Comptes-rendus d'événement
„Nur wer in der Erinnerung an Krieg und Holocaust, an Flucht und Vertreibung die Gegenwart nicht vergisst, ist zu einer wahren Umkehr und Neuorientierung befähigt.“
Michael Braun in der Politischen Meinung)
Ich einer gemeinsamen Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung mit der Katholischen Akademie las Anne Dorn in Freiburg aus ihrem Roman: "Siehdichum"
»Siehdichum« ist ein Roman über die späte Suche einer Frau nach ihrem in den letzten Kriegsjahren verschollenen 16-Jährigen Bruder.
Martha Lenders, die Protagonistin des Romans, sieht sich noch einmal um. Sie wagt noch einmal den Blick zurück in die Vergangenheit, den Blick vom Westen in den Osten, sie wagt einen Neuanfang.
Getrieben von den Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit in der alten Heimat und von den Erschütterungen im eigenen Leben macht sie sich noch einmal auf den Weg nach Polen. Sie setzt sich über den Rat ihrer Kinder und Enkel hinweg, folgt ihrem Instinkt und ihrer Neugier auf das Leben und begibt sich – ohne ein Wort Polnisch zu sprechen – noch einmal auf die Suche.Im Gepäck hat sie Briefe und Dokumente aus den Archiven, vor allem aber die Stimme des Bruders neben sich: Echos der Vergangenheit. Sie macht sich auf die Suche nach dem Dorf „Siehdichum“ in den Weiten der polnischen Wälder, wo Johannes, ihr geliebter jüngerer Bruder, im Januar 1945 im Ansturm der sowjetischen Armee verschwunden ist. Im Dialog mit den Menschen, die sie begleiten und denen sie in Polen begegnet, muss sie sich nicht nur der eigenen Vergangenheit stellen, sondern sie muss sich auch mit schmerzhaften Fakten der deutsch-polnischen Geschichte auseinandersetzen.
Martha Lenders ist aber nicht nur auf der Suche nach ihrem Bruder, sondern auch auf der Suche nach sich selbst. Sie sucht auch einen Menschen, der ihr mit Achtung begegnet und mit dem sie jene „selbstverständliche Nähe“ verbindet, die sie zuletzt in der Kindheit mit ihrem verstorbenen Bruder verspürt hatte. In einem polnischen Geschichtsprofessor den sie in Warschau besucht, findet sie einen solchen Menschen.
Um Anne Dorns Buch zu verstehen, muss man auch ihre biografische Vorgeschichte kennen. Die Autorin wurde 1925 in Wachau bei Dresden geboren. Nach dem Besuch der Dorfschule und des Realgymnasiums machte sie eine Lehre bei einer Dresdener Tageszeitung. Im Abendunterricht studierte sie an der Kunstgewerbeakademie Dresden Schriftgrafik, Zeichnen und malerisches Darstellen. 1944 musste sie als Pflichtjahrmädchen nach Österreich. Nach Kriegsende kam sie – zunächst ohne zu wissen, ob ihre Eltern den Krieg überlebt hatten - zum geliebten Onkel nach Herford in Westfalen.
So beschreibt Anne Dorn selbst ihren weiteren Werdegang und ihre Wandlung von der leidenschaschaftlichen Leserin zur Autorin:
„Durch meinen ersten Mann, einen Bühnenbildner, war ich mit dem Theater in Berührung gekommen, hatte die Stücke der uns im Nationalsozialismus vorenthaltenen europäischen wie amerikanischen Autoren begierig aufgenommen und mich in der Kostümbildnerei eingearbeitet. Mein zweiter Mann, der Vater meiner vier Kinder, war ein Schauspieler. Ende der fünfziger Jahre lebte ich am unteren Niederrhein, hatte drei Töchter und einen Sohn. Zeit, zu lesen, fand ich bestenfalls nachts. Aus Trotz holte ich mir die dicksten Wälzer aus der Bibliothek: James Joyce, Ulysses; Robert Musil, Mann ohne Eigenschaften. Leider, trotz dieser Ausflüge in andere Welten, war mein Leben so kompliziert geworden, dass ich es mir auf weißen Zetteln schriftlich ordnen musste. Damit stand ich ad hoc auf der a n d e r e n Seite: Ich gehörte plötzlich zu denen, die ihre Wirklichkeit in eben das andere Leben umwandelten, das der L e s e r sucht und braucht.“ (Anne Dorn, Selbstauskunft)
1969, nach der Trennung von ihrem zweiten Mann, dem Vater ihrer vier Kinder, zog sie mit ihren Kindern, die sie nun alleine durchbringen musste, als freie Schriftstellerin nach Köln, wo sie heute noch lebt.
Vor diesem Hintergrund wird klar, warum Anne Dorn, ihre literarischen Ambitionen trotz prominenter Ermunterungen durch Heinrich Böll und andere lange zurückstellen musste.
Erst nach dem Fall der Mauer waren ihre Themen gefragt, Anfang der Neunzigerjahre gelang ihr der literarische Durchbruch. Zwei Romane erschienen:
-1991 der deutsch-deutsche Roman “hüben und drüben“
-1992 erschienen “Geschichten aus tausendundzwei Jahren“ über Kindheit und Jugend in der NS-Diktatur.
- Im selben Jahr erschien das Drama “rübergemacht“, in dem sich zwei durch den Mauerbau getrennte Schwester nach der Wende begegnen.
Neben Prosaarbeiten hat sie aber auch Gedichte geschrieben und für den Rundfunk zahlreiche Essays, Features und Hörspiele vorgelegt.
Sie hat für den WDR Spielfilme gedreht und an diversen Multimediaprojekten mitgewirkt.
Anne Dorns Roman “Siedichum“, trägt biografische Züge. "Ich kann nur das "ausdrücken, was mich auch beeindruckt hat" sagte Anne Dorn in Freiburg. Die Reise nach Polen, die Recherche in den Archiven und vor Ort, um Hinweise auf den Verbleib des vermissten Bruders zu finden. Trotzdem ist ihr Buch keine Autobiografie, sondern ein Roman, eine kunstvolle Collage, in der verschiedene Textsorten miteinander verquickt werden : Berichte von Zeitzeugen, amtliche Dokumente, fiktionale Briefe, Prosa, Poesie und Märchen...
Ein Journalist hat es so ausgedrückt:
„Anne Dorn hat Siehdichum nicht nur stellvertretend für ihren kleinen Bruder geschrieben. Ihr gelingt es auch für all die Menschen zu schreiben, die durch Krieg, Flucht und Vertreibung ihre innere Heimat und ihre Sicherheit verloren haben. Sie reflektiert bewegend und in einfacher, klarer Sprache über Verlust, über Schuld, Schmerz und Trauer, und es ist trotzdem ein versöhnliches Buch geworden. (WDR5, 11.06.2007)
Mit 82 Jahren bekam Anne Dorn für diesen Roman den Ehrenpreis der Deutschen Schillerstiftung.
Das Gespräch in Freiburg drehten sich um die heiklen Fragen der Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen.
"Über den Bruder weiß ich nur wenig mehr als vorher, aber Erstaunliches über den menschlichen Stolz, die Scham, den Neid, den Hass, die Gier, die Gelüste der Rache und des Mordens. Ich weiß natürlich auch mehr über die Existenz von Treue, Mut, Schmerz und Trauer. Wirklich erschüttert hat mich nur eines: Die Unantastbarkeit von Hoffnung - auch in mir" (Siehdichum)