Der historische Kontext
Der 13. Januar 1991 war ein Schritt auf Litauens langem Weg zu Freiheit und Unabhängigkeit. 1918 unterzeichnete der Litauische Staatsrat die Unabhängigkeitserklärung Litauens. Die erste Republik bestand jedoch nicht lang. Nur zwei Jahrzehnte später, während des Zweiten Weltkrieges, wurde Litauen entsprechend den Vereinbarungen des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 zunächst von der Sowjetunion (1940 – 1941), dann von Nazi-Deutschland (1941 – 1944) und schließlich wieder von den zurückkehrenden Sowjets besetzt. Der Krieg in Europa endete bald darauf, aber die Rote Armee verließ die baltischen Staaten nicht mehr.
Die Besetzung Litauens, Lettlands und Estlands währte fast ein halbes Jahrhundert. Die meisten westlichen Länder, auch die Bundesrepublik Deutschland, erkannten de jure die Eingliederung des Baltikums in die Sowjetunion niemals an. So akzeptierte West-Deutschland beispielsweise die Pässe der baltischen Staaten.[1] Bis 1965 leisteten rund 50.000 Partisanen (die „Waldbrüder“) in Litauen, Lettland und Estland militärischen Widerstand. Eine starke oppositionelle Untergrundbewegung hielt die Hoffnung auf Freiheit während der gesamten Dauer des Kalten Krieges wach. So war etwa die Chronik der Katholischen Kirche in Litauen die älteste und bekannteste Samisdat-Zeitschrift. Ihr besonderes Augenmerk galt der Verfolgung von Katholiken in Litauen und weiteren Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion. Am 11. März 1990 schließlich erklärte Litauen als erstes Land der UdSSR die Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit und konnte diese seither erhalten.
Einfach war die Aufgabe, die wiedererlangte staatliche Souveränität zu verteidigen, in den Jahren 1990 und 91 nicht. Moskau verhängte 1990 eine Wirtschaftsblockade, die Treibstoff- und Lebensmittelknappheit nach sich zog. Dazu blieben auch nach der Unabhängigkeitserklärung sowjetische Truppen in Litauen stationiert (die letzten Soldaten zogen erst 1993 ab). Und schließlich beharrte die sowjetische Führung darauf, dass die Erklärung der Unabhängigkeit illegal war. Deshalb mussten die Menschen im Land einmal mehr beweisen, dass sie frei vom sowjetischen Einfluss leben wollten.
Die Tragödie vom Januar
Anfang 1991 kam es zu dramatischen Ereignissen. Im Januar verließen die sowjetischen Truppen ihre litauischen Stützpunkte, um das Radio- und Fernsehgebäude, den Fernsehturm und das Parlament in Vilnius zu besetzen. Ziel der Besatzungstruppen war die Wiedererlangung der politischen Kontrolle. Aber ihnen standen tausende unbewaffneter Menschen gegenüber, die sich auf den Straßen versammelt hatten, um die wieder errichteten litauischen politischen und sonstigen Organisationen zu verteidigen.
An diesem Tag berichtete die New York Times, dass “von einem Lautsprecherwagen in der vorrückenden Artilleriekolonne das Dekret dröhnte: „Das Komitee der nationalen Rettung Litauens erklärt, dass alle Macht in der Republik in der Hand unseres Komitees liegt!“ ‚Es wird nicht lange dauern‘. Das Komitee war als neuer Arm der Kommunistischen Partei Litauens geschaffen worden, um der zehn Monate alten litauischen unabhängigen Regierung die Macht wieder zu entreißen. In der angespannten Situation am Samstag hatte es verkündet, es erwarte die Übernahme der Kontrolle, und deutlich auf seine enge Verbindung zu den Streitkräften Präsident Gorbatschows angespielt.“ [2]
Brutale Gewalt wurde eingesetzt. Das sowjetische Militär feuerte mit Manövermunition rund um den Fernsehturm und fügte den Menschen Schrapnel- und andere Verletzungen zu, aber diese wichen nicht. Dann fuhren die Panzer in die Menge, verletzten und zermalmten Menschen. In der Nähe des Gebäudes des Staatlichen Rundfunks wurde auf weitere Personen geschossen. Als die Nacht endete, waren 14 Menschen ihr Leben verloren. Aber die Angreifer scheiterten, denn es gelang den Menschen, das Parlamentsgebäude zu schützen. Das Militär wagte den Sturm auf das von einer großen Volksmenge und Betonbarrikaden umringte Gebäude nicht.
