Izvještaji iz zemalja
Historisch belastete polnisch-russische Beziehungen
Die polnisch-russischen Beziehungen sind aufgrund zahlreicher kriegerischer Auseinandersetzungen bereits seit der Mitte des 16. Jahrhunderts von Misstrauen geprägt. Im Jahr 1795 erfolgte die endgültige Auflösung der Ersten Polnischen Republik (Polnisch-Litauische Adelsrepublik) durch Preußen, die Habsburgermonarchie und das Russische Kaiserreich. Jene Großmächte ließen daraufhin für 123 Jahre kein weiteres polnisches Staatskonstrukt zu. Nur ein Jahr nach der 1918 erfolgten Gründung der Zweiten Polnischen Republik fand diese sich wiederum im Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1919 bis 1921 wieder. Dessen historische Relevanz wurde erneut am 15. August dieses Jahres deutlich, als der ukrainische Staatspräsident, Wolodymyr Selenskyj, Polen zum Jahrestag der siegreichen Schlacht bei Warschau gratulierte. Die nur 21 Jahre nach Staatsgründung erfolgte Aufteilung der Zweiten Polnischen Republik im September 1939, vor dem Hintergrund des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts, prägt die gesellschaftliche Erinnerung und die Geschichtspolitik im heutigen Polen maßgeblich. Massenerschießungen polnischer Offiziere in Katyn, die unterlassene Hilfeleistung sowjetischer Truppen im Rahmen des Warschauer Aufstands und die weit über das Kriegsende hinausgehende Entwaffnung, Kriminalisierung und Verfolgung polnischer Freiheitskämpfer sind Sinnbilder des sowjetischen – für viele Polen hauptsächlich des russischen – Beitrags zur Unterdrückung der polnischen Nation während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die überwiegende Mehrheit der heutigen Polen sieht auch die folgende sozialistische Volksrepublik Polen als repressiven Staat unter sowjetischer Vormundschaft an. Die aktuellen Beziehungen zwischen der 1989 gegründeten, souveränen Dritten Polnischen Republik und der Russischen Föderation als geopolitischer Nachfolgerin der UdSSR sind jedoch nicht nur aufgrund der gemeinsamen Geschichte vor der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts stark belastet. Auch infolge der russischen Außenpolitik, dem Fehlen einer reflektierten Geschichtsaufarbeitung und mehr noch durch geschichtsrevisionistische, imperialistisch-chauvinistische Politikentwürfe seitens der Russischen Föderation, wurde ein gutes Verhältnis erschwert. Bis Februar 2022 von Staaten Westeuropas oft als zu sensibel belächelt, erwiesen sich unter anderem die polnischen und baltischen Sorgen vor expansionistischen Ansprüchen Russlands als real. Eben diese schon früh artikulierten Warnungen machten Polen zu einem der Hauptziele inmitten der von der russischen Propagandastrategie als primären Widersachern auserkorenen NATO, EU und USA. Die vom russischen Regime orchestrierten Desinformationskampagnen zielen darauf ab, Polen und den Westen als aggressive Kriegstreiber darzustellen, welche Russland keine andere Wahl ließen, als die Ukraine anzugreifen.
Die russische Darstellung einer polnischen Bedrohung
Spätestens seit dem Inkrafttreten des von der russischen Regierung verabschiedeten Gesetzespaketes zur Tätigkeit in- und ausländischer Medien am 4. März 2022, entschieden beinahe alle unabhängigen Medienschaffenden in Russland, ihre Tätigkeiten einzustellen oder diese aus dem Ausland fortzuführen, um der sukzessive eingeschränkten Pressefreiheit und verbundener Strafverfolgung zu entgehen. Somit ist die russische Medienlandschaft derzeit überwiegend von Staatsmedien geprägt und unfrei. Hierbei stellt neben staatlichen Nachrichtenagenturen wie RIA Novosti, TASS, Sputnik und Russia Today mit Internetauftritt und Printausgaben, das Fernsehen die Hauptinformationsquelle für die Mehrheit der Bevölkerung Russlands dar. Insbesondere der „Erste Kanal“ (Perwy Kanal) kann als bedeutsames Werkzeug zur politischen Kommunikation des Kremls betrachtet werden. Neben den üblichen Nachrichtensendungen gelten TV-Talkshows als wichtigstes Propagandainstrument in Russland. Gemeinsam füllen diese zurzeit einen Sendungszeitraum von beinahe zwölf Stunden pro Tag aus, in welchen das bereits seit 2014 behandelte Schlüsselthema der Ukraine vermehrt in den Fokus gerückt wird. Inhaltlich wertvolle Auseinandersetzungen zwischen den geladenen Gästen finden hier selten statt. Hauptsächlich wird durch Emotionalisierung und Scheindebatten versucht, Unterstützung für den Angriff auf die Ukraine zu generieren, der in Russland euphemistisch als „militärische Spezialoperation“ verklärt wird.
