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Drei Präsidenten in der Krise

de Janosch Lipowsky

Die Corona-Pandemie wirft ein Schlaglicht auf den sich seit Jahren verschärfenden Konflikt der politischen Institutionen in Tunesien

Schnelles und resolutes Handeln, Einsatz von Robotern zur Kontrolle der Einhaltung der Ausgangsperre und zuletzt Neuinfektionen im niedrigen einstelligen Bereich: Die Art und Weise der Bekämpfung der Corona-Pandemie in Tunesien hat international für Aufmerksamkeit und Anerkennung gesorgt. Die durch diese Erfolge ausgelöste positive Stimmung im Land steht allerdings im Kontrast zu der seit Monaten andauernden politischen Krise.

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Schnelles und resolutes Handeln, Einsatz von Robotern zur Kontrolle der Einhaltung der Ausgangsperre und zuletzt Neuinfektionen im niedrigen einstelligen Bereich: Die Art und Weise der Bekämpfung der Corona-Pandemie in Tunesien hat international für Aufmerksamkeit und Anerkennung gesorgt. Tatsächlich haben die Maßnahmen der Regierung bislang Wirkung gezeigt: Zu keinem Zeitpunkt schien das Land mit der Situation überfordert zu sein. Ob Tunesien dadurch den vom Regierungschef ausgerufenen „Krieg“ gegen den Virus gewonnen hat, wird sich noch zeigen. In jedem Fall aber steht die durch diese Erfolge ausgelöste positive Stimmung im Land im Kontrast zu der seit Monaten andauernden politischen Krise. Denn die Pandemie stellt nicht nur das Gesundheitssystem, die Wirtschaft und die Gesellschaft auf eine harte Probe, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf eine sich seit Jahren verschärfenden Konflikt der politischen Institutionen. Besonders die drei „Präsidenten“ stehen im Fokus: Der Staatspräsident, der eine Systemänderung anstrebt, der frischgewählte Regierungspräsident, der sich profilieren möchte, und der Parlamentspräsident, der um seinen politischen Einfluss kämpft. Für sie ist die Corona-Krise eine Chance, ihre Agenda voranzutreiben – für die Tunesier ist sie ein weiterer Test der Leistungsfähigkeit des politischen Systems, das sich zunehmend in der Kritik befindet.

Erfolgreiches Krisenmanagement, negative wirtschaftliche Aussichten

Tunesien hat im Kampf um die Eindämmung der Corona-Pandemie erste Erfolge verzeichnet: Nach eineinhalbmonatigen weitreichenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit hat das Gesundheitsministerium am 10. Mai zum ersten Mal keine Neuinfizierungen mit dem Corona-Virus gemeldet. Die Erleichterung über und der Stolz auf diese positive Entwicklung ist groß. Denn zu Beginn der Krise machten sich viel Tunesier große Sorgen, weil das Land gerade einmal über ein paar hundert Intensivbetten verfügt. Jetzt rühmt sich die Regierung damit, dass weitaus entwickeltere Staaten mit der Krise überfordert zu sein schienen, während Tunesien zu keiner Zeit die Kontrolle verloren hat – das Virus hat, Stand Mai, 45 Todesopfer gefordert. Gleichzeitig wissen die Verantwortlichen aber auch, dass noch nicht absehbar ist, wie nachhaltig diese Entwicklung sein wird und werden deshalb nicht müde zu betonen, dass der vom Regierungschef ausgerufene „Krieg“ gegen das Virus noch nicht gewonnen sei. Der Gesundheitsminister mahnte, dass man sich auf eine zweite Welle von Infektionen im Herbst einstellen müsse. Deshalb sei jetzt besonders wichtig, die Maskenpflicht und die Kontaktbeschränkungen in der nun eingeleiteten Phase der Lockerung der Beschränkungen einzuhalten.

