voreinander. Konkurrierende Großmachtinteressen der USA, Russland und China erschwerten die Situation zusätzlich.
Die Region habe zudem eine Weltbedeutung, u. a. auch weil sich ca. 60% der Öl- und Gasvorräte dort befänden.
Ingesamt fehle es an einem Klima der Freiheit als Grundvoraussetzung für wirkliche dauerhafte Veränderungen.
Problematisch sei zudem, dass eine vergleichsweise geringe Identifikation mit dem gemeinsamen Staat vorhanden sei. Die Menschen identifizierten sich primär mit dem, was man als menschliche Schicksalsgemeinschaft bezeichne, z. B. mit der ethnische Gruppe oder mit verwandtschaftlichen Beziehungen oder mit politischen Ideologien (z. B. den verschiedenen Islamismen) oder mit der Konfessionszugehörigkeit. Letztere habe hier generell eine größere politische Bedeutung habe als bei uns. Die Schicksalsgemeinschaften haben eine starke Bindewirkung, seien grenzüberschreitend und mit starken Wir-Gruppen verbunden. Ihre Identitätsbildung beruhe weniger auf einem Akt des freien Willens, sondern vielmehr auf Abwehr und Distanzierung von anderen, was sie eher konfrontativ mache. Diese Gemeinschaften seien vor allem auch deswegen ausgesprochen relevant, weil die Staaten vergleichsweise unterentwickelt seien. Das krasseste Beispiel sei das Libyen Gaddafi’s gewesen, wo es kaum staatliche Institutionen gegeben habe. Damals wie heute fehlten Institutionen und formale Strukturen, die die Menschen unabhängig von Herkunft und Religion als gleichberechtigte Staatsbürger behandelten. Es fehle eine Einbindung der Menschen in ein verlässliches Gefüge von Regeln und Institutionen, stattdessen agierten geschlossene Netzwerke für die Mitglieder der jeweiligen Wir-Gruppen.
Wenn diese Gruppen die Macht bekämen, betrachteten sie den Staat als ihre Beute, nicht aber als ein Korrektiv für die innerstaatliche Konkurrenz. Unter dem Motto ‚the winner takes it all’ sei eine Kompromissfähigkeit nicht vorgesehen.
Weit verbreitet sei die Stimmungslage: „Wenn meine Wir-Gruppe an die Macht kommt, wird für uns alles besser.“
Polenz erwartete, dass die Länder in ihren Entwicklungen einen sehr unterschiedlichen Verlauf nehmen. Man werde einen langen Atem brauchen, um diese Entwicklung begleiten zu können.
Welche
Interessenlange haben Deutschland und Europa
in Bezug auf die Region? Polenz formulierte 5 besonders relevante Interessen, im folgenden nebeneinander gestellt:
- Es bestehe ein Interesse an einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
- Der Migrationsdruck aus Afrika dürfe nicht ungefiltert die Grenzen überschreiten.
- Der internationale Terrorismus müsse gemeinsam angegangen und bekämpft werden.
- Die Sicherheit Israels als Staat in sichereren Grenzen, der in Frieden mit seinen Nachbarn leben können soll, sei ein strategisches Ziel.
- Unverzichtbar sei eine Stabilität durch Modernisierung, d. h. Entwicklung hin zu mehr Rechtstaatlichkeit, Partizipation, Demokratie.
Bei dieser Interessenlage könne nachvollzogen werden, warum man mit den autoritären Regierungen einigermaßen gut zusammen arbeiten konnte: Vier der genannten Interessen seien erfüllt worden. Rückblickend sei es ein Fehler gewesen, dass dem Ziel der Modernisierung kaum oder zu wenig Beachtung geschenkt wurde.
Wichtig sei es, den Blick durch
Vorurteile
nicht zu verstellen. Vor allem drei typische ‚Brillen’ führten zu einer Verkennung der Situation.
Eine erste Brille nannte Polenz die
Mubarak-Assad-Brille
. Die Träger dieser Brille meinten, dass diese Staaten nur autoritär diktatorisch regiert werden könnten, ansonsten würde ein islamistisches Chaos herrschen. Dieser Einschätzung müsse widersprochen werden. Vielmehr sei es so, dass je länger die Staaten autoritär regiert werden, sie danach mit hoher Wahrscheinlichkeit erst einmal islamistisch geführt würden, . . . etwa weil in der Diktatur ein wesentlicher Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung nicht öffentlich geführt werden konnte und stattdessen in die Moscheen verlagert wurde. Außerdem hätten sich die autoritären Regime nur wenig um bestimmte gesellschaftliche Aufgaben (Bildung, Schulen, Gesundheit) gekümmert, die für die religiösen Bewegungen selbstverständlich seien.