Neben der Diffamierung und Veröffentlichung von Falschnachrichten über die Ukraine, werden auch irreführende Deutungen über ihre Unterstützer verbreitet. So wird Polen in Fernsehsendungen, Printmedien sowie offiziellen Stellungnahmen von politischen sowie diplomatischen Vertretern Russlands als Musterbeispiel eines aggressiven, Russophobie fördernden Landes dargestellt, welches seine starke Militarisierung nur durch eine erfundene, nicht-existente russische Bedrohung rechtfertigt. Im Rahmen des Vorwurfs einer „pathologischen Russophobie“ Polens verwies der russische Außenminister Sergej Lawrow beispielsweise auf die Ereignisse des 9. Mai 2022 in Warschau. An diesem, in der postsowjetischen Region als gesetzlicher Feiertag begangenen „Tag des Sieges“ über das Dritte Reich, übergossen pro-ukrainische Aktivisten während einer Kranzniederlegung auf dem Friedhof der sowjetischen Soldaten in Warschau den russischen Botschafter in Polen mit roter Farbe und forderten ein Ende der Kriegshandlungen in der Ukraine. Neben Lawrow instrumentalisierte auch die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, diesen Vorfall in ihrer Aussage, „die Bewunderer des Neonazismus [hätten] wieder ihr Gesicht gezeigt“.
Weiterhin formulieren Lawrow und russische Diplomaten in Warschau in zahlreichen Stellungnahmen[1], Polen würde als faschistisches und russlandfeindliches Regime russische Gedenkobjekte in Polen schänden. Dieser Vorwurf wurde bereits vor dem Angriff im Februar 2022 vermehrt geäußert. Tatsächlich existiert ein verbindliches, polnisch-russisches Abkommen über Gräber und Gedenkstätten zum Gedenken an die Opfer von Krieg und Unterdrückung, welchem zufolge sich Polen verpflichtete, die Grabstätten gefallener sowjetischer Soldaten respektvoll instand zu halten. Polen sieht seine Pflicht jedoch lediglich auf besagte Grabstätten beschränkt, während Russland fordert, alle sowjetischen Mahnmale in Polen zu schützen. Seit dem 2016 eingeführten, polnischen Gesetz zur Entfernung totalitärer Symbole werden vermehrt Statuen sowjetischer Soldaten mit Bajonetten sowie Denkmäler mit sowjetkommunistischer Symbolik demontiert, woraufhin russische Medien von undankbaren, imperialistischen Polen berichten.
Auch das in Südpolen ansässige Museum Auschwitz-Birkenau wurde im Juni 2022 Instrument des russischen Versuchs, Polen zu diskreditieren. So waren unter anderem die offiziellen Twitter-Accounts des russischen Außenministeriums und der Delegation der Russischen Föderation für militärische Sicherheit und Rüstungskontrolle bei der OSZE in Wien an der Weiterverbreitung von manipulierten Fotos beteiligt. Diese zeigten fälschlicherweise antirussische Aufkleber, welche um die Gedenkstätte herum angebracht worden seien. Ihre geschmacklose Aufschrift: „Russland und Russen: das einzige Gas, das Sie und Ihr Land verdienen, ist Zyklon B“.
