Abgebildet: Der vom brasilianischen Staatspräsident Jair Bolsonaro im März 2021 ernannte Gesundheitsminister Marcelo Queiroga
Seit Mitte Januar wird Brasilien von einer weiteren Corona-Welle förmlich überrollt und die Tendenz ist weiterhin alarmierend. Alleine am 16. März starben 2798 Menschen innerhalb von 24 Stunden, was in Relation zu den weltweiten Zahlen bedeutet, dass an jenem Dienstag mehr als jedes vierte Corona-Opfer (28 Prozent) weltweit in Brasilien zu betrauern war. In 24 der 26 Bundesstaaten lag die Auslastung der Krankenhäuser bei über 80 Prozent, die Belegungsrate der Intensivbetten liegt in 15 Bundesstaaten gar bei über 90 Prozent. Mancherorts, beispielweise im an Argentinien grenzenden südlichen Bundesstaat Rio Grande do Sul und punktuell auch in São Paulo ist das Gesundheitssystem bereits kollabiert[1].
Auch bei den landesweiten Fallzahlen wurde mit 90.830 innerhalb von 24 Stunden jüngst ein neuer Rekord vermeldet. Insgesamt steht Brasilien bei deutlich über 11,7 Millionen offiziell bestätigten Corona-Fällen und 278.500 Toten, weltweit den zweitmeisten nach den Vereinigten Staaten[2]. Diese Schreckensbilanz und die wieder lauter werdende Kritik am Krisenmanagement seiner Regierung veranlasste Präsident Bolsonaro nun zum Handeln.
Der vierte Ministerwechsel seit Beginn der Pandemie: Queiroga ersetzt Pazuello
Mit dem Arzt Marcelo Queiroga, Präsident der Brasilianischen Kardiologischen Gesellschaft (Sociedade Brasileira de Cardiologia) übernimmt der bereits vierte Gesundheitsminister seit Pandemiebeginn vor einem Jahr. Die zunächst auserkorene Kardiologin Ludhmila Hajjar hatte das Angebot des Präsidenten abgelehnt, da sie keine gemeinsame Linie mit Jair Bolsonaro in der Pandemiebekämpfung erkennen konnte, Queiroga akzeptierte. Anders als bei seinen Vorgängern Luiz Henrique Mandetta und Nelson Teich, mit denen sich der Präsident aufgrund gegensätzlicher Ansichten zum “social distancing“ und dem Einsatz des Medikaments Hydroxychloroquin jeweils überworfen hatte, war die Trennung vom bisherigen aktuellen Minister, General Eduardo Pazuello, wohl einvernehmlich. In einer Pressekonferenz dementierte dieser zwar, dass er selbst aufgrund von gesundheitlichen Problemen seinen Rücktritt angeboten hatte, allerdings respektiere er den Versuch des Präsidenten, das Gesundheitsministerium neu zu organisieren. Offenkundig ist, dass der Druck des Centrão, der weitgehend ideologiefreien, primär macht- und einflussorientieren Parteien im Kongress, angesichts der desaströsen Zustände im Gesundheitssystem mit vielerorts erschöpften Kapazitäten und seit über zwei Wochen täglich steigenden Opferzahlen stark zugenommen hatte.
Der Faktor Lula – die Rückkehr der vermeintlichen Lichtgestalt?