Gerade aber vor diesem Hintergrund hat Tunesien durch sein Krisenmanagement wertvolle Zeit gewonnen. Nun kann es für einen möglichen erneuten Anstieg der Infektionen vorsorgen. Die Grundlage dafür wurde durch das schnelle und resolute Handeln der Regierung gelegt, die eine antizipierende Haltung eingenommen hat und frühzeitig, als die Fallzahlen noch im zweistelligen Bereich lagen, weitreichende Maßnahmen ergriff. Dazu gehörten Quarantänemaßnahmen für aus dem Ausland eingereiste Personen, Grenzschließungen sowie Ausgangsbeschränkungen für die große Mehrheit der Bevölkerung. Darüber hinaus hat die Regierung auf innovative Lösungen gesetzt, wie etwa Roboter, die in der Innenstadt von Tunis die Einhaltung der Ausgangsbeschränkungen kontrolliert haben oder die Digitalisierung einiger Dienstleistungen.

Diese Maßnahmen wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Bevölkerung mitgetragen und eingehalten. Sogar der Optimismus der Tunesier im Hinblick auf die Zukunft des Landes lag in Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Sigma Conseil im April mit 55 Prozent auf dem zweithöchsten gemessenen Stand seit 2015. Gleichzeitig wachsen aber auch die Sorgen im Hinblick auf die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen der Krise. In der Tat stehen besonders vor dem Hintergrund einer seit Jahren anhaltenden wirtschaftlichen Krise die Vorzeichen für Tunesien schlecht. Eine Arbeitslosigkeitsquote von circa 15 Prozent, ein schwaches Wachstum und eine die Kaufkraft erodierende Inflation führen immer wieder zu Spannungen, die den sozialen Frieden gefährden und viele Tunesier, darunter zahlreiche qualifizierte junge Fachkräfte, zum Auswandern bewegen.

Entsprechend negativ sind die Aussichten nach dem fast zweimonatigen Stillstand der Wirtschaft und dem Einbrechen der Konjunktur: Der IWF erwartet für Tunesien einen seit der Unabhängigkeit nie dagewesenen Rückgang der Wirtschaftsleistung von 4,3 Prozent des BIP bei weiter steigender Arbeitslosigkeit. Besonders der Tourismussektor, der sieben Prozent des BIP ausmacht und der erst langsam begann, sich von den Anschlägen 2015 zu erholen, droht komplett zusammenzubrechen. Angesichts dieser Lage sind die Erwartungen an den Staat enorm. Der Staat, traditionell interventionistisch, hat schon seit längerem durch eine prekäre Haushaltslage und einer Verschuldung von knapp 80 Prozent des BIP an Handlungsfähigkeit eingebüßt – eine Entwicklung, welche die Krise nun zu beschleunigen droht. Mehrere Ratingagenturen stuften in den vergangenen Wochen die Kreditwürdigkeit Tunesien herunter, dessen Staatsanleihen als hoch spekulativ bewertet werden und nur noch eine Note über dem Level liegen, bei dem Ausfälle sehr wahrscheinlich werden.

Die Pandemie wirft ein Schlaglicht auf die andauernde politische Krise

Erst kurz vor Ausbruch der Pandemie war die Regierung des Sozialdemokraten Elyes Fakfhfakh mit dem Ziel angetreten, die soziale und wirtschaftliche Misere der vergangenen Jahre endlich zu beenden. Nun gerät sie in eine turbulente Phase – und zwar nicht nur aufgrund der sich anbahnenden Verschlechterung der sozioökonomischen Lage. Auch politisch droht es zu einer Zerreißprobe für die Regierung und die politischen Institutionen zu kommen. Denn die Erfolge im Kampf gegen die Pandemie und das resolute Handeln der Regierung sind weniger das Ergebnis eines Bündelns der Kräfte, sondern eher der Tatsache zu verdanken, dass das Parlament Elyes Fakhfakh erlaubt hat, für zwei Monate per Dekret zu regieren. Im Hintergrund wütet ein offener politischer Konflikt, der schon seit Jahren die Handlungsfähigkeit der „drei Präsidentschaften“ erheblich einschränkt. „Die drei Präsidentschaften“ werden seit der Einführung der demokratischen Verfassung von 2014 der Staatspräsident, der Regierungschef und der Parlamentspräsident genannt. Der Verfassung nach sind die Kompetenzen abgegrenzt, in der Praxis kommt es aber immer wieder zu Konflikten und zu verschiedenen Auslegungen – das hat die Corona-Krise erneut deutlich gemacht.