Die russischen Unterstellungen, Polen würde faschistisch und russophob handeln, münden in der Konstruktion der verschwörungsideologischen Erzählung, Polen wolle die Erste Polnische Republik (Polnisch-Litauische Adelsrepublik) wiederherstellen. Solche imperialistischen Ambitionen würden folglich zu Territorialansprüchen gegenüber den gesamten Gebieten der heutigen Staaten Belarus, Lettland, Litauen, einem großen Teil der Ukraine sowie geringeren Teilen der Republik Moldau, Russlands, Estlands und Rumäniens führen. So warnte der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko vor einer polnischen Bedrohung für sein Land. Auch Medienschaffende in Belarus und Russland verbreiten die Sorge, das polnische Establishment sähe Belarus als verlorenes Land im Osten an, welches durch NATO-Truppen, die USA und Warschau ausgebildete, terroristische, belarussische Oppositionelle (als „Nazi-Einheiten“ diffamiert) zurückerobert werden müsse.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow fördert diese Sorgen, indem er Polen fälschlicherweise bezichtigt[2], ein polnisches Protektorat auf dem Gebiet der Westukraine erschaffen zu wollen. Sogenannte Experten im Staatsfernsehen greifen diesen Gedanken auf und mutmaßen, dass dies nur ein kleiner Schritt auf dem Weg zum globalen Aufteilungsversuch der Russischen Föderation unter der Schirmherrschaft der USA sei. Auch die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, verkündete, dass „Warschau (…) möglicherweise Pläne für eine schleichende Expansion in den Nachbarstaat“ schmiede. Weitere Falschnachrichten diesbezüglich deuteten den Besuch des polnischen Präsidenten Andrzej Duda in Kyjiw am 22. Mai 2022 insofern um, als dass dieser als Beweis dafür gesehen werden konnte, dass der sogenannte „kollektive Westen“ eine Umwandlung des von der Ukraine kontrollierten Territoriums in ein polnisches Protektorat vorbereite und Warschau eine de-facto-Kontrolle über wichtige staatliche Funktionen und Institutionen einfordere. So würde das vermeintlich nazistische Kyjiwer Regime das ukrainische Volk zu mittelalterlichen polnischen Sklaven machen und die Wahrscheinlichkeit der Eröffnung einer zweiten Front gegen Belarus erhöhen. Folglich sei in diesem Narrativ lediglich Russland durch seine „militärische Spezialoperation“ in der Lage, die Ukrainer vor ihrem verbrecherischen Regime zu bewahren.
Hinsichtlich des vermeintlich an Ostgebieten interessierten Polens nehmen die NATO und die USA in diesem Narrativ die Rolle des ausbeutenden Marionettenspielers ein. So sollen sie aus den polnischen Ambitionen einen Nutzen für die eigenen angelsächsischen Interessen der Schwächung der Europäischen Union sowie der Vernichtung der Russischen Föderation ziehen. Dieser kremlfreundlichen Erzählung eines imperialistischen Polens wird nicht nur innerhalb Russlands und Belarus‘ propagiert, sondern ist auch in ausgewählten, russlandfreundlichen, in Europa publizierenden, Quellen zu lesen. Der Ausgestaltung und gezielten Verbreitung dieser Narration liegen zwei Ziele zugrunde.
Erstens kann davon ausgegangen werden, dass neben der Bindung russlandfreundlicher Kräfte im Ausland vor allem eine Verunsicherung und Spaltung der – hier vor allem ost-mittel-europäischen – Staaten der westlichen Wertegemeinschaft erzeugt werden soll.
Zweitens liegt die Vermutung nahe, dass dieses Narrativ polnischer Russophobie, imperialistischer Ansprüche und resultierender militärischer Aufrüstung neben der wiederholten Legitimation des Angriffs auf die Ukraine, insbesondere für die Rechtfertigung einer steigenden Militärpräsenz in der russischen Exklave der Oblast Kaliningrad und im schlimmsten Fall eines weiteren Überfalls auf Polen oder die baltischen Staaten verwendet wird.