Auch die Entscheidung des Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs (Supremo Tribunal Federal) Edson Fachin, die Verurteilung von Ex-Präsident Lula zu annullieren und diesem seine politischen Rechte wiederzugeben, sorgte jüngst für viel Wirbel und könnte die politischen Rahmenbedingungen – aktuell und vor allem auch im Hinblick auch die anstehenden Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr – nachhaltig verändern. Als Begründung für die Aufhebung der insgesamt vier Urteile gegen Lula dient die Anerkennung eines Verfahrensfehlers, weil das Gericht in Curitiba gar nicht zuständig gewesen sei und der damalige Richter Sergio Moro, später Justizminister im Kabinett Bolsonaros, nicht mit dem Fall hätte betraut werden dürfen. Fakt ist somit, dass diese Urteilsrevision keineswegs bedeutet, dass Lula unschuldig ist, allerdings dürfte es bis zu einer erneuten rechtskräftigen Verurteilung durch alle Instanzen hinweg sehr lange dauern. Einer erneuten Präsidentschaftskandidatur und einem potenziellen „Duell“ der absolut gegensätzlichen Charaktere Lula und Bolsonaro, welche zugleich auch als Antipoden auf der brasilianischen politischen Landkarte betrachtet werden können, steht somit rein rechtlich gesehen nichts mehr im Wege.
Eine ganz andere Frage ist diejenige, ob der mittlerweile 75-jährige Lula dem Land, seiner Partei und sich selbst mit einer Kandidatur tatsächlich einen Gefallen tun würde und wie es um seine Erfolgsaussichten stünde. Einige Umfragen sehen Lula zwar als einen aussichtsreichen Kandidaten, allerdings ist der ehemalige Gewerkschaftsführer für viele Brasilianer nach den massiven Korruptionsskandalen, in die weite Teile seiner Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores) in der Zeit seiner Präsidentschaft verstrickt waren, eine Art rotes Tuch. Die Reaktion der Börse – der brasilianische Leitindex brach am Tag der Urteilsverkündung um 4 Prozent ein – macht deutlich, dass der brasilianischen Wirtschaft ein starker Kandidat der politischen Mitte wohl deutlich lieber wäre. In seinem ersten öffentlichen Auftritt nach der Entscheidung Fachins vom 8. März holte Lula zu einem Rundumschlag gegen die Regierung Bolsonaro aus und kritisierte insbesondere die desolate Bilanz der Regierung in der Corona-Krise. Die Vision eines „nationalen Projekts“ skizzierte er in seiner Rede mit einem Fokus auf die Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit, massiven staatlichen Investitionen und einer von den Vereinigten Staaten unabhängigen Außenpolitik. Auch die expliziten Erwähnungen von und das Lob für Politiker wie den argentinischen Präsidenten Alberto Fernández, den Bolivianer Evo Morales und José Luis Rodríguez Zapatero lassen erahnen, in welche Richtung es unter einem neuen alten Präsidenten Lula in Brasilien gehen könnte. Während Lula mit seinem medienwirksamen Auftritt die Spekulationen über ein Präsidentschaftsduell zwischen ihm und Bolsonaro anheizte, tobt in Brasilien die Pandemie schlimmer als je zuvor und bedroht das Leben der Menschen.
Brasilien als globale Bedrohung?
Eine wachsende Zahl internationaler Wissenschaftler und Virologen sieht Brasilien auch als ideales „Laboratorium“ für das Corona-Virus und befürchtet, dass sich das größte Land Südamerikas zu einem Mutations-Hotspot und entsprechend zu einer ernsten Bedrohung für die globale Gesundheit entwickeln könnte. Die erstmalig im Amazonasgebiet und der Stadt Manaus aufgetretene P1-Variante ist nicht nur deutlich aggressiver und wohl doppelt so ansteckend wie das ursprüngliche Virus, sondern scheint auch die körpereigene Immunabwehr bereits Genesener oftmals zu unterlaufen. So ließen sich auch die landesweit vermehrt auftretenden Fälle von Reinfektionen erklären.
Neben jener international als „brasilianisch“ bekannten P1-Mutante aus Manaus grassieren in Brasilien zahlreiche weitere Virusvarianten. Die britische Mutante ist bereits seit Ende des vergangenen Jahres im Land und verbreitet sich stetig. Seit März treten zudem immer mehr Fälle einer erstmals im Juli 2020 in Rio de Janeiro nachgewiesenen P2-Variante auf, welche ebenfalls signifikant ansteckender sein soll[3]. Neueste, besorgniserregende Meldungen verweisen auf eine weitere Mutation, welche bereits in allen Landesteilen außer dem westlichen Landesinneren auf dem Vormarsch sein soll. Die von den Forschern vorläufig Variant of Interest (VOI) 9 getaufte Variante verfügt wie P1 und P2 über ein verändertes Spike-Protein, welches für eine gesteigerte Infektiosität verantwortlich sein soll[4].
Angesichts dieser Hiobsbotschaften und vieler offener Fragen bezüglich der Wirksamkeit der Impfstoffe – insbesondere des chinesischen CoronaVac – im Kampf gegen die Virusmutanten meint Lucas Ferrante, Biologe am Nationalen Institut für Amazonasforschung (Instituto Nacional de Pesquisas da Amazônia), dass Mutationen und Kreuzungen des Virus im schlimmsten Fall zu einer Art impfstoffresistentem Supervirus führen könnten[5]. Auch andere Wissenschaftler schätzen die langsame Impfkampagne, nicht vorhandene bzw. unwirksame Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung und ein daraus resultierendes dynamisches Infektionsgeschehen als brandgefährliche Mischung ein.
Fazit und Ausblick
In einem seiner ersten öffentlichen Auftritte während der Übergabe der ersten 500.000 in Brasilien produzierten Impfdosen des Astra-Zeneca Vakzins machte der neue Gesundheitsminister Marcelo Queiroga deutlich, dass Kontakteinschränkungen sowie eine Aufstockung der Behandlungsmöglichkeiten in den Kliniken aus seiner Sicht die entscheidenden Faktoren im Kampf gegen die steigenden Todeszahlen sind. Angesichts dramatischer Zustände in den Krankenhäusern und der Befürchtung, bald viele Menschen ohne Behandlungsmöglichkeiten „auf der Straße sterben zu sehen“, wie es der Gouverneur von Minas Gerais[6] ausdrückte, ziehen die politischen Entscheidungsträger in einigen Bundesstaaten und Städten nun wohl die Notbremse. In São Paulo werden fünf Feiertage aus den Jahren 2021 und 2022 auf den 26., 29., 30. und 31. März vorverlegt, um die Stadt einschließlich der Ostertage bis einschließlich 4. April, weitgehend stillzulegen. In Rio de Janeiro werden die Strände geschlossen und auch die Möglichkeit eines kompletten Lockdowns nicht mehr ausgeschlossen. Ungeachtet der potenziellen Verschärfung der Maßnahmen wird Brasilien in den kommenden Tagen und Wochen noch viel Leid ertragen müssen. Angesichts der schleppenden Impfkampagne – bis Ende des Monats wird Brasilien maximal 25 Millionen Impfdosen erhalten haben – und der hochaggressiven Mutanten ist völlig offen, ob und wann man die Pandemie in diesem Land kontinentaler Ausmaße wieder einigermaßen in den Griff bekommen wird.
Das Versagen bei der Bewältigung der Corona-Pandemie wird zunehmend auch Jair Bolsonaro angelastet. Während im Dezember 2020 42 Prozent der Befragten dessen Arbeit in der Pandemiebekämpfung als „schlecht oder sehr schlecht“ einstuften, waren dies nun im März bereits 54 Prozent. 43 Prozent sehen in Bolsonaro auch den Hauptschuldigen für die dramatische Situation in der aktuellen Gesundheitskrise. Umgekehrt bewerten nur noch 22 Prozent der Befragten die Performance des Präsidenten in der Corona-Krise als „gut oder sehr gut“, im April des vergangenen Jahres lag dieser Wer noch bei 36 Prozent.[7] Auffällig ist jedoch, dass die generellen Beliebtheitswerte des Präsidenten stabil bei etwa 30 Prozent liegen und die Ablehnung von Januar bis März