Die 2. Brille sei die
Kelek-Sarrazin-Brille
. Sie beinhalte die Auffassung, dass Muslime nicht demokratiefähig seien. Dies könne empirisch schnell widerlegt werden, etwa von Staaten mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung, die wesentlich demokratischer seien als Staaten, die wir schon fast als demokratisch akzeptierten – so etwa die Türkei im Gegensatz zu Russland. Bei dieser 'Brille' handelte es sich um eine rassistische Haltung.
Die 3. Brille, die
Huntington-Brille, unterstelle einen vorprogrammierten unausweichlichen Zusammenstoß zwischen der islamischen und säkularen / westlichen Welt.
Wie stellt sich die gegenwärtige Situation in
Ägypten
dar?
Der Wahlsieg der islamistischen Parteien sei nicht überraschend gewesen. Die Moslembrüder hatten schon vor ihrer Machtergreifung ein weit verzweigtes System im Untergrund aufgebaut und waren überall präsent. Auch galten sie als glaubwürdig, da sie unter Mubarak gelitten hatten. Die Salafisten haben sehr viel Unterstützung aus der Golf-Region erhalten. Eine säkulare Opposition habe sich nicht so schnell herausbilden können.
Letztlich müsse konstatiert werden, dass das Militär die Macht nie aus der Hand gegeben, stattdessen die gesellschaftlichen Prozesse mehr oder weniger gesteuert habe.
Nach den 1. Wahlen haben die islamistischen Parteien zwar eine 2/3-Mehrheit gehabt, dennoch haben sie politisch komplett versagt. Die Erwartungen der Menschen – Arbeit, Jobs, Bildung etc. – seien nicht erfüllt worden.
Bedauerlich sei, dass Mursi vom Militär abgesetzt wurde. Sehr viel besser wäre es gewesen, wenn man auf eine Chance zur Abwahl gewartet hätte. Schon einige Monate später hätte sich diese geboten. Nun hätten solche Islamisten Oberwasser bekommen, die die Botschaft verbreiten, dass es mit den Wahlen und Parlamenten ja doch keinen Zweck habe und dass im Grunde genommen nur Gewalt helfe. Wenn die Moslembrüder weiterhin verboten blieben, müsse eine weitere Radikalisierung befürchtet werden.
Und was wird aus
Syrien.
Auf die zunächst friedlichen Demonstrationen habe das Regime überaus gewaltsam reagiert, z. B. habe man mit Scharfschützen gezielt Demonstranten ermorden lassen. Die Lage sei schließlich komplett zu einem Bürgerkrieg mit unterschiedlichsten Gruppen eskaliert, von außen seien Al-Kaida-Gruppierungen ins Land gekommen, mittlerweile wisse man gar nicht mehr, wer wo steht. Die Primärgewalt gehe nach wie vor von Assad aus. Das Resultat sei verheerend und übersteige unsere Vorstellungskraft. Mehr als 120 000 Tote, viele 100.000’e Verwundete, die in den Krankenhäusern längst nicht mehr behandelt werden können, mehr als 2 mio. Flüchtlinge. Das relativ kleine Nachbarland Libanon z. B. habe ca. 700.000 Flüchtlinge aufgenommen. Übertrage man die Größenverhältnisse des Libanons auf Deutschland wäre es so, als hätte Deutschland 20 mio. Flüchtlinge aufgenommen.
Deutschland helfe Z. B. bei dem Aufbau der Flüchtlingslager in den Nachbarländern. Allerdings seien die Aufnahmegrenzen längst erreicht. Polenz hielt es für erforderlich, dass Deutschland weitere syrische Flüchtlinge aufnimmt. Auch die Neuen Bundesländer mit einem vergleichsweise geringen Ausländeranteil sollten sich hier engagieren.
Die Focussierung in den letzten Wochen auf den Einsatz von Chemiewaffen sei genau richtig gewesen. Die weltweite Ächtung von Chemiewaffen dürfe nicht aufgeweicht werden. Alles warte nun auf die nächste Konferenz in Genf in der Hoffnung, dort alle Konfliktparteien an einen Tisch zu bekommen, um den Bürgerkrieg in einen Waffenstillstand zu überführen.
Wenn es gelänge, den Bürgerkrieg in Syrien ähnlich zu beenden wie den im Libanon, wenn man zu einer ‚Libanisierungslösung’ käme, wäre es das beste, was man erreichen könne.