Vytautas Landsbergis, Präsident des Obersten Rates der Republik Litauen, war das erste Staatsoberhaupt des unabhängigen Litauen. Er musste sein Land durch diese schwierige Zeit führen und versuchen, die Freiheit zu verteidigen und gleichzeitig ein Blutbad zu verhindern. „Wir brauchten Zeugen, keine Opfer“, sagte ein Verteidiger des Parlaments.
Landsbergis gedachte der Ereignisse jener Tage im Januar und betonte, dass es sich um die Konfrontation zweier verschiedener Welten gehandelt habe. „Die eine bestand aus den zehntausenden litauischer Bürger, die sich an jenem Abend versammelt hatten. Sie hatten sich vorher nicht gekannt, aber sie hielten zusammen, in Liebe vereint, und blickten auf eine andere Welt. Diese andere Welt bestand aus fremden Soldaten, die finster in Reih und Glied standen, voll kaltem Hass nach unten blickend, die Augen voller Verachtung. […] Eindeutig erkennbar war nur ihr blinder Gehorsam. […].“[3]
Die Bedeutung
Litauens jährliches Gedenken zu Ehren derjenigen, die am Blutsonntag starben oder verletzt wurden, ist stets so bewegend wie feierlich. Die Tragödie berührte einerseits das Leben tausender Menschen. Sie zeigte aber auch die Verletzlichkeit der Unabhängigkeit Litauens – niemand konnte sicher sein, dass die Freiheit erhalten werden könnte. Noch immer werden an jedem 13. Januar überall in Litauen und in litauischen Gemeinschaften in der ganzen Welt Kerzen als Zeichen der Erinnerung entzündet.
Andererseits wird der 13. Januar im Lauf der Zeit auch als Tag des Sieges wahrgenommen.
Die Menschen in Litauen und in den anderen baltischen Staaten haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, ihre wiedergewonnene Eigenstaatlichkeit zu schützen. Ferner zerstörte die brutale Gewalt der Sowjets, über die ausländische Journalisten in der ganze Welt berichteten, jedwedes verbleibende Argument der sowjetischen Führung. Es war klar, dass die sowjetische Präsenz nicht willkommen war und dass, im Gegensatz zu den Behauptungen der Führer in Moskau, nicht nur eine Minderheit litauischer „Extremisten“ die Unabhängigkeit unterstützte.
Bis heute ist das Gedenken an den 13. Januar ein zentraler Konfliktpunkt in der Beziehung zwischen Litauen und Russland. Der damalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow bestreitet seine persönliche Verantwortung für die angewandte Gewalt. In einer Antwort an die Deutsche Welle sagte er: „Als Präsident der UdSSR ging es mir ausschließlich darum, mit allen politischen Mitteln die Einheit des Landes zu bewahren. Ich betone – nur politische Mittel. Wir waren gesprächsbereit. Es hätte genügt, wenn die litauische Führung ihre Unabhängigkeitserklärung außer Kraft gesetzt hätte. Ein Kompromiss war möglich, wurde aber abgelehnt.“[4]
Auch der Kreml akzeptiert die Verantwortung der sowjetischen Führung für das Blutbad nicht. Russland weigerte sich, Gorbatschow die Vorladung zur Zeugenaussage im Prozess um den Blutsonntag in Litauen zuzustellen. Dennoch verurteilte Litauen im März 2019 67 russische, belarussische und ukrainische Bürger wegen der in jener Nacht begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der frühere sowjetische Verteidigungsminister Dmitri Jasow, 94, wurde in Abwesenheit zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.[5]
Im Gegenzug eröffnete Russland ein Strafverfahren gegen die litauischen Staatsanwälte und Richter, die das Urteil gefällt hatten. Die russischen Ermittlungsbehörden erklärten, dass die litauischen Richter „wussten, dass die Ereignisse in Vilnius, für welche Bürger der Russischen Föderation angeklagt wurden, in der Zeit stattfanden, als die Litauische Sozialistische Sowjetrepublik kein unabhängiger Staat, sondern Teil der Sowjetunion war“. Die sowjetischen Soldaten hätten im Januar 1991 „ihre Dienstpflicht erfüllt und in Übereinstimmung mit der Gesetzgebung der Sowjetunion gehandelt, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.“[6]
Der Blutsonntag ist auch Gegenstand von Desinformationskampagnen. Der für seine anti-westliche Ansichten bekannte russische Journalist Dmitri Kisseljow behauptet bis heute, dass die Menschen in Vilnius nicht vom sowjetischen Militär, sondern von unbekannten Schützen von Dächern getötet worden seien.[7] Ähnliches behauptete auch Algirdas Paleckis, der frühere Vorsitzende der Litauischen Sozialistischen Volksfront. Er sagte, „unsere eigenen Leute haben auf unsere eigenen Leute geschossen.“[8] Paleckis wird derzeit der Spionage für Russland Paleckis wird derzeit der Spionage für Russland als Mitglied einer organisierten Gruppe angeklagt.[9]
Fazit
Für Menschen in Litauen wird der 13. Januar immer einer der wichtigsten Tage in der modernen Geschichte bleiben. Er war zwar tragisch, aber gleichzeitig auch ein Triumph der friedlichen und gewaltlosen Verteidiger der Freiheit gegen die Armee eines repressiven Regimes. Dieser Tag ist auch von globaler Bedeutung, denn er zeigte einmal mehr den Charakter der Sowjetunion und brachte sie ihrem Untergang näher. Wie der Historiker Alfred Erich Senn erklärt, war es insbesondere Litauen, das der Welt den Bankrott des Imperiums demonstrierte.[10] Nur sieben Monate später zerfiel die Sowjetunion.
