Von Mai bis Juni 2024 steht das bevölkerungsreichste Land der Welt erneut vor der weltweit größten demokratischen Wahl zum indischen Parlament, dem Unterhaus (Lokh Sabha). Die diesjährigen indischen Regionalwahlen in den fünf indischen Bundesstaaten Nagaland, Meghalaya, Tripura, Karnataka und Mizoram sowie die verbleibenden im Frühjahr 2024 in den Bundesstaaten Chhattisgarh, Madhya Pradesh, Rajasthan und Telangana gelten daher als richtungsweisend im Rennen um die Parlamentsmehrheit und um das Amt des indischen Premiers.[i] In den drei nordöstlichen Bundesstaaten gelang es der Partei des amtierenden Premierministers, Narendra Modi, der Bharatiya Janata Partei (BJP) bereits in der ersten Jahreshälfte, ihre indienweit fast unangefochtene Machtposition weiter ausbauen, in Koalitionen mit den dort ansässigen Regionalparteien: der Nationalist Democratic Progressive Party (NDPP) in Nagaland, der National People’s Party (NPP) in Meghalaya und der Indigenious People’s Front of Tripura (IPFT) in Tripura. Auf den ersten Blick erinnern die Wahlen an die Koalitionspolitik der sogenannten „Ära des dritten Parteiensystems“ (1989-2014) der verstärkten Formierung von Koalitionsregierungen mit regional ansässigen Parteien. Zeitlich fallen diese jedoch in die vierte Phase des indischen Parteiensystems (2014-), die von einem wachsenden Zentralisierungstrend mit der BJP als Gravitationszentrum gekennzeichnet ist.[ii]
Die Rolle der Regionalparteien in Indien
Laut der jüngsten Veröffentlichung der indischen Wahlkommission (Election Commission of India, ECI) vom 23. September 2021 und nachfolgenden Mitteilungen sind insgesamt 2858 Parteien in Indien registriert, darunter sechs nationale Parteien, 57 Parteien in den Bundesstaaten und 2796 registrierte, jedoch nicht anerkannte Parteien.[iii] Erst kürzlich, am 10. April 2023, wurde die Anzahl der Nationalparteien von acht auf sechs reduziert. Der regionalen Aam Aadmi Party (AAP) wurde in diesem Zuge der nationale Status zuerkannt, während der Communist Party of India (CPI), der Nationalist Congress Party (NCP) und dem Trinamool Congress (TMC) dieser entzogen wurde.[iv]
Als Regionalparteien gelten in Indien gemeinhin alle politischen Parteien, deren Einzugsgebiet auf eine bestimmte geographische Region beschränkt ist. Aufgrund ihrer Identifikation mit einer bestimmten Kultur, Sprache oder Religion vertreten sie überwiegend regionale Interessen.[v] Ihrer heterogenen Natur ist es geschuldet, dass sich Regionalparteien nur begrenzt kategorisieren lassen. Eine grobe Unterteilung kann anhand ihrer Mobilisierungsorientierung vorgenommen werden. So lassen sich regionale Parteien mit einer ausschließlich regionalen Verankerung identifizieren, die jedoch weitreichende nationale Ambitionen hegen. Exemplarisch hierfür steht die Samajwadi Party (SP), die größtenteils in Uttar Pradesh antritt, aber ebenso eine überregionale kastenbasierte Politik repräsentiert. Ihre Agenda liest sich als ein alternativer Entwurf zur nationalen kastenbasierten Variante[vi], welche die BJP propagiert[1], im Versuch Kastenangehörige der Other Backward Castes („andere zurückgebliebene Klassen“, OBCs) und Dalits unter dem Dach der Partei zu vereinigen. Eine Politik, die sich in erster Linie in einer sozialen Agenda äußert und beispielsweise mit einem Quotensystem in der Hochschulbildung einhergeht, das den Zugang zu Bildung für untere Kasten verbessert[vii]. Demgegenüber stehen regionale Parteien, deren politische Mobilisierung einzig auf der regionalen Identität, Kultur, Sprache und den Traditionen eines Bundesstaates beruhen. Dies ist zum Beispiel bei der YSR Congress Party in Andhra Pradesh der Fall[viii]. Letztlich handelt es sich bei den meisten Regionalparteien um Parteien, die eine Sachwalter-Rolle für einen Bundesstaat einnehmen, was durch den stark ausgeprägten Föderalismus begünstigt wird. In vielen Fällen nehmen diese Parteien keine Oppositionsrolle ein, sondern entscheiden anhand von Sachfragen, ob eine Vorhaben der Zentralregierung im Sinne ihres Staates ist oder nicht.
In der Praxis kann dies dazu führen, dass Regionalparteien inhaltlich viele Übereinstimmungen mit nationalen Parteien haben und / oder die Zentralregierung stützen.
In Indiens Mehrparteiensystem kommt den Regionalparteien eine prominente Stellung zu, insbesondere seit dem Ende der 1980er und dem Beginn der 1990er Jahre. In dieser Zeit führten neben parteiinternen Rivalitäten auch soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformationsprozesse zu Interessensverschiebungen und damit zur schrittweisen Fragmentierung des Parteiensystems. Diese machten eine Hinwendung der größeren Parteien zu Koalitionsregierungen mit den kleineren regionalen Pendants erforderlich.[ix] Dies spiegelte
sich auch in den Stimmenanteilen wider. Zwischen 1996 und 2014 galt als Faustregel, dass etwa 50 Prozent der Wählerstimmen traditionell an die zwei größten nationalen Parteien gingen, an die BJP und die Indian Congress Party (INC), während die verbleibenden 50 Prozent auf Hunderte von regionalen Parteien entfielen. Bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2019 haben sich diese Anteile erstmalig verschoben: der Stimmenanteil der Regionalparteien sank auf 43.2 Prozent.[x] Bis heute können die beiden nationalen Parteien trotz ihrer überregionalen Stärke nicht immer eine ausreichende Mehrheit auf Bundesstaatenebene auf sich vereinigen und sind daher häufig auf die Unterstützung von Regionalparteien angewiesen.[xi]
Aufstieg der Regionalparteien – mehr Schein als Sein?
Derzeit regieren Regionalparteien entweder allein oder im Bündnis mit einer anderen Partei in den folgenden 15 Bundesstaaten: Andhra Pradesh, Bihar, Delhi, Jharkhand, Kerala, Maharashtra, Meghalaya, Mizoram, Nagaland, Odisha, Punjab, Sikkim, Tamil Nadu, Telangana and Tripura.[xii] In absoluten Zahlen haben damit die Hälfte aller Bundesstaaten eine regionalparteiliche Färbung und rund 44,3 Prozent der indischen Bevölkerung werden von regionalen Agenden mitregiert.[xiii]
Die Regionalwahlen im Nordosten haben gezeigt, dass regionale Parteien mit einer lokalen Ausrichtung und gleichzeitig einem nationalen Streben sich trotz der wachsenden Anziehungskraft der BJP behaupten können.[xiv]
Aber auch vom Zentrum des Landes, Neu-Delhi, ausgehend, vermochte eine inzwischen vielbeachtete Regionalpartei ihre Machtbasis auszuweiten – die Aam Aadmi Partei (AAP). Aufgrund ihrer herausragenden Wahlergebnisse bei den letzten Regionalwahlen in den Bundesstaaten Delhi, Goa, Punjab und Gujarat wurde ihr von der ECI der Status einer nationalen Partei zuerkannt. Dieser berechtigt die Partei von nun an dazu, in allen Bundesstaaten und Unionsterritorien Indiens zu Wahlen anzutreten und bringt außerdem bestimmte Vorteile mit sich, darunter mehr kostenlose Sendezeit in den staatlichen Medien zu Wahlzeiten sowie der Erwerb eines Baugrundstücks von der Zentralregierung zum Bau einer Parteizentrale.[xv] In den letzten Jahren hat die 2012 gegründete AAP aufgrund ihres Engagements gegen Korruption und eine solide Regierungsführung[xvi], beispielsweise durch Investitionen in die öffentliche Infrastruktur sowie in das Gesundheits- und Bildungswesen, ihre Anhängerschaft schrittweise vergrößern können.[xvii] In ihrer frühen Phase stand die Partei mit ihrer heterogenen Wählerbasis der Kongresspartei ideologisch näher, inzwischen ist die BJP der Hauptkonkurrent bei Wahlen und so hat sich die Partei thematisch an das BJP-Wählerklientel angenähert[xviii]. Diese Entwicklungen sollen jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sich regionale Zielsetzungen nur selten in eine nationale innenpolitische, geschweige in eine außenpolitische Agenda übersetzen lassen.[xix] Ferner deuten fortschreitende Zentralisierungs- und Machtkonsolidierungstendenzen der BJP auf eine Schwächung der Verhandlungsposition der Regionalparteien hin, die im naszierenden indischen Parteiensystem mit dominanter Partei bestenfalls als Scharniere fungieren.[xx] Die AAP stellt demnach keine ernstzunehmende Bedrohung für die BJP dar und trägt sogar indirekt mit der Stimmenabführung zur Schwächung der letzten Bastion, der noch größten nationalen Oppositionspartei, dem INC, bei.
Insgesamt ist der Aufstieg der Regionalparteien in der Unabhängigkeitsgeschichte Indiens als eine der bedeutendsten Entwicklungen der politischen Parteienlandschaft zu werten. Sie sind in rund der Hälfte aller regionalen Regierungen vertreten und gestalten damit regionale Agenden mit. Zweifelhaft bleibt jedoch, inwieweit sie über ihre inzwischen instrumentelle Funktion in der „vierten Ära des Parteiensystems“ hinauswachsen können.
[1] Seit den 1980er Jahren ist die Mobilisierung auf Grundlage der Kastenzugehörigkeit zu einem entscheidenden Einflussfaktor der indischen Innenpolitik avanciert. Insbesondere im Zuge der Parlamentswahlen 2014 wurde dieser Ansatz, der zuvor vorwiegend höhere Kasten einschloss, von der BJP auf die Ansprache unterer und rückständiger Kasten ausgeweitet. In Kontext des Wahlkampfes machte Narendra Modi überdies von seinem eigenen Status als Angehöriger der OBC Gebrauch.
[i] Election Commission of India (2023): Upcoming Elections In States and List of States Government Tenure and Tentative Date of Upcoming Elections in India, in: http://bitly.ws/EncY [09.05.2023].
[ii] Milan Vaishnav & Jamie Hintson (2019) : The Dawn of India’s Fourth Party System, Carnegie Endowment for International Peace, in: http://bitly.ws/EpQB [11.05.2023].
[iii] Election Commission of India (2021): Notification No. 56/2021/PPS-III, in: http://bitly.ws/EqhK [09.05.2023].
[iv] The Times of India (2023): EC grants national party status to Aam Aadmi Party; withdraws tag from Trinamool Congress, NCP & CP, in: http://bitly.ws/Enbi [09.05.2023].
[v] Sudha Pai (1990): Regional Parties and the Emerging Pattern of Politics in India, The Indian Journal of Political Science 51 (3).
[vi] Milan Vaishnav (2019): Religious Nationalism and India’s Future, in: The BJP in Power: Indian Democracy and Religious Nationalism, Hrsg., Milan Vaishnav, Carnegie Endowment for International Peace.
[vii] Asad Rizvi (2023): Samajwadi Party's Outreach to Dalit and OBC Voters Leaves BJP, BSP Nervous, The Wire, in: http://bitly.ws/EzqE [15.05.2023].
[viii] K. K. Kailash (2014): Regional Parties in the 16th Lok Sabha Elections. Who Survived and Why?, Economic and Political Weekly, 49 (39).
[ix] Christian Wagner (2006): Das politische System Indiens: eine Einführung. 1. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
[x] Ebd. 2
[xi] Ebd. 4
[xii] Maps of India (2023): Ruling Parties in Different States of India, in: http://bitly.ws/EpRe [10.05.2023].
[xiii] Census 2021 (2021): Population Density of India 2021 Census Data, in: http://bitly.ws/Ezyk [15.05.2023].
[xiv] Sanjoy Hazarika (2023): Three trends, a few surprises. Regional parties with local focus but national commitment continue to draw support, The Tribune, in: http://bitly.ws/Enk6 [10.05.2023].
[xv] Deeksha Bhardwaj (2023): AAP gets ‘national party’ status; Trinamool, Nationalist Congress Party lose it, Hindustan Times, in: http://bitly.ws/Eqgu [11.05.2023].
[xvi] Aam Aadmi Party (2019): Our History, in: http://bitly.ws/Eqjx [09.05.2023].
[xvii] Vikas Vasudeva (2023): AAP popularity, track record to face test in Jalandhar bypoll, The Hindu, in: http://bitly.ws/EqkX [11.05.2023].
[xviii] Asim Ali (2022): The Opposition Space in Contemporary Indian Politics, Carnegie Endowment for International Peace, in: http://bitly.ws/EqqD [11.05.2023].
[xix] Milan Vaishnav (2013): The Complicated Rise of India’s Regional Parties, Carnegie Endowment for International Peace, in: http://bitly.ws/EqDg [11.05.2023].
[xx] Yamini Aiyar & Neelanjan Sircar (2020): Understanding the decline of regional party power in the 2019 national election and beyond, Contemporary South Asia
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