Warschau als Adressat imperialistischer Drohgebärden aus Moskau
Durch die Berichterstattung in Russland zieht sich ein auffällig ambivalentes Selbstverständnis. So wird die Russische Föderation unter Führung Wladimir Putins häufig als missverstandener, defensiver, teilweise sogar streitschlichtender Teilnehmer im Spannungsfeld geopolitischer Machtkämpfe dargestellt. Ein Spannungsfeld, welches durch „westliche Dekadenz“, „satanische LGBT-Ideologie“, „Russophobie“ sowie Gier nach Macht und Einfluss hervorgerufen wird. Zunehmend wird jedoch ein widersprüchliches Bild bezüglich der russischen Rolle im politischen Weltgeschehen gezeichnet, demzufolge Russland ein standhaftes, unerschütterliches Imperium darstellt, das eben jenen westlichen Aggressionen in Form von Sanktionen und angeblich orchestrierten Umsturzversuchen in Osteuropa trotzen könne. Dies wurde insbesondere am 9. Juni 2022 deutlich, einem Tag, an dem in Russland Feierlichkeiten zum 350. Geburtstag des Zaren Peter des Großen abgehalten wurden. Hierbei bezog sich der russische Staatspräsident, Wladimir Putin, auf das imperialistische Vermächtnis des Zaren und konstatierte, er würde wie der Zar Gebiete nicht erobern, sondern befreien und im Rahmen der Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges von 1941-1945 „zurückholen“. Resultierend stellt sich die Frage, wie weit über die Ukraine hinaus die Putin zufolge zurückzuerobernden Gebiete reichen. Einen Anhaltspunkt hierfür geben die Aussagen des kürzlich verstorbenen, antisemitischen und rechtsextremen Staatsduma-Abgeordneten Wladimir Schirinowski, dessen Tod Putin in einer öffentlichen Konferenz bedauerte. Er zeigte sich hierbei anerkennend: Schirinowskis außenpolitische Standpunkte würden auf großer Expertise beruhen und von ihm hoch geschätzt. Wiederholt stellte Schirinowski Territorialansprüche an die baltischen Staaten, welche „unbedingt [von Russland und Belarus] okkupiert und zerstört werden“ müssten. Außerdem sprach er schon weit vor 2022 von der Notwendigkeit einer Eroberung der Ukraine, welche sich nicht nur auf den Donbass beschränken, sondern auch auf Odessa, Kyjiw, Charkiw und die Krim ausweiten sollte. Neben Schirinowskis Aussagen sind auch die Ideen Alexander Dugins zu nennen, dessen Tochter Darja Dugina am 20. August durch einen Anschlag ermordet wurde. Dugin gilt als ultranationalistischer, zum Teil als Neofaschist bezeichneter, Vertreter eines eurasischen Imperialismus unter der Hegemonialmacht Russlands. Teils als „Einflüsterer Putins“ bezeichnet, ist sein tatsächlicher Einfluss umstritten, das Gewicht seiner Aussagen im (vor-)politischen Raum sollte jedoch nicht unterschätzt werden.
Auf dem staatlichen Fernsehsender Rossiya 1 wird ebenso das Bild des starken, seine Landesgrenzen verschiebenden Russlands gezeichnet. So etwa im TV-Format „60 Minuten“, das von Olga Skabajewa und Jewgeni Popov (zusätzlich als Staatsduma-Abgeordneter tätig) moderiert wird. Das Ehepaar und zahlreiche Gäste bestreiten hierbei seit Jahren die Souveränität und das Existenzrecht der Ukraine. Die radikalen Äußerungen der Gäste erlauben es, den Diskursrahmen in der breiten, russischen Öffentlichkeit weiter auszudehnen und Optionen für außenpolitische Handlungen zu unterbreiten, deren bloße Nennung vor einigen Jahren noch nicht möglich gewesen wäre. So sprachen sich Gäste wie Oleg Morosow, Professor und Staatsduma-Abgeordneter, für die Entführung und Geiselnahme eines hochrangigen NATO-Vertreters aus. Der Sekretär des Sicherheitsrates von Tschetschenien, Apti Alaudinov und der Präsident der autonomen Republik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, äußerten jeweils den Willen, nach der Eroberung Kyjiws auch Warschau, Berlin und ganz Europa von den „satanischen Werten des Westens“ zu befreien, sollte Putin sie nicht daran hindern. Auch Aleksej Schurawljow, Staatsduma-Abgeordneter, leugnete in der Sendung die Existenz einer ukrainischen Identität und Kultur und warb für eine Vernichtung von 5% der ukrainischen Bevölkerung (somit von über zwei Millionen Menschen) im Rahmen der Denazifizierung, da diese „unheilbar“ seien. Aussagen wie diese finden von der Moderation weder eine kritische Einordnung noch Widerspruch. Im Gegenteil: Skabajewa selbst gilt als radikale Befürworterin solcher Vorschläge und vermerkte drohend, dass wegen „arroganter Idioten“ wie des heutigen polnischen Regierungschefs Mateusz Morawiecki „Polen mehrmals aufhörte zu existieren“. Ankündigungen eines russischen Einmarsches nach Warschau gehören zu den üblichen Drohgebärden Skabajewas.