[1] Kristina Spohr Readman, “West Germany and the Baltic question during the Cold War” in John Hiden, Vahur Made, David J. Smith (ed.), The Baltic Question during the Cold War. Routledge, 2008, p. 120.
[2] Soviet Tanks Roll in Lithuania; 11 Dead. The New York Times, January 13, 1991 <https://www.nytimes.com/1991/01/13/world/soviet-tanks-roll-in-lithuania-11-dead.html?auth=login-email&login=email>
[3] The Keynote Speech of Pres. Vytautas Landsbergis, MEP, at the first Lithuanian Prayer Breakfast in London, held at the Hyatt Regency Churchill Hotel on January 12, 2008 <http://www.lituanus.org/2008/08_1_01-b%20Landsbergis.htm>
[4] Lithuania's 'trial of the century' implicates Soviet leader Gorbachev. DW, March 26, 2019 <https://www.dw.com/en/lithuanias-trial-of-the-century-implicates-soviet-leader-gorbachev/a-48065740>
[5] Russia brings charges against Lithuanian judges in absentia. LRT, December 14, 2020 <https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/1298708/russia-brings-charges-against-lithuanian-judges-in-absentia>
[6] СК России заочно обвинил судей из Литвы за приговор россиянам. DW, December 14, 2020 <https://www.dw.com/ru/skr-zaochno-obvinil-sudej-iz-litvy-za-prigovor-rossijanam/a-55933422>
[7] Kremliaus ruporas D. Kiseliovas Sausio 13-osios proga Lietuvai žada Ukrainos likimą. DELFI, January 13, 2017 <https://www.delfi.lt/news/daily/medijos-karas-propaganda/kremliaus-ruporas-d-kiseliovas-sausio-13-osios-proga-lietuvai-zada-ukrainos-likima.d?id=73440550>
[8] Algirdas Paleckis found guilty of denying Soviet aggression. 15min, June 12, 2012 < https://www.15min.lt/en/article/in-lithuania/algirdas-paleckis-found-guilty-of-denying-soviet-aggression-525-225836>
[9] Former politician accused of spying for Russia to be released on bail. LRT, April 7, 2020 <https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/1160810/former-politician-accused-of-spying-for-russia-to-be-released-on-bail>
[10] Alfred Erich Senn, Gorbachev's Failure in Lithuania. Palgrave, 1995 <https://www.palgrave.com/gp/book/9780312124571>
[1] Kristina Spohr Readman, “West Germany and the Baltic question during the Cold War” in John Hiden, Vahur Made, David J. Smith (ed.), The Baltic Question during the Cold War. Routledge, 2008, p. 120.
[2] Soviet Tanks Roll in Lithuania; 11 Dead. The New York Times, January 13, 1991
[4] Lithuania's 'trial of the century' implicates Soviet leader Gorbachev. DW, March 26, 2019
[5] Russia brings charges against Lithuanian judges in absentia. LRT, December 14, 2020
[6] СК России заочно обвинил судей из Литвы за приговор россиянам. DW, December 14, 2020
[8] Algirdas Paleckis found guilty of denying Soviet aggression. 15min, June 12, 2012
[9] Former politician accused of spying for Russia to be released on bail. LRT, April 7, 2020
[10] Alfred Erich Senn, Gorbachev's Failure in Lithuania. Palgrave, 1995
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