Im Mittelpunkt des Konflikts stand zuletzt vor allem der Regierungschef Elyes Fakhfakh. Dieser konnte sich während der Pandemie als Krisenmanager präsentieren, was seine Position innerhalb der politischen Konstellation gestärkt hat. Denn Fakhfakh hatte eigentlich nur eine begrenzte Legitimität und Autorität als Regierungspräsident: Seine ehemalige sozialdemokratische Partei hatte bei den Wahlen 2019 keinen Sitz erringen können und er wurde nur deshalb Regierungschef, weil der Staatspräsident Kais Saied ihn gegen den Willen der führenden Parteien im Parlament durchsetzte, indem er mit Neuwahlen drohte. Im Gegenzug sicherte sich der Staatspräsident so den Einfluss auf den Regierungschef, der in seine Regierung nur diejenigen Parteien einbezog, die Saied im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen unterstützt hatten.

Gleichzeitig ist Fakhfakh damit aber auch den Interessen der acht Parteien verpflichtet, die ihm das Vertrauen ausgesprochen haben – allen voran der islamistischen Ennahda, die zwar an der Regierung beteiligt ist, parallel dazu aber eine Oppositionskoalition mit zwei weiteren Parteien, Qalb Tounes und El-Karama, geschmiedet hat und die Regierung so immer wieder unter Druck setzt. So geschehen zum Beispiel bei der Aktivierung des Artikels 70, der dem Regierungschef erlauben sollte, in der Corona-Krise per Dekret zu regieren. Zwar wurde ihm diese Möglichkeit nach intensiven Auseinandersetzungen gewährt, das Parlament schränkte aber kurzerhand die Gültigkeitsbereiche ein, um nur soviel Macht wie unbedingt nötig abzugeben. Die Gründe dafür bewegten sich zwischen der Sorge vor dem demokratischen Kontrollverlust des Parlamentes und der Befürchtung, die Handlungsfähigkeit der Regierung nicht zu stark werden zu lassen.

Der Regierungschef äußerte seinen Frust über die Beschränkungen der Anwendung von Artikel 70 öffentlich, konnte aber seit Anfang April dennoch selbstbewusst regieren und seine Position im institutionellen Gefüge stärken. Dies spiegelt sich in jüngsten Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Sigma Conseil wider, in denen sich Fakhfakhs Zustimmungswerte seit seinem Regierungsantritt fast verdoppelt haben. Seit Wochen halten sich hartnäckige Gerüchte, dass sich im Parlament eine ihn unterstützende Fraktion bilden werde. Dies könnte ihm helfen, sich sowohl von den Druck ausübenden Parteien, als auch vom Staatspräsidenten etwas zu emanzipieren. Auf die Frage, von welcher politischen Persönlichkeit sich die Tunesier in Zukunft wünschen, dass sie eine größere Rolle spielt, steht Fakhfakh mittlerweile mit 82 Prozent an erster Stelle, noch vor dem Staatspräsidenten, der in dieser Kategorie im Vergleich zum Vormonat neun Prozentpunkte eingebüßt hat und von dem sich noch 79 Prozent einen stärkeren Einfluss wünschen.

Der Staatspräsident gefangen zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Ob und wie sich das bisher gute Verhältnis zwischen dem Regierungschef und dem Staatspräsidenten durch die Corona-Krise verändern wird, ist noch nicht absehbar. Tatsache ist aber, dass Staatspräsident Kais Saied nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass er das aktuelle System der „drei Präsidenten“ ablehnt und sich als direktgewählten Staatspräsidenten als eigentlichen Kopf der Exekutive sieht. Dies machte er erneut deutlich, als er am 20. Februar bei der Vorstellung der Liste der Regierungsmitglieder Elyes Fakhfakh folgenden Satz mit auf den Weg gab: „Es gibt nicht drei Präsidentschaften. Es gibt nur einen Staatspräsidenten sowie einen Parlamentspräsidenten und einen Regierungspräsidenten. Heute ist der Beginn einer neuen Ära und wir müssen verhindern, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.“