„60 Minuten“ ist jedoch nur eine Sendung von vielen. Der 2013 von Putin mit dem staatlichen „Orden der Ehre“ ausgezeichnete, wohl beliebteste kremlfreundliche Propagandist, Wladimir
Solowjow, moderiert mehrere quotenstarke, von Millionen verfolgte Radio- und Fernsehsendungen. Seine Gäste formulieren immer wieder unwidersprochen,, dass nach der Ukraine sowohl das Baltikum als auch Polen angegriffen und „denazifiziert“ werden müssten (Dmitry Drobnitsky, russischer Politikwissenschaftler), dass sozialdarwinistische Umerziehungsmethoden, Sterilisierungen und Konzentrationslager gegen Gegner des Angriffskrieges einzuführen seien (Karen Schachnasarow, Generaldirektor der bekanntesten russischen Filmgesellschaft Mosfilm) und dass ein „sicherer Korridor“ nur sicher sei, wenn auch Staatsgebiete von Polen und den baltischen Staaten zu Russland und Belarus gehören würden (Andrey Gurulyov, Staatsduma-Abgeordneter). Solowjow selbst sagte: „Wenn Sie glauben, dass wir in der Ukraine anhalten, denken Sie dreihundertmal nach. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Ukraine nur ein Übergangselement bei der Gewährleistung der strategischen Sicherheit der Russischen Föderation ist“.
Die russische Einflussnahme auf polnisch-ukrainische Beziehungen
Im Vergleich zur bisher beschriebenen Berichterstattung im russischen Inland, beinhalten propagandistische Narrative im Ausland eine weniger martialische Rhetorik. An das Ausland gerichtete Desinformationen verfolgen das Ziel, die Adressaten dazu zu motivieren, russische Standpunkte zu verbreiten sowie Gegenspieler Russlands militärischer, geopolitischer und ideologischer Art zu diskreditieren sowie innenpolitisch zu schwächen. Die vom russischen Staat finanzierten Sender Russia Today und Sputnik werden hierfür als Werkzeuge der internationalen Desinformationskampagne des Kremls genutzt. Russia Today verfügt über ein Netzwerk von acht Fernsehkanälen in sechs Sprachen mit über einer Milliarde Aufrufe auf YouTube, während Sputnik "Nachrichten"-Webseiten in 30 Sprachen betreibt. Da das polnische Selbstbestimmungsrecht schon oft von russischer Seite in Frage gestellt wurde, gelten die Polen im Vergleich zu beispielsweise deutschen Empfängern als wenig anfällige Adressaten russischer, imperialistischer Erzählungen. Aus diesem Grund werden zur Einflussnahme in Polen besondere Narrationen genutzt.
So wird in Polen beispielsweise zunehmend verbreitet, Polen würde von seinen westlichen Partnern entmündigt sowie lediglich zur Anstiftung zu Provokationen gegenüber Russland eingesetzt werden. Diese Erzählung einer Ausnutzung und Objektifizierung mittel-ost-europäischer Staaten seitens westlicher Großmächte innerhalb der internationalen Beziehungen trifft den wunden Punkt der gesellschaftspolitischen Debatte in Polen, welche sich um die polnische Stellung innerhalb der Europäischen Union und damit korrelierender Abtretung nationaler Souveränitätsrechte dreht. Auch Dmitri Medwedew (russischer Staatspräsident von 2008-2012, Ministerpräsident bis 2020, Vorsitzender der Partei „Einiges Russland“ und stellvertretender Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation) bezeichnete im März 2022 auf seinem Telegram-Kanal (beinahe 700.000 Follower, viele seiner Beiträge verzeichnen mehrere Millionen Aufrufe) polnische Politiker als „unfähige Vasallen“ Washingtons, die die Befehle einer amerikanischen Elite ausführen würden. Die Vermutung liegt nahe, dass ein russischer Einfluss auf den polnischen Diskurs über diese Debatte besonders effektiv sein könnte, da die polnische Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ in großem Maße vor einer westeuropäisch-amerikanischen Hegemonie warnt, welche polnische Staatsstrukturen vermeintlich untergrabe.
