Rapports pays
Nach mehrwöchigen blutigen landesweiten Protesten gegen Arbeitslosigkeit und Korruption richteten die Demonstranten ihren Zorn mehr und mehr direkt gegen die Person des seit 1987 amtierenden, autokratischen Staatspräsidenten Ben Ali. Noch am Donnerstag, 13. Januar 2011, versuchte Ben Ali in einer dritten Fernsehansprache mit der Ankündigung, dass er 2014 nicht mehr antreten werde, und der Feststellung, dass er die Wünsche der Protestierer „verstanden“ habe, die aufgeheizte Stimmung zu beruhigen. Am Folgetag fand dann in der Avenue Habib Bourgiba im Stadtzentrum von Tunis eine große Demonstration vor dem Innenministerium statt. „Ben Ali Mörder“, „Ben Ali Hau ab“ war auf den Transparenten zu lesen. Die Sicherheitskräfte hielten sich zunächst zurück, wie von Ben Ali ebenfalls in seiner letzten Ansprache versprochen. Am frühen Nachmittag jedoch, wurde die Kundgebung unter massivem Gewalteinsatz der Polizei aufgelöst, was in der Folge zu Auseinandersetzungen in ganz Tunis führte. Anschließend marschierten Einheiten der Armee in Tunis ein.
Wenig später schlug dann die Nachricht wie eine Bombe ein: Präsident Ben Ali sei zurückgetreten und habe das Land verlassen. Dies wurde auch kurz darauf von Premierminister Mohamed Ghannouchi im Fernsehen verkündet. Ghannouchi sagte weiter, er übernehme vorläufig das Amt des Staatspräsidenten und es werde ein Regierungsrat gebildet. Am Samstag wurde dann schließlich der Parlamentspräsident Fouad Mebazâa als neuer Interimspräsident durch den Verfassungsrat eingesetzt und umgehende Neuwahlen angekündigt. Mebazâa erklärte, Ghannouchi werde die Geschäfte der Übergangsregierung im Rahmen einer Regierung der nationalen Einheit führen, und sagte weiter, er werde die Verfassung respektieren. Der neue Interimspräsident Mebazâa ist 77 alt und war bereits unter Ben Alis Vorgänger Habib Bourgiba Minister. Da er allein schon aufgrund seines Alters keine persönlichen politischen Ambitionen mehr haben dürfte (die aktuelle Verfassung erlaubt ihm aufgrund einer Altersgrenze gar nicht zu kandidieren), könnte er bis zu einem wirklichen politischen Wechsel den Übergang moderieren.
Die Nacht von Freitag auf Samstag war nach Augenzeugenberichten von Plünderungen und Übergriffen von Banden in einigen Vierteln von Tunis geprägt. Dabei handele es sich nach Angaben von Beobachtern und Augenzeugen um „Milizen“ des Präsidenten. Am Wochenende blieb die Lage weiter angespannt. Auch in der Nacht von Samstag auf Sonntag waren Schüsse zu hören. Nach Angaben von Augenzeugen intervenierte das Militär – unterstützt von den Bürgern – in Krisenpunkten gegen die sog. „Milizen“ des Ex-Präsidenten. Auch im Stadtzentrum war eine erhöhte Präsenz der Armee (Kampf- und Schützenpanzer) festzustellen.
Am Sonntag schien sich die Lage in Tunis zu stabilisieren. Die Märkte in der Medina (der Altstadt) von Tunis waren am Vormittag geöffnet und gut besucht. Cafés öffneten ebenfalls. Im Villenvorort La Marsa zeigte das Militär starke Präsenz, überall waren improvisierte Barrikaden zu sehen. Auch dort war aber am Vormittag die Lage ruhig. Nach jüngsten Bereichten wurde der Sicherheitschef des gestürzten Präsidenten Ben Ali festgenommen und soll angeklagt werden. Erst gegen den frühen Nachmittag brodelte wieder die Gerüchteküche und im Stadtzentrum von Tunis war wieder eine äußerst gespannte Atmosphäre festzustellen. Die Lage ist ständig im Fluss: momentan (gegen 16:30 Uhr) sind zahlreiche Schüsse im Stadtzentrum zu hören. Die Lage in Tunis ist nach wie vor unübersichtlich.
Machtvakuum und die Frage nach der Zukunft
Das größte aktuelle Problem ist das durch den fluchtartigen Abschied Ben Alis entstandene Machtvakuum. Wie die Plünderungen und Schusswechsel nach dem Abgang Ben Alis zeigen, hat diese Flucht eine Lücke hinterlassen, die eine Wiederherstellung der Ordnung erschwert. Es finden Auseinandersetzungen zwischen dem Militär und Unruhestiftern statt. Die Schwierigkeiten der Übergangsmannschaft um Interimspräsident Mebazâa bei der Ankündigung und Umsetzung wirklicher Reformen als Grundlage für den politischen Wandel sowie bei der schnellen Wiederherstellung der Ordnung zeigt eine, durch das letztlich erstaunlich schnelle Ende des Regimes Ben Ali entstandene, gewisse Führungs- und Ratlosigkeit auf. Wichtig ist es daher, in erster Linie die Ordnung in Tunesien wiederherzustellen, um überhaupt die Voraussetzungen für einen wirklichen politischen Wandel zu schaffen. Denn es braucht ausreichend Stabilität, um es neuen politischen Kräften zu erlauben, Strukturen aufzubauen und sich einzubringen. Die Tunesier vertrauen jetzt darauf, dass in erster Linie die Armee diese Aufgabe der Wiederherstellung der Ordnung übernimmt.