Auch
Israel und Palästina
wurde thematisiert. Polenz rief zunächst die europäische Interessenlage in Erinnerung. Man verfolge eine 2-Staaten-Lösung, im wesentlichen in den Grenzen von 1967, Jerusalem solle als ungeteilte Stadt beiden als Hauptstadt dienen, nicht alle Flüchtlinge seit 1948 würden zurückkehren können, Israel müsse aber das moralische Recht auf Rückkehr anerkennen, bezogen auf die Siedlungen müsse es einen Landaustausch geben. Jedoch: Zum Happy End fehle der Film. Das zentrale Problem bei den Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern sei, das die Palästinenser von Israel alles bekommen können (insb. ihren eigenen Staat), Israel aber von den Palästinensern nicht alles erhalten könne, (z. B. Sicherheit mit den Nachbarländern, dauerhaften Frieden). Diese Asymmetrie in den Verhandlungen sei problematisch und erfordere neue Verhandlungsformate z. B. i. S. einer 2-Plus-Verhandlung, zum einen unter Beteilung der arabischen Nachbarländer, zum anderen mit denjenigen Ländern, die die wirtschaftlichen Mittel zur Verfügung stellten und Sicherheitsgarantieren übernähmen. Solange man nicht zu neuen Verhandlungsformaten komme, werde man das Ziel nicht erreichen.
Schließlich ging es um den
Iran
. Hier seien 4 Themen besorgniserregend: der innerstaatliche Umgang mit den Menschenrechten, die Haltung zum Terrorismus (Unterstützung der Hamas und Hisbollah), die Stellung gegenüber Israel, das Nuklearprogramm mit dem Ziel Nuklearwaffen zu besitzen. Der neue Präsident Rohani sei nicht nur ein Geistlicher, sonder auch ein handfester Politiker. Die Europäer seien daran interessiert, dass das Nuklearprogramm dauerhaft friedlich bleibt. Polenz erwartete nicht, dass die Iraner auf eine Urananreicherung verzichten. Eher seien sie bereit zu mehr Transparenz und zur Unterzeichnung des Zusatzprotokolls, wodurch der Wiener Atomenergiebehörde unangemeldete Kontrollen im Land erlaubt würden. Überlagert werde der Konflikt durch ein schwieriges Spannungsverhältnis zu den USA. Der abgesetzte Schah sei der beste USA-Verbündete in der Region gewesen, die Geiselnahme von amerikanischen Diplomaten wirke immer noch nach.
Zu berücksichtigen sei auch, dass die Rolle des Iran in der Region wichtig sei, er habe großen Einfluss im Irak (schiitische Bevölkerungsmehrheit), auch in Afghanistan, auch habe er als Verbündeter von Assad einen großen Einfluss in Syrien.
Polenz widmete sich abschließend dem großen
gesamten Bild
. Wir seien vielleicht Zeitzeugen einer Entwicklung, bei der die nach dem 1. Weltkrieg etablierte Ordnung zerfalle. Ím Irak habe sich der Norden schon weitgehend verselbständigt, in Libyen sei ein Auseinanderdriften zu beobachten etc. Wenn neue Länder auf Grundlage von ethnischen Mehrheiten entstünden, werde es neue Minderheiten geben. Der Prozess der Zellteilung könne bis Ultimo fortgesetzt werden. Die derzeitigen Grenzen seien besser, als wenn man sie gewaltsam in Frage stelle. Die ethnischen Gruppierungen seien keine Grundlage für eine neue Staatenbildung. Wir müssten alles versuchen, den Staatszerfall zu verhindern.
Die
Türkei
sei als Natomitglied, als Mitglied im Europarat etc. Teil des Westens. Sie sei vergleichsweise ein Hort der Stabilität, fungiere für viele arabische Länder als Modell. Deswegen bestehe ein Interesse, die Türkei auf ihrem Europa zugewandten Kurs zu stärken und zu halten.
Welche
Instrumente stehen der EU
zur Verfügung?
Diese seien relativ schwach ausgeprägt, destruktives Verhalten zu sanktionieren. Sie seien relativ gut darin, konstruktives Verhalten zu belohnen und Anreize zu setzen, z. B. mit einer umfassenden Zusammenarbeit bei Bildung und Wissenschaft, Stärkung der Zivilgesellschaft, Marktöffnung für heimische Produkte, Stärkung der gesellschaftlichen Partizipation von Frauen. Die EU dürfe die unter dem Motto, ‚Hauptsache Ruhe und Stabilität und autoritäre Strukturen interessieren nicht’ begangenen alten Fehler nicht wiederholen.
Ruprecht Polenz verstand es hervorragend, komplexe Zusammenhänge zu vermitteln, zum genauen Hinschauen herauszufordern, differenziert mit den Dingen umzugehen. Nicht zuletzt aufgrund seines umfangreichen Erfahrungsschatzes erlebten die Teilnehmer einen hoch spannenden und interessanten Themenabend.