Mit einem Erlass vom 15. September 2020 kündigte der algerische Präsident Tebboune die Durchführung einer Volksabstimmung zu einer überarbeiteten Verfassung an, die am 1. November 2020 erfolgen soll. Die Wahlberechtigten Algeriens werden dann mit einem weißen Stimmzettel mit „Ja“ oder auf einem blauen Stimmzettel mit „Nein“ auf die Frage antworten können, ob sie mit dem vorgestellten Entwurf einer Verfassung einverstanden sind. Die geplanten Änderungen basieren auf der Verfassung aus dem Jahr 1996, die bereits in den Jahren 2002, 2008 und 2016 teilweise aus politischem Kalkül der damaligen Machthaber überarbeitet wurde. So sah die letzte Änderung aus dem Jahr 2016 die Aufhebung der Begrenzung der Zahl der Mandate des Staatspräsidenten vor und eröffnete dem damaligen Staatspräsidenten Bouteflika die Option einer weiteren Kandidatur.
Die Initiative zur Verfassungsänderung wurde im Januar 2020 unter der Prämisse gestartet, rechtsstaatliche Ziele starker zu verankern und die Verfassung insgesamt mehr an die politischen und sozialen Gegebenheiten des Landes anzupassen. Für die Erarbeitung des Entwurfs wurde eine Expertenkommission unter der Leitung von Ahmed Laraba, Professor für internationals öffentliches Recht und Mitglied der Kommission für Internationales Recht der der Organisation der Vereinten Nationen eingerichtet, die ausschließlich aus algerischen Rechts- und Verfassungsexperten bestand.
Eine erste Version des Entwurfs wurde im Mai 2020 politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren des Landes vorgestellt, die mit ca. 2500 Vorschlägen darauf reagierten. Die dann modifizierte Version des Verfassungsentwurfs wurde am 10. September einstimmig vom Parlament und anschließend auch vom Nationalrat (Oberhaus des Parlaments) angenommen. Mit Erlass vom 15. September 2020 wurde der 1. November als Datum für die Volksabstimmung festgelegt – ein in Algerien symbolträchtiges Datum, das an den Beginn des Befreiungskrieges gegen Frankreich im Jahr 1954 erinnert.
Wesentliche Änderungen der Verfassung
Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz und der Rechtsstaatlichkeit:
Die neue Verfassung sieht die Schaffung eines Verfassungsgerichts vor, welches den bisherigen Verfassungsrat ersetzt. Das Verfassungsgericht überwacht das Funktionieren der staatlichen Institutionen und das Handeln der Staatsgewalt. Das Gericht prüft die Verfassungsmäßigkeit von Abkommen, Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften. Es kann vom Staatspräsidenten, dem Präsidenten des Nationalrates, dem Präsidenten des Parlaments, dem Premierminister oder Regierungschef, von mindestens 40 Parlamentsabgeordneten oder 20 Abgeordneten des Nationalrats angerufen werden. Der Vorsitzende des Verfassungsgerichts wird vom Staatspräsidenten für sechs Jahre ernannt.
Die Unabhängigkeit des Obersten Richterrates wird gestärkt, indem der Justizminister und Generalstaatsanwalt dort nicht mehr vertreten sein werden, aber zwei Plätze für Vertreter der Richtergewerkschaft und des Nationalen Menschenrechtsrats geschaffen werden.
Weitere in der neuen Verfassung vorgesehene, unabhängige Institutionen sind ein Rechnungshof, eine Wahlbehörde sowie eine Behörde zur Stärkung von Transparenz und zur Vermeidung und Bekämpfung von Korruption.
Stärkung der Grundrechte und deren Schutz:
Die Verfassung sieht mehrere Elemente zur Stärkung der Grundrechte vor. Dazu zählt das Prinzip der Gleichheit und des Verbots von Diskriminierung, zu deren Schutz der Staat sich im politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialem Leben verpflichtet. Die Meinungsfreiheit wird in der Verfassung verankert und die Pressefreiheit, zu der nun ausdrücklich auch die elektronische Presse zählt, wird bestätigt. Folter und Menschenhandel werden explizit unter Strafe gestellt, ein Recht auf Entschädigung für willkürlichen Freiheitsentzug begründet und das Recht auf das Geheimnis der Kommunikation und Korrespondenz wird garantiert.
Eine besondere Erwähnung erfährt die Versammlungsfreiheit, die zwar ausdrücklich nur friedliche Versammlungen betrifft, durch den in die Präambel der Verfassung aufgenommenen Verweis auf den Hirak als eine herausragende Bewegung in der Geschichte Algeriens aber ein starkes politisches Signal in Richtung Protestbewegung setzt. Versammlungen müssen künftig nur noch angemeldet, aber nicht mehr vom Staat genehmigt werden.
Förderung der Rolle der Zivilgesellschaft:
Die Verfassung verpflichtet den Staat zur Förderung der Zivilgesellschaft mit dem Ziel, deren Teilhabe an Entscheidungen zu den öffentlichen Angelegenheiten zu stärken. Die Gründung von Vereinen wird erleichtert, da diese künftig nur noch erklärt, aber nicht mehr von den Behörden genehmigt werden muss.