Die Fehler der Vergangenheit, das waren die spätestens seit 2016 aufgetretenen Dauerkonflikte zwischen dem Staatspräsidenten Béji Caid Essebsi und seinem Regierungschef Youssef Chahed, der sich, anders als seine Vorgänger, nicht als Premierminister des Staatspräsidenten sah und zunehmend eigenständig agieren wollte – wie es ihm die Verfassung erlaubt. Diese hat ein hybrides, semi-parlamentarisches, semi-präsidiales System mit einer janusköpfigen Exekutive aus Staats- und Regierungspräsidenten eingerichtet, in dem der direktgewählte Staatspräsident vor allem für die Außen- und Verteidigungspolitik verantwortlich zeichnet, während dem Regierungschef die sozial-, wirtschafts- und innenpolitischen Ressorts unterstellt sind. Kais Saied hatte schon 2014, damals noch als Verfassungsrechtler, moniert, dass dieses System auf eine Zusammenarbeit zwischen beiden Teilen der Exekutive angewiesen sei, sonst könne es zur Blockade der Institutionen kommen.

Dazu kam es in der Zusammenarbeit zwischen Kais Saied und Elyes Fakhfakh bisher nicht. Dennoch holte die Verfassung den Staatspräsidenten durch den Ausbruch der Corona-Pandemie ein stückweit wieder ein. Denn durch die sich permanent verändernden Krisenumstände war der Regierungschef aufgrund seiner innenpolitischen Kompetenzen in der Funktion als Krisenmanager besser geeignet als der Staatspräsident. Dieser beanspruchte trotzdem eine Rolle für sich, indem er einen Artikel der Verfassung nutzte, der ihm im Falle einer außergewöhnlichen Bedrohung für die Nation erlaubt, präsidiale Dekrete zu erlassen. Dies führte anfangs der Corona-Krise zu teils widersprüchlichen Maßnahmen: Während der Regierungschef die Arbeitszeiten der Angestellten des öffentlichen Dienstes auf zwei Schichten verteilte, damit sich die Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht drängten, erließ der Staatspräsident nur einen Tag später eine nächtliche Ausgangsperre von 18 bis 6 Uhr. Dadurch kam es erneut zu Massenansammlungen in Bussen und Straßenbahnen, da alle Tunesier plötzlich zur selben Zeit nach Hause fuhren.

Saied gab den Fehler später zu und die Abstimmung mit dem Regierungschef wurde enger. Nichtsdestotrotz kam es auch weiterhin zu Überschneidungen der Kompetenzen: Der Regierungschef richtete am 25. März eine nationale Corona-Krisenzelle ein, die parallel zum nationalen Sicherheitsrat unter Leitung des Staatspräsidenten agierte, der – wiederum im Falle einer außergewöhnlichen Bedrohung – für die Nation eingerichtet werden kann und in dem der Regierungschef, der Parlamentspräsident sowie mehrere Minister sitzen. Die Unterscheidung der Rolle der beiden Institutionen blieb schwammig. Andererseits grenzte Saied sein Handeln auch von dem des Regierungschefs ab, indem er sich, wie schon während der Wahlkampfkampagne, als volksnaher Präsident stilisierte. Mal zeigte ihn das Präsidialamt bei Spenden seines Gehaltsschecks, mal wurde er beim Verteilen von Nahrungsmitteln an bedürftige Tunesier gefilmt. Mit dem gleichen Esprit setzte er die Regierung auch mehrmals unter Druck, als er sie öffentlich aufforderte, sich stärker um die sozialen Belange der Menschen zu kümmern.

Der Regierungschef betonte zuletzt immer wieder, dass seine Beziehung zu Saied intakt sei. Aufgrund der institutionellen Konstellation und des politischen Drucks, dem der Regierungschef durch die Koalitionsparteien jedoch ausgesetzt ist, sind in Zukunft politische Blockaden nicht auszuschließen. Zumal nicht nur das Verhältnis des Regierungschefs zu den Parteien angespannt ist. Auch der parteilose Staatspräsident scheut den Konflikt mit der Legislative nicht, die er komplett umgestalten möchte: Statt einer repräsentativen Nationalversammlung möchte er das System lokaler gestalten und Elemente der direkten Demokratie einführen. Die Parteien sind ihm dabei ein besonderer Dorn im Auge, da sie „die Wähler verraten“ hätten, wie er am 11. Mai erneut deutlich zum Ausdruck brachte, als er eine Änderung der Geschäftsordnung des Parlamentes als verfassungswidrig kritisierte. Diese soll es den Abgeordneten erschweren, während einer Legislaturperiode die Partei zu wechseln, was in den letzten Jahren gang und gäbe war. Saied zufolge wäre eine solche Maßnahme nicht notwendig, wenn die Bürger den Abgeordneten während der laufenden Legislaturperiode einfach das Vertrauen entziehen könnten, wenn sie mit deren Arbeit unzufrieden sind.