Anknüpfend versuchen – wie auch in Deutschland und weiteren unterstützenden Staaten der Ukraine – kremlfreundliche Sprachrohre, die polnischen Unterstützungsmaßnahmen zur ukrainischen Verteidigung durch die Methode der Täter-Opfer-Umkehr zu dämpfen. Dieser zufolge würden die Polen die Verantwortung für einen von ihnen provozierten, dritten Weltkrieg und eine nukleare Vernichtung tragen, sollten sie die Ukraine nicht ihrem Schicksal überlassen. Hierbei wird auch auf die geografische Lage und einhergehenden Sicherheitsbedenken vieler Polen verwiesen, um diese auf eine Einstellung von Unterstützungsmaßnahmen zur Verteidigung der Ukraine zu drängen.
Das Anheizen historischer Antagonismen identifizierten die Verantwortlichen für die russische Desinformationsstrategie ebenfalls als potentiell effektive Methode in Polen, um Ängste bezüglich polnisch-ukrainischer Konflikte zu wecken und die seit Jahren zunehmenden Versöhnungsversuche beider Seiten zu untergraben. Dieses russische Propagandamodell zielt darauf ab, die gegenseitige Wahrnehmung der polnischen und ukrainischen Gesellschaften zu verzerren. Konkret soll auch mithilfe dieser Strategie erreicht werden, dass
polnische Bürger die Rolle Polens als militärischer und humanitär herausragender Unterstützer der Ukraine hinterfragen, während die ukrainischen Bürger der polnischen Hilfe misstrauen und sich von Polen abwenden sollen. Hierfür wird auf eine polnisch-ukrainische Rivalität, welche ihren tragischen Höhepunkt im Jahr 1943 fand, verwiesen: Nach dem Zerfall des Habsburger Reiches, den Territorialverlusten des deutschen Kaiserreichs zum Ende des Ersten Weltkriegs und resultierenden Konflikten um verschiedenste Gebiete in Ost-Mittel-Europa, beanspruchten sowohl das 1918 wiedergegründete Polen als auch die neu ausgerufene ukrainische Volksrepublik die genannten Regionen als Teile ihrer Nationalstaaten. Nachdem sich Polen durchsetzen konnte, wurden viele Ukrainer zu einer unterdrückten Minderheit im damaligen polnischen Staat in der heutigen Westukraine. Anhaltende Kämpfe zwischen Polen und Ukrainern mündeten ab der Hälfte des Zweiten Weltkrieges im Massaker von Wolhynien und Ostgalizien, in welchen die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) als militärische Formation der faschistischen, antisemitischen, antipolnischen und antirussischen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) in Wolhynien und Ostgalizien bis zu 70.000 Polen ermordete. Darauffolgenden Racheaktionen seitens der polnischen Heimatarmee an der ukrainischen Zivilbevölkerung fielen bis zu 15.000 Menschen zum Opfer.
Die russische Propaganda versucht, mit gezieltem Framing die stark umstrittenen Organisationen UPA, OUN und deren bekanntesten Vertreter, Stepan Bandera, als Beweise für den hartnäckig verbreiteten Mythos einer modernen, faschistischen Ukraine zu missbrauchen. So wurde die seit 2014 wiederholte Verwendung des Neologismus „Banderowcy“ in Anlehnung an den nationalistischen, in Polen zum Kriegsverbrecher verurteilten Stepan Bandera, erfolgreich im öffentlichen Sprachgebrauch etabliert. Die Zuschreibung, zu den Unterstützern Banderas, also zu den „Banderowcy“ zu gehören, wurde seither auch jedem Akteur, der den modernen ukrainischen Nationalstaat verteidigen möchte, unterstellt. Der Begriff „Upaine“, eine Verbindung des ukrainischen Staatsbegriffs mit der das Massaker verübenden Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) scheiterte im Vergleich zu „Banderwocy“, zeigt jedoch erneut den Versuch, den Polen die ukrainischen Verbrechen dauerhaft vor Augen führen zu wollen, sodass mit heutigen Flüchtlingen aus der Ukraine in Polen misstrauisch umgegangen wird. Dieser Umstand, kombiniert mit den bereits erwähnten Falschnachrichten über polnische Expansionsambitionen nach Osten, soll so gleichzeitig gegensätzliche Ängste zwischen den Gesellschaften Polens und der Ukraine schüren.
Zu guter Letzt weiß Moskau hinsichtlich der Unterstützung für ukrainische Geflüchtete eine weitere, kontrovers diskutierte Debatte innerhalb der polnischen Bevölkerung für sich zu nutzen. So instrumentalisieren russische Medien die Tatsache der ethnischen und religiösen Homogenität des heutigen polnischen Staates und die - vor allem im ländlichen Polen - vorherrschende Angst vor nichteuropäischen Geflüchteten seit 2015. Hierbei werden nationalitätsunabhängige, flüchtlingsfeindliche Ressentiments bedient, beispielsweise dass billigere Arbeitskräfte und die erhöhte Anzahl wohnungssuchender Personen polnischen Bürgern ihrer Arbeitsplätze und bezahlbarer Wohnmöglichkeiten berauben. Jahrelange, fremdenfeindliche Warnungen und Negativassoziierungen Geflüchteter mit Terrorismus, Staatsverschuldung, ungerechtfertigten Privilegien sowie Krank- und Fremdheit seitens der polnischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ liefern den Nährboden, auf dem die russische Warnung vor in Polen ankommenden Ukrainern fußt. Jedoch können diese Warnungen selten an das lang konstruierte Feindbild rechter Kräfte in Polen anknüpfen, da auch die konservativsten Polen eine größere Identifikationsfläche mit den hauptsächlich europäischen, weiblichen und minderjährigen Geflüchteten aus der Ukraine teilen. So gaben noch im Mai dieses Jahres ca. 70% der Polen an, sich seit Kriegsausbruch ehrenamtlich für ukrainische Geflüchtete eingesetzt zu haben.
Fazit und Ausblick
Polen war das erste Land, das die Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 anerkannte und seither keinerlei imperiale Ambitionen gegenüber diesem und sonstigen Ländern hegt. Die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine werden darüber hinaus vom Großteil der globalen Staatengemeinschaft respektiert. Russland als wichtigste Ausnahme hat hingegen die territoriale Integrität der Ukraine verletzt. Sowohl Polen als auch weitere Länder wie Estland, Lettland, Litauen, Finnland und Georgien gelten als besondere Ziele der Propagandastrategie Russlands, da diese schon vor dem Angriff auf die Ukraine vor russischen Ausdehnungsversuchen warnten und auf die rhetorische Verschärfung in der Artikulation ihrer Ansprüche hinwiesen. Hierbei ist die Relevanz des Fernsehens als Massenmedium in Russland hervorzuheben. Schlussendlich bringt auch die Überschwemmung der polnischen Infosphäre mit pro-russischen und anti-ukrainischen Inhalten, insbesondere in digitalen Nachrichtenportalen sowie sozialen Netzwerken, ein gewisses Potential für steigende Spannungen zwischen Polen und Ukrainern mit sich. Nährboden könnte hier eine sich stark abkühlende wirtschaftliche Entwicklung in Polen sein.
Die Sensibilisierung für und die Bekämpfung der kremltreuen Desinformationsverbreitung in Polen ist daher notwendig. Dies ist vor allem durch weitere Anstrengungen zur Förderung polnisch-ukrainischer Beziehungen erreichbar, wobei ein genereller Verzicht auf flüchtlingsfeindliche Rhetorik – unabhängig vom Ursprungsland der Geflüchteten - seitens der polnischen Regierungspartei produktiv wäre. Zumindest was die Vertiefung der Beziehungen zwischen Kyjiw und Warschau betrifft, hat sich seit Februar bemerkenswertes entwickelt. Diese neue und begrüßenswerte Bruderschaft dürfte den Kreml noch lange beschäftigen.
[1] Exemplarisch am 28.03.2022: mid.ru/de/press_service/minister_speeches/1806841/
[2] Siehe mid.ru/de/press_service/minister_speeches/1805995/
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