Die aktuelle Übergangsmannschaft um Interimspräsident Mebazâa besteht noch aus Vertretern des alten Systems. Die nächste wichtige Frage ist deshalb die nach den personellen und politischen Alternativen zum alten System Ben Ali. Und vor allem: ist es realistisch, in nur zwei Monaten den tunesischen Wählerinnen und Wählern eine effektive und glaubwürdige Wahl zu ermöglichen? Aufgrund der jahrzehntelangen Unterdrückung jeder organisierter Opposition fehlen in Tunesien nun Strukturen und bekannte Personen, die den Wandel mitgestalten können. Der Aufbau neuer politischer Kräfte wird aber Zeit brauchen. Sicherlich gibt es eine Reihe von bekannten Oppositionellen, wie beispielsweise der Journalist Taoufiq Ben Brik, oder Nejib Chebbi, Gründer der (unter Ben Ali legalen) Oppositionspartei PDP. Auch gibt es Reste der islamistischen Partei Ennahdha, deren Führer Rachid Ghannouchi seine Rückkehr aus dem Exil angekündigt hat. Aber es ist fraglich, ob sich die Menschen, die durch mehrwöchige Proteste den Rücktritt Ben Alis erreicht haben, von diesen Personen repräsentiert fühlen. Es wird sich erst noch zeigen, welche neuen Köpfe nun in der tunesischen Politik sichtbar werden. Allerdings sollte man sich in diesem Zusammenhang auch davor hüten, automatisch alle ehemaligen tunesischen Verantwortungsträger in einen Topf zu werfen. Sicherlich wird es eines grundlegenden personellen Wandels bedürfen, dies wollen auch die Tunesier. Aber dieser Wandel muss nachhaltig sein und bedingt auch den Aufbau starker Institutionen.
In den nächsten Wochen und Monaten kommt deshalb auf die Tunesier eine mindestens ebenso schwere Aufgabe zu, wie es die Beendigung der Präsidentschaft Ben Alis durch die Proteste war: den Aufbau langfristig tragfähiger demokratischer Institutionen, die Entwicklung einer neuen politischen Kultur und die Verankerung eines effektiven Rechtstaats. Hierzu braucht es auch Hilfe von außen, aber vor allem eines: den festen Willen der Tunesier, ihre neue Freiheit zu konsolidieren.
Reaktionen in der arabischen Welt
Die tunesische Revolution ist in der gesamten arabischen Welt intensiv verfolgt und wahrgenommen worden. Insbesondere aus den Nachbarstaaten des Maghreb (aber nicht nur) erreichen viele Tunesier Glückwünsche via Telefon und Internet. Der panarabische Fernsehsender Al Jazeera berichtet kontinuierlich über die Entwicklungen in Tunesien. Besonders schlecht wurden von vielen Tunesiern die Äußerungen des libyschen Staatschefs Ghaddafi aufgenommen, der Ben Alis schnellen Abgang kritisierte. Interessant ist aber auch, dass in Libyen auf Anweisung Ghaddafis bereits vor Tagen eine Preissenkung bei den Grundnahrungsmitteln angekündigt wurde. Die Ansteckungsgefahr durch Sozialproteste soll damit wohl minimiert werden.
In Algerien verbrannte sich nach Medienberichten ebenfalls mindestens ein Mensch aus Protest selbst. Bereits seit Tagen verfolgen die algerischen Zeitungen die Entwicklungen in Tunesien mit großer Sympathie. Die algerische Zeitung Liberté schreibt auf ihrer Webseite von der Furcht der arabischen Regime vor einem „Dominoeffekt“.
Scharf kritisiert wird in Gesprächen mit Tunesiern die Haltung Frankreichs während der Proteste. Frankreich habe nicht angemessen reagiert. Ja, so erzählen viele Tunesier, es habe sich bis zuletzt nicht eindeutig von Ben Alis distanziert. Diese Kritik erhob auch die französische Tageszeitung Le Monde und ist auch auf algerischen Webseiten zu lesen. Gelobt wird durch in Gesprächen mit einigen Tunesiern die Haltung der USA, Großbritanniens und Deutschlands. Allerdings steigen nun auch die Erwartungen: die Tunesier erwarten nun Hilfe, um die Früchte des politischen Wandel zu ernten.