Begrenzung der Macht des Staatspräsidenten:
Das Mandat des Präsidenten beträgt fünf Jahre und wird auf zwei Mandate begrenzt, unabhängig davon, ob diese aufeinander folgen. Tritt der Präsident zurück oder kann wegen Erkrankung sein Amt nicht weiter ausführen, gilt das Mandat als erfüllt. Über die Amtsfähigkeit des Präsidenten im Krankheitsfall entscheidet das Parlament auf Vorschlag des Verfassungsgerichts mit einer Dreiviertelmehrheit. Das präsidiale Regierungssystem wird durch Elemente eines semipräsidialen Systems ergänzt. Der Präsident ernennt je nach Mehrheitslage im Parlament einen Premierminister oder Regierungschef. Verfügt der Präsident über eine Mehrheit im Parlament, nominiert er einen Premierminister, der das Regierungsprogramm des Staatspräsidenten vertritt, ansonsten einen Regierungschef, der dann das Regierungsprogramm der Parlamentsmehrheit umsetzen muss.
Internationales Engagement:
Der Verfassungsentwurf sieht die Möglichkeit der Entsendung algerischer Streitkräfte zu friedenserhaltenden Maßnahmen gemäß der Prinzipen und Ziele der Vereinten Nationen, der Afrikanischen Union und der Arabischen Liga vor. Damit verlässt Algerien erstmals offiziell das bisherige Prinzip der Beschränkung auf die Landesverteidigung.
Stärkung der Korruptionsbekämpfung:
Neben der weiter oben erwähnten Schaffung einer Behörde zur Korruptionsbekämpfung werden Träger hoher öffentlicher Ämter und Abgeordnete des Parlaments und der Gemeinderäte bei Amtsantritt
zur Erklärung ihres Eigentums verpflichtet. Die Immunität der Parlamentsabgeordneten wird ausdrücklich auf Handlungen beschränkt, die in die Ausübung ihrer Funktion fallen.
Reaktionen
Der Verfassungsentwurf hat zu einer Reihe von Stellungnahmen von Rechtsexperten geführt, welche auf die Besonderheiten und Schwächen der Verfassung hinweisen. Bemängelt wird eine aufgeblähte Verfassung mit bis in den Bereich der einfachen Gesetze und Verordnungen reichenden Bestimmungen. Die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten werden als so umfassend bezeichnet, dass eine Unabhängigkeit der Gewalten nicht gewährleistet werden könne. Das durch die Verfassung begründete politische System – eine präsidiale, semipräsidiale oder parlamentarische Demokratie – sei nicht ausreichend klar. Insbesondere die im Artikel 103 der Verfassung vorgesehene Regelung, wonach je nach Parlamentsmehrheit ein Premierminister oder ein Regierungschef die Regierungsgeschäfte führt, schaffe Unklarheit über das Regierungssystem. Kritisiert wird überdies die Eile, mit welcher der Verfassungsentwurf erstellt wurde, wodurch im Entwurf noch zahlreiche Fehler und Widersprüche enthalten seien.
Unter den politischen Parteien unterstützen die Regierungsparteien Front de Libération Nationale (FLN) und Rassemblement national démocratique (RND) sowie die regierungsnahe Partei TAJ (Tajamoue Amel El-Jazair) wenig überraschend das Reformprojekt, während die Oppositionsparteien Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (RCD), Front des Forces Socialistes (FFS), Parti des Travailleurs (PT) und Mouvement de la Société pour la Paix (MSP) ihren Widerstand angekündigt haben.
Die gesellschaftlichen Organisationen des Landes sind wie schon bei der Bewertung früherer Reformversprechen der neuen Regierung gespalten. Organisationen wie das Forum de Compétences Algériennes oder das Forum National de la Société Civile et de la Jeunesse haben für die Annahme der Verfassungsreform geworben, während beispielsweise der Pacte pour l’Alternative Démocratique, der auch zahlreiche im Hirak vertretene Gruppierungen umfasst, das Reformprojekt ablehnt. Die wesentliche Kritik ist demnach, dass mit der neuen Verfassung die Macht des Präsidenten erhalten bliebe und die fehlende Legitimation der Regierung durch diese Reform nicht beseitigt werden könne.
Bewertung
Die Verfassungsreform ist ein weiterer zaghafter Schritt zur politischen Öffnung des Landes, die durch den Hirak erzwungen wurden. Sie reagiert wie schon bei früheren Verfassungsreformen Algeriens auf konkrete politische Ereignisse und Forderungen, liefert einige Instrumente zur Lösung und Vermeidung politischer Konflikte und ist damit grundsätzlich geeignet, die Einheit und die Stabilität des Landes zu fördern. Aufgrund der fehlenden Klarheit wird die Verfassung nur bedingt eine vorhersehbare und verstehbare Ausübung der Staatsgewalt gewährleisten. Sie ist nicht der große Wurf (z.B. Abschaffung des präsidialen Systems), wie von vielen politischen und gesellschaftlichen Kräften gefordert und muss daher mit bleibendem Widerstand rechnen. Erhebliche Fortschritte würde die Annahme der Reform bei der Gewährleistung von Grundrechten und der Sicherung der individuellen Freiheit ermöglichen. Allerdings beinhaltet der Entwurf auch verfassungsimmanente Einschränkungen, die bei einer restriktiven Auslegung die Sicherung fundamentaler Rechte relativiert. Im Falle der Pressefreiheit gilt beispielsweise, dass diese nicht für die Verbreitung von Nachrichten genutzt werde darf, wenn dadurch die Würde, die Freiheit oder die Rechte anderer verletzt wird oder diskriminierende Reden oder Hassreden verbreitet werden. Aufgrund der jüngeren Erfahrung im Umgang mit der Pressefreiheit scheint ein Misstrauen hinsichtlich der künftigen Auslegung solcher Gesetzesvorbehalte berechtigt.
Die am 1. November zur Volksabstimmung stehende Verfassungsreform sendet damit zwei aus der Sicht der politischen Führung Algeriens sich wechselseitig bedingende Signale: Wir wollen (oder müssen) das Land politisch öffnen, aber nur schrittweise und nicht ohne Rückversicherung.
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