Comptes-rendus d'événement
Eberhard Diepgen steht in einem einmaligen Verhältnis zur deutschen Wiedervereinigung: Vor und nach den Ereignissen von 1989 und 1990 war er lange Jahre regierender Bürgermeister von Berlin – doch just in den Jahren von Revolution und Einheit war er „nur“ Oppositionsführer im westberliner Abgeordnetenhaus. Darauf wies Diepgen selbstironisch hin, als er in Greifswald zu 20 Jahren deutscher Einheit sprach: „Das ist mir damals nicht leicht gefallen.“ Im Rahmen der KAS-Veranstaltungsreihe „Weichenstellungen in die Zukunft“ ging es im Pommerschen Landesmuseum in Greifswald nicht nur um Vergangenes, sondern auch um die
Perspektive des weiteren Zusammenwachsens von Ost und West.
Zeitfenster zur Wiedervereinigung war nur kurz geöffnet
Zuvor schilderte Diepgen jedoch seine persönlichen Erlebnisse mit der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung. Das Zeitfenster für die deutsche Einheit sei sehr knapp gewesen und Helmut Kohl wie auch die DDR-Bevölkerung hätten „das einzig richtige getan, es sofort zu nutzen.“ Er verdeutlichte dies an einer persönlichen Begegnung mit Michail Gorbatschow, die 1990 hatte: „Gorbatschow war im Kreml ein isolierter Mann.“ Es sei klar gewesen, dass sich die politische Situation in Russland bald wieder ändern würde und das Fenster zur Einheit dann wahrscheinlich wieder geschlossen gewesen wäre.
Kritisch ging Diepgen mit der Klage über den „Anschluss der DDR an die BRD“ im Rahmen des Beitritts zum Grundgesetz um. Diese Darstellung sei „absoluter Unsinn“ und verkenne zudem, dass die DDR-Bürger sich mehrheitlich dieses Verfahren gewünscht hätten. Eine neue Verfassung für das vereinte Deutschland hätte dessen künftige Stabilität hingegen erheblich gefährdet, sagte Diepgen. Die erfolgreiche Zeit der letzten 20 Jahre beweise, dass das Grundgesetz nach wie vor hervorragend funktioniere.
Mehr Respekt vor der Lebensleistung Ostdeutscher
Mit Hinblick auf die weitere Zukunft des deutsch-deutschen Zusammenwachsens betonte Diepgen, das meiste habe sich in den letzten 20 Jahren zum Guten entwickelt. Das könne er sich besonders gut an der Stadt Greifswald verdeutlichen. Er habe sie bereits 1990 besucht und müsse feststellen: „Die Unterschiede in der Substanz der Stadt zwischen damals und heute sind gewaltig.“ Das bestätigte auch Dr. Reinhard Glöckner, der nach der Deutschen Einheit der erste Greifswalder Oberbürgermeister war. Er schilderte bildreich die erste Zeit im vereinigten Deutschland und stellte wie Diepgen fest, dass die geleistete Aufbauarbeit nicht unerheblich und größtenteils erfolgreich sei. Er unterstützte Diepgens Forderung, heute mehr Respekt vor der Lebensleistung der meisten Ostdeutschen zu zeigen.
Für das weitere Verwachsen der deutschen Trennungswunden empfahl Diepgen, mit einigen Fehlern im Zusammenleben zwischen Ost und West aufzuräumen. So sei es an der Zeit, die Löhne anzugleichen. Gleichzeitig müsse dem Westen vermittelt werden, warum es richtig sei, den Osten auch weiterhin zu fördern. Dabei gelte es, den im Westen weit verbreiteten Irrglauben, der Solidaritätszuschlag werde nur von Bürgern der alten Bundesländer gezahlt, zu bekämpfen. Wichtig sei aber auch, eine neue Erinnerungskultur aller Deutschen zu schaffen. Diepgen fragte: „Was verbinden wir mit dem 3. Oktober?“ Seine Antwort: Viel zu wenig. „Wir brauchen mehr Stolz und weniger Meckern und müssen das kollektive Gedächtnis an die freiheitliche Revolution stärken.“
In der anschließenden Diskussion brachte Prof. Roland Rosenstock neben persönlichen Erinnerungen an sein Studium in Greifswald zur Wendezeit einen Hinweis auf den unbedingten Vorrang von besserer Bildung vor allen anderen Vorhaben an – besonders auch im Hinblick auf demografische Probleme Ostdeutschlands. Hinsichtlich der in den vergangenen 20 Jahren bewältigten Probleme in den neuen Bundesländern konstatierte er wie zuvor auch schon Diepgen: „Der Osten hat vieles von dem schon hinter sich, was dem Westen noch bevorsteht.“
Gabriel Kords