Der Parlamentspräsidenten als „zweiter Mann“ im Staat

Die Reaktion der Abgeordneten ließ nicht lange auf sich warten: Die Einmischung in die Angelegenheiten des Parlamentes stehe ihm nicht zu und er sei es, der durch solche Aussagen die Verfassung missachte. Diese Auseinandersetzungen sind nicht neu und gehören schon seit Beginn von Saieds Mandat zum politischen Alltag. Doch der Staatspräsident ist in seiner Kritik selbstbewusster und schärfer geworden, seit er Elyes Fakhfakh als Regierungschef durchsetzen konnte. Möglich wurde dies, weil es dem ursprünglichen Kandidaten der islamistischen Partei Ennahda im Januar nicht gelang, eine Mehrheit im Parlament zu finden. Dadurch ging – gemäß der Verfassung – das Vorschlagsrecht an den Staatspräsidenten zurück, der im Falle eines erneuten Scheiterns des Kandidaten für das Amt des Regierungschefs das Parlament hätte auflösen können.

Die Drohungen mit Neuwahlen haben dem Parlament und besonders dem Parlamentspräsidenten und Vorsitzenden von Ennahda, Rached Ghannouchi, vor Augen geführt, dass dem Staatspräsidenten trotz seiner durch die Verfassung eng begrenzten Gewalt weiterhin eine zentrale Rolle zukommt. Denn es ist vor allem ihm und seiner Partei zuzuschreiben, dass Tunesien 2014 eine Abkehr vom reinen Präsidialsystem unternommen hat und die Rollen des Parlaments und der Regierung gestärkt hat. Zum Teil ist das auf ein politisches Kalkül zurückzuführen: Ennahda war bewusst, dass die Partei aufgrund der Polarisation zwischen einem religiös-konservativem und einem säkular-modernistischem Lager in einer Stichwahl wahrscheinlich wenig Chancen hätte, den Präsidenten zu stellen. Gleichzeitig wollte die Ennahda aber auch die Macht von eventuellen Hardlinern auf den Präsidentenposten begrenzen, um nicht erneut politisch verfolgt zu werden, wie dies bis 2011 der Fall war. Im Ergebnis wurde ein Kompromiss erzielt, der das jetzige hybride, semi-parlamentarische, semi-präsidiale System zur Folge hatte.  

Die neue Macht des Parlaments in der besonderen Situation, die sich aus den Wahlen 2019 ergeben hat, konnte vor allem Rached Ghannouchi als Parlamentspräsident für sich nutzen: Zum einen ist Ennahda stärkste und stabilste Kraft in einem sehr zersplitterten und volatilen Parlament, was Koalitionen ohne die Beteiligung der Partei schwierig macht. Zum anderen gehört der Staatspräsident Kais Saied keiner Partei an und kann sich aufgrund seiner geringen politischen Erfahrung auf kein politisches Netzwerk stützen, wodurch sein Rückhalt im Parlament trotz seiner starken Legitimation durch seinen überwältigenden Wahlsieg (noch) begrenzt ist. Beide Tatsachen haben es Ghannouchi ermöglicht, sein Mandat in einer Art und Weise auszulegen, die ihn nicht nur dem Protokoll nach zum zweiten Mann im Staat werden lässt. Dabei kommt ihm sein über Jahrzehnte aufgebautes Netzwerk zugute. Das ermöglichte ihm zum Beispiel, im Januar in seiner Funktion als Parteivorsitzender nach Istanbul zu reisen, um sich mit dem türkischen Präsidenten Erdogan auszutauschen. Zwar trug ihm das die Kritik ein, die Autorität des Staatspräsidenten Saied zu untergraben und diplomatische Gepflogenheiten zu missachten; das hinderte ihn aber nicht daran, auch im April mit Erdogan zu telefonieren und die Konsequenzen der Corona-Pandemie zu besprechen – diesmal in seiner offiziellen Funktion.

