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Argentiniens ungewisse Zukunft

Die Polarisierung der argentinischen Gesellschaft hat sich in den letzten Monaten massiv verschärft. Eine Rückkehr des Populismus, verkörpert durch die ehemalige Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner, kann nicht ausgeschlossen werden.

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“Ungewissheit” ist das Stichwort, mit dem ein Großteil der argentinischen Bevölkerung das Superwahljahr 2019 beschreibt. Sie wird den Staatspräsidenten, ein Drittel des nationalen Senats und die Hälfte des nationalen Abgeordnetenhauses Ende Oktober neu wählen. Verteilt über das gesamte Jahr finden 23 Gouverneurswahlen statt. Provinzabgeordnete in fast allen Provinzen des Landes sowie Bürgermeister und Stadträte stehen ebenfalls landesweit zur Wahl.

Rückkehr zum Populismus?

Fast alle Umfragen des Monats April zeigen das gleiche Bild: Fänden heute die Präsidentschaftswahlen in Argentinien statt, wäre Cristina Fernández de Kirchner (Unidad Ciudadana, kurz UC) die Gewinnerin. Laut Umfragen würden zirka 35 Prozent der Wähler für sie stimmen. An zweiter Stelle würde sich der amtierende Staatspräsident Mauricio Macri (Propuesta Republicana, kurz PRO) mit rund 30 Prozent der Stimmen positionieren. Bei einer Stichwahl zwischen Macri und Fernández de Kirchner gewänne die ehemalige Staatspräsidentin mit einem Abstand zwischen fünf und neun Prozentpunkten die Wahl. Relativierend zu den Ergebnissen der Umfragen muss jedoch betont werden, dass die Mehrheit der Argentinier ihre Wahlpräferenzen noch nicht klar definiert hat.

Warum hat sich im April 2019 das Blatt so massiv gegen Präsident Macri gewendet? Zu Beginn des Jahres hatten alle seriösen Wahlforschungsinstitute eine klare positive Tendenz für ihn gezeigt. Auch international wird die aktuelle Regierung sehr geschätzt, wie die zahlreichen Staatsbesuche sowie das Austragen des WTO- und G20-Gipfels in Argentinien deutlich machten. Auf dem internationalen Parkett wird die amtierende Regierung insbesondere für die Bemühungen zu internationalem Engagement nach mehr als einem Jahrzehnt politischer Isolierung, für das Öffnen der Wirtschaft und die damit verbundene Aufgabe der Devisenkontrollen, die erfolgreichen Verhandlungen mit den Hedgefonds, das Normalisieren der staatlichen Datenerhebungen sowie für das entschiedene Vorgehen gegen Korruption und unzulässige bzw. nicht haltbare Subventionen geschätzt.

Grund für den neuen Negativtrend ist die generalisierte Unzufriedenheit der (meist städtischen) Mittelschicht mit der amtierenden Regierung. Der idealtypische Wähler der Regierungspartei PRO ist der Mittelschicht zuzuordnen: Angestellte, Inhaber von Kleinunternehmen und Gewerben. Es sind genau die Wähler der Regierungspartei PRO, die von der seit 2018 andauernden gravierenden Wirtschaftskrise am härtesten getroffen wurden. Die Inflation erreichte im Vorjahr knapp 48 Prozent, im ersten Quartal des aktuellen Superwahljahres stieg sie bereits auf über zwölf Prozent. Dies zog die Kaufkraft der Argentinier massiv in Mitleidenschaft. Die Gehälter der Bürger der Mittelschicht reichen längst nicht mehr aus, um ohne Kredite die Grundbedürfnisse zu decken. Auch der Lebensstandard kann schon lange nicht mehr gehalten werden. Jeder dritte Argentinier lebt laut Berechnungen des Instituts ODSA der Katholischen Universität Argentiniens und des staatlichen Statistikinstituts INDEC unter der Armutsgrenze, die meisten davon Vertreter einer verarmten Mittelschicht. Diese Entwicklung verursachte eine enorme Frustration, die sich gegen die amtierende Regierung entlädt. Präsident Macris Negativwerte erreichen im April 2019 rund 84 Prozent - weit höher als die Negativwerte der ehemaligen Präsidentin Fernández de Kirchner (74 Prozent).