Nicht nur über die Diplomatie hat Ghannouchi einen beachtlichen Einfluss im institutionellen Gefüge. Auch durch seine Funktion als Parlamentspräsident hat er sich so in Stellung gebracht, dass an ihm kein Weg vorbeiführt. Demonstriert hat er das zuletzt in der Debatte, in der es darum ging, dem Regierungschef das Regieren per Dekret zu ermöglichen. Um dies zu verhindern und überflüssig zu machen, hatte er kurzerhand die Geschäftsordnung ändern lassen, um Abstimmungen der Abgeordneten aus der Distanz sowie Gesetze im Schnellverfahren zu ermöglichen. Zwar gab er im Streit schlussendlich nach und Fakhfakh erhielt seine begrenzte Vollmacht für zwei Monate, durch die kurzfristige Anpassung der Geschäftsordnung hat er jedoch seinen Einfluss im System deutlich gemacht. Auch über die Kontrolle der Tagesordnung nimmt Ghannouchi Einfluss auf das Geschehen: Mitten in der Corona-Krise wollte er im April über die Ratifizierung zweier umstrittener mit der Türkei und Qatar geschlossener Abkommen abstimmen lassen, was den Abgeordneten kaum Zeit zur Vorbereitung ließ. Die Debatte wurde aufgrund der vehementen Opposition verschoben. Ein zweites Mal gab er einer Gesetzesinitiative der verbündeten Oppositionspartei El-Karama vor einem von der Regierung eingereichten Gesetz Vorrang – was wiederum gegen die Geschäftsordnung war.

Vor diesem Hintergrund und wegen der Beförderung von zwei Ennahda-Mitgliedern zu Beratern des Regierungschefs Ende April, wird nun Kritik laut, dass der Parlamentspräsident den vorübergehenden Machtverlust des Parlamentes durch die Aktivierung des Artikels 70 dadurch kompensieren wolle, dass er seine eigene Agenda voranbringe und seine politische Position stärke. Tatsächlich befindet sich Ghannouchi in einer schwierigen Lage: Den Statuten seiner Partei zufolge muss er beim nächsten Parteitag den Parteivorsitz nach zwei Mandaten abgeben. Für ihn ist das Amt des Parlamentspräsidenten daher auch eine Möglichkeit, seinen politischen Einfluss auf nationaler Ebene zu wahren. Gleichzeitig mehren sich aber die Zeichen, dass Ghannouchi seinen Abtritt als Vorsitzender zu verzögern sucht. Zuletzt wurde der Parteitag auf unbestimmte Zeit verschoben und sogar das Exekutivbüro, unter anderem zuständig für die Organisation des Kongresses, vom Vorsitzenden aufgelöst. Dieser Schritt wird den Druck von Teilen seiner Partei weiter ansteigen lassen; sie haben ihren Unmut am Kurs Ghannouchis – neuerdings auch öffentlich –  in den vergangenen Monaten immer stärker zum Ausdruck gebracht.

Die Corona-Krise ist auch ein Stresstest für das demokratische System

In jüngsten Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Sigma Conseil zeigte sich, dass der Parlamentspräsident von den drei Präsidenten bei den Bürgern das geringste Vertrauen genießt und von der Corona-Krise nicht profitieren konnte. Auch dem Parlament als Institution und den Parteien trauen nur sehr wenige Tunesier zu, ihre Probleme lösen zu können. Neu ist diese Entwicklung nicht, aber in der Corona-Krise scheinen sich die Fronten weiter zu verhärten, weil jeder der „drei Präsidenten“ seinen Einfluss verteidigen und seine Ziele voranbringen will: der Staatspräsident, indem er gegen die etablierten Akteure wettert und seine Idee von einem Systemwechsel propagiert, der Regierungschef, indem er sich als Krisenmanager im institutionelle Gefüge profiliert, und der Parlamentspräsident, indem er den permanenten Druck auf die Regierung aufrechterhält. Dadurch ist die Handlungsfähigkeit aller drei Akteure eingeschränkt und eine Konstellation entstanden, die einem Nullsummenspiel gleicht: Die Gewinne des einen sind die Verluste des anderen, was die Leistungsfähigkeit der Demokratie erschwert.

Die Corona-Krise ist damit ein stückweit auch ein weiterer Stresstest für das seit 2014 bestehende politische System. Die Unzufriedenheit und die Ernüchterung über die gefühlte Unfähigkeit der Politik, die Lebensverhältnisse der Bevölkerung zu verbessern, sind in den vergangenen Jahren stetig gestiegen und haben sich unter anderem in der drastisch zurückgegangenen Wahlbeteiligung niedergeschlagen. Besonders Parteien bekommen das Misstrauen zu spüren: Diese erscheinen in den Augen der Bevölkerung weniger als Organe zur Vermittlung zwischen gesellschaftlichen und staatlichen Interessen, sondern vielmehr als Vehikel für Partikularinteressen einzelner Eliten. Zuletzt rief der Vorsitzende der mächtigen UGTT, der größten Gewerkschaft des Landes, zu einem „Referendum zur Evaluierung des politischen Systems“ auf, da die aktuelle „zweite Republik seinen Ansprüchen nicht gerecht wurde“.  

Wenn die Tunesier in Meinungsumfragen gefragt werden, welche ausländischen Staatschefs sie als kompetent wahrnehmen, werden oft der türkische Präsident Erdogan und der nordkoreanische Machthaber Kim Jong Un genannt: Sie würden „Entscheidungen sofort treffen und sie auch durchsetzen können“. Tatsächlich herrscht im Land weiterhin eine tradierte Tendenz vor, die Macht zu personalisieren. Das wird auch daran deutlich, dass die Wahlbeteiligung bei der Präsidentschaftswahl stärker ist, als bei den Parlamentswahlen, obwohl der Regierungschef der Verfassung nach mehr Kompetenzen auf sich vereint. Die Zahl der Wähler, die Kais Saied 2019 zum Präsidenten gewählt haben, lag mit 2,7 Millionen nur knapp unter der Gesamtzahl der Tunesier, die bei den Parlamentswahlen ihre Stimme abgaben (2,9 Millionen).

Vor diesem Hintergrund sind die Erwartungen an den Staatspräsidenten gewaltig. Doch mit der aktuellen Verfassung und besonders durch die politische Konstellation ist sein Einfluss begrenzt und sein Programm, das politische System lokaler auszurichten, nicht umsetzbar. Angesichts der zu erwartenden Verschärfung der sozioökonomischen Krise durch die wirtschaftlichen Konsequenzen der Corona-Pandemie und der eingeschränkten Handlungsfähigkeit der Akteure droht die Unzufriedenheit der Bevölkerung weiter zu wachsen. Je nachdem wie sich die Konstellation um die drei Präsidenten entwickelt und wem die öffentliche Debatte die Verantwortung für die Entwicklung zuschreibt, könnte dies auch die seit 2014 nie abgeklungene Verfassungs- und Kompetenzverteilungsdiskussion wieder anheizen. Zuletzt stand neben dem Staatspräsidenten auch die PDL-Partei, Nachfolgeorganisation der Ben-Ali-Partei und offene Verfechterin einer Rückkehr zu einem starken Präsidialsystem, sowie ihre Vorsitzende Abir Moussi immer höher in der Wählergunst.  

Die Verfassungs(gerichts)-Debatte auch in Zeiten von Corona aktuell

Ob die 2014 fast einstimmig angenommene Verfassung für die politische Krise verantwortlich ist, darüber streiten die Experten und Politiker seit ihrer Einführung. Sicher ist jedoch, dass die Akteure, die seit 2014 in der Verantwortung standen, sich aus verschiedenen Gründen nie komplett mit ihr abgefunden haben und die Kompetenzverteilung immer wieder hinterfragt haben. Entscheidend war dabei das Fehlen des bis heute nicht eingerichteten Verfassungsgerichtes. Dieses sollte spätestens 2015 zusammentreten, scheiterte aber bisher an der Unfähigkeit des Parlamentes, seinen Teil der dafür vorgesehenen Richter zu benennen. Dadurch wurden die Unsicherheiten hinsichtlich der Auslegung und der Umsetzung der Verfassung – und der damit verbundenen Kompetenzzuordnung – erst möglich.

Dies befähigte die drei Präsidenten, auch in der Corona-Krise Entscheidungen zu treffen, deren rechtliche Grundlagen teilweise unscharf waren, und sich gegenseitig des Verfassungsmissbrauchs zu beschuldigen. Der Staatspräsident zum Beispiel erließ zwei Dekrete auf Grundlage des Artikels 80, ohne aber offen den dafür notwendigen „Ausnahmezustand“ auszurufen. Eigentlich müsste er dafür auch den Präsidenten des Verfassungsgerichts informieren, der aber noch nicht ernannt werden konnte, weil das Gericht noch nicht eingesetzt wurde. Parallel dazu wurde dem Regierungschef durch die Aktivierung von Artikel 70 gestattet, per Dekret zu regieren. Ob die Verfassung tatsächlich die Aktivierung beider Artikel gleichzeitig vorsieht und wenn ja, wie die Rollenverteilung dann vorgesehen ist, darüber hätte nur ein Verfassungsgericht entscheiden können. Genauso wie über die Verfassungskonformität der Änderung der Geschäftsordnung des Parlaments, die das Wechseln der Partei innerhalb einer Legislaturperiode einschränkt. Oder aber über die Anfechtung von Entscheidungen der Regierung durch Bürger, wie die, die Polizei zu ermächtigen, Autos von Tunesiern bei Missachtung der Ausgangssperre zu konfiszieren, was eigentlich nur von einem Untersuchungsrichter angeordnet werden kann. Nicht zuletzt beraubt das Fehlen des Verfassungsgerichts den Parlamentspräsidenten seines Rechts, die Richter um Prüfung zu bitten, ob die Umstände das Erlassen von außergewöhnlichen Maßnahmen weiterhin rechtfertigen, sprich die Dekrete des Staatspräsidenten im Rahmen von Artikel 80 und des Regierungschefs im Rahmen von Artikel 70.

Auch an diesem letzten Beispiel wird deutlich, wie sehr die Zukunft der tunesischen Demokratie und die Leistungsfähigkeit des Systems von der Kooperation der Institutionen und der agierenden Personen abhängen. Dafür gibt es auch positive Beispiele: Im Juli 2019, als der damalige Staatspräsident Béji Caid Essebsi im Amt verstarb, sprachen sich die in der Verantwortung stehenden Akteure so eng miteinander ab, dass zu keiner Zeit Zweifel über den friedlichen politischen Übergang aufkamen. Dieser lief genauso ab, wie von der Verfassung vorgesehen – auch ohne Verfassungsgericht. Doch auch damals zeigte sich, wie sehr die tunesische Politik von informellen Gesprächen und Absprachen bestimmt ist. Welche politischen Entscheidungen von welchen Akteuren, wann und wie getroffen werden und welche Konsequenzen diese nach sich ziehen; das alles sind Fragen, die für viele Tunesier in den letzten Jahren durch das Agieren der drei Präsidenten, der Parteien, aber auch anderer gesellschaftspolitischer Akteure wie den Gewerkschaften und Verbänden, undurchsichtig blieben.

Doch gerade in der sich anbahnenden Verschärfung der wirtschaftlichen und sozialen Lage und dem daraus resultierenden Druck, Ergebnisse erzielen zu müssen, wird die Transparenz der politischen Prozesse einer der entscheidenden Punkte für die Leistungsfähigkeit des demokratischen Systems sein. Somit ist die Corona-Krise für die Politik auch eine Chance, das verloren gegangene Vertrauen der Bevölkerung teilweise zurückzugewinnen und das demokratische System zu konsolidieren. Wie die Zukunft dieser Demokratie aussehen soll und ob sie durch eine Verfassungsänderung leistungsfähiger gemacht werden kann – das ist eine legitime Frage, die sich auch weiterhin stellen wird und für deren Beantwortung nicht zuletzt die Erfahrungen in der Corona-Krise wertvoll sein werden.

 

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Janosch Lipowsky

Janosch Lipowsky bild

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