Unerfüllte Versprechen eines „Investitionsregens“ durch ausländische Unternehmen, einer Stabilisierung der Ökonomie, einer erfolgreichen Inflations- und Armutsbekämpfung sowie das Ausbleiben eines deutlichen Wirtschaftswachstums führten dazu, dass sich vermehrt inzwischen auch Wirtschaftsvertreter von der amtierenden Regierung abwenden. Laut einer Studie des renommierten Wirtschaftsforschungsinstituts FIEL schrumpfte die industrielle Produktion Argentiniens um zwölf Prozentpunkte. Ebenso verhielt es sich mit dem Bau- und Immobiliengewerbe (-9,5 bzw. -1,0 Punkte), dem Bergbau (-2,4 Punkte), den Finanzgeschäften (-3,7 Punkte), dem Tourismus (-3,0 Punkte), dem Handel (-13,5 Punkte), dem Transport und mit der Kommunikation (-4,9 Punkte). Lediglich die Landwirtschaft und Fischerei verzeichneten der staatlichen Statistikbehörde INDEC zufolge zwischen dem letzten Quartal 2017 und 2018 ein Wachstum in der Höhe von 3,7 bzw. 14,0 Prozentpunkten.1 Im beobachteten Zeitraum verloren rund 259 Tausend Argentinier ihren Arbeitsplatz, was sich im Anstieg der Arbeitslosenrate von 7,2 auf 9,1 Prozent der beschäftigungsfähigen Bevölkerung widerspiegelt. Besonders Berufsanfänger sind hiervon betroffen.² Hart trifft die andauernde Krise auch die mittelständischen Unternehmen, die bei einem Zinssatz von 60 bis 70 Prozent nicht mehr in der Lage sind, Kredite aufzunehmen und die hohen Produktionskosten, Steuern und Abgaben zu bezahlen.

Argentinien ist im internationalen Vergleich eines der Länder mit dem höchsten Steuerdruck. Eine von der Regierung kurzfristig beschlossene Einfrierung der Preise der Güter des alltäglichen Gebrauchs zwischen Ende April und Anfang Oktober 2019, die die Unzufriedenheit der Mittelschicht beschwichtigen soll, werde laut Wirtschaftsexperten voraussichtlich zu ersten Engpässen in der Versorgungskette führen. Hiervon betroffen sind Grundnahrungsmittel wie Milcherzeugnisse und günstige Fleischschnitte sowie Hygieneartikel bestimmter Marken. Die Supermarktregale werden trotz Rationierung (in der Regel drei Stück eines Produkts pro Kunde) schnell nach Lieferung derselben ausverkauft sein. Dieses Bild ist den Argentiniern nicht fremd: Fernández de Kirchner fixierte während ihrer Amtszeit aus populistischen Gründen ebenfalls die Preise. Konsequenz davon waren massive Engpässe bei der Versorgung der Warenhäuser.

Was lief wirtschaftspolitisch falsch? Ausländische Märkte verfolgten mit Skepsis das Aufnehmen des Standby-Kredits beim Internationalen Währungsfond zum Ausgleich des Haushaltsdefizits – Produkt der aufgeblähten staatlichen Strukturen - und das Scheitern der Arbeitsrechtsreform aufgrund des Widerstands der argentinischen Gewerkschaften und der Opposition. Die Wiedereinführung der Exportsteuer, die die Regierung zunächst abgeschafft hatte sowie die Preisfixierungen der Güter des alltäglichen Gebrauchs werden ebenfalls als konfuse Signale einer eigentlich als wirtschaftsliberal geltenden Regierung betrachtet. Der daraus resultierende Vertrauensverlust der internationalem Märkte und Investoren und die damit einhergehende Abwanderung der Finanzanleger in den US-amerikanischen Finanzmarkt – unter anderem Resultat der angehobenen Zinssätze der US-amerikanischen Staatsanleihen - führte zu einer Abwertung des argentinischen Pesos um mehr als 100 Prozent innerhalb eines Jahres. Ausschlaggebend hierfür war, dass die ausländischen Finanzanleger zahlreiche argentinische Schuldscheine zurückgaben. Die argentinische Wirtschaft, die vor allem Primärprodukte ins Ausland exportiert, ist besonders anfällig für Wechselkursschwankungen. Eine Abwertung des argentinischen Pesos überträgt sich daher direkt auf die Preise. Die verheerende Dürre im vergangenen Jahr verschärfte die Situation zusätzlich.

[1]https://www.indec.gob.ar/uploads/informesdeprensa/pib_03_19.pdf, S.5

[2]https://www.indec.gob.ar/uploads/informesdeprensa/mercado_trabajo_eph_4trim18.pdf, S.6

Die Krise der Regierungspartei PRO

Unmittelbar nach Bekanntgabe der (für die Regierungspartei PRO sehr erfreulichen) Wahlergebnisse der Mid-term Wahlen im Oktober 2017 kündigten hochrangige Vertreter des Regierungsbündnisses Cambiemos, zusammengesetzt aus den Parteien PRO, Unión Cívica Radical (kurz UCR) und Coalición Cívica (kurz CC), das nächste Ziel an: Man strebe bei den Wahlen 2019 nicht nur nach der Wiederwahl des Präsidenten, sondern auch danach, die Anzahl der von Cambiemos regierten Provinzen von fünf auf mindestens zehn zu verdoppeln. Die Partei PRO solle bei diesem Prozess eine entscheidende Rolle spielen. Zwei Jahre nach den Mid-term Wahlen konnten diese Prognosen nicht ansatzweise erreicht werden. Im Gegenteil: PRO büßte immer mehr Wahlkreise bei den bisherigen Vor- und Provinzwahlen ein. Bei den Wahlen in den Provinzen Neuquén und Río Negro fuhren die Kandidaten des Regierungsbündnisses mit 5,66 und 15,24 Prozent der Stimmen ein sehr schlechtes Ergebnis ein. Auch bei den Vorwahlen in Santa Fe, die als Seismograph für die Provinzwahlen am 16. Juni gelten, erreichte der Kandidat der Regierungsallianz Cambiemos nicht einmal ein Fünftel der Wählerstimmen und lag knapp zehn Punkte hinter dem Kandidaten des Peronismus und zwölf Punkte hinter dem Spitzenkandidaten des Sozialismus. Für die Gouverneurswahlen am 12. Mai in Córdoba wird eine Wiederwahl des aktuellen Mandatsträgers, dem gemäßigten Peronisten Juan Schiaretti, mit bis zu 60 Prozent prognostiziert. Cambiemos konnte sich auf keinen Kandidaten für die Wahlen einigen, weswegen zwei Kandidaten des PRO-Bündnispartners UCR gegeneinander antreten werden. Córdoba ist neben Buenos Aires und Santa Fe eine der wichtigsten Provinzen hinsichtlich der Anzahl der Wählerstimmen.

Der dritte Weg

In den Umfragen noch weit abgeschlagen (an dritter Stelle mit zirka 13 Prozent - Tendenz steigend), liegt der mögliche „Shooting Star“ des Wahlkampfes 2019, Roberto Lavagna. Mit seinen 77 Jahren blickt der gemäßigte Peronist auf eine lange politische Karriere zurück (er war Wirtschaftsminister von 2001 bis 2005 und Präsidentschaftskandidat im Jahr 2007). Während seiner Amtszeit als Wirtschaftsminister erlebte Argentinien einen kurzfristigen Wirtschaftsaufschwung. Lavagnas Fachwissen und unprätentiöses Auftreten wird von Vertretern aller politischen Kräfte geschätzt. Er wird nicht selten in den Medien als „Adenauer Argentiniens“ beschrieben, in Anlehnung an Konrad Adenauers Wahl zum Bundeskanzler im Alter von 73 Jahren. Lavagnas politische Positionierung als Befürworter einer Marktwirtschaft mit sozialem Antlitz und eines Konsens mit den gemäßigten Kräften der politischen Mitte, unter Ausschluss des linkspopulistischen Kirchnerismus, bekräftigen die Parallelen zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik. Noch bleiben viele Fragen in Bezug auf Lavagnas Kandidatur offen. Bis heute lehnt er es ab, im Rahmen einer Vorwahl gegen andere Kandidaten des gemäßigten Peronismus anzutreten. Sein Argument: eine Vorwahl würde eine Konsensbildung erschweren. Roberto Lavagna hat seine Kandidatur bisher noch nicht offiziell bekannt gegeben. Viele Wähler der politischen Mitte haben ihn daher noch nicht als Kandidaten wahrgenommen.

Fazit

Die Strategie der aktuellen Regierung, sich zunächst bei den Mid-term Wahlen 2017 im Amt bestätigen zu lassen, um dann aktiv strukturelle Reformen anzugehen, scheint nicht aufzugehen. Der versprochene Wandel der politischen Kultur und das Erfüllen der ursprünglichen Wahlversprechen dauern zu lange, die Zwischenergebnisse der langfristigen Ziele werden nicht klar genug kommuniziert und die Auswirkungen der hohen Staatsverschuldung, Anfälligkeit der Landeswährung für Wechselkursschwankungen und die damit verbundenen Preiserhöhungen sorgen für Unsicherheit bei den Investoren und Frustration innerhalb der Bevölkerung. Auch wenn Präsident Macri als erstes nicht peronistisches Staatsoberhaupt der letzten siebzig Jahre voraussichtlich sein Mandat innerhalb des von der argentinischen Verfassung vorgesehenen Zeitraums beenden wird (Präsident Alfonsín und De la Rúa beendeten ihre Amtszeit aufgrund wirtschaftspolitischer Probleme vorzeitig), scheint sein Mandat im Zeichen einer verpassten historischen Chance zu stehen. Das argentinische Volk stimmte 2015 eindeutig für einen Wandel der politischen Kultur und bestätigte ihn in den Mid-term Wahlen 2017. Im Gegensatz hierzu steht das Superwahljahr 2019 unter dem Stern der Ungewissheit, insbesondere was die politische Ausrichtung nach den Präsidentschaftswahlen anbelangt. Ein Sieg Fernández de Kirchners würde eine Rückkehr zum Linkspopulismus bedeuten. Innerhalb der Regierungsallianz Cambiemos wird intern über die mögliche Kandidatur der beliebtesten Politikerin des Landes, der Gouverneurin der Provinz Buenos Aires María Eugenia Vidal (PRO) debattiert, obwohl Mauricio Macri offiziell weiterhin als Kandidat des Regierungsbündnisses gilt. Vidal könnte das aktuelle Wahlszenario verändern. Bisher lehnte sie öffentlich eine Kandidatur für die Präsidentschaft trotz immer lauter werdenden Stimmen nach einem „Plan V“ (in Anlehnung an den Anfangsbuchstaben ihres Nachnamens) vehement ab. Bis Mitte Juni müssen die Parteien ihre Kandidaten bei der Wahlkommission anmelden.

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Kontakt

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Annette Schwarzbauer bild

Leiterin des Auslandsbüros Venezuela

annette.schwarzbauer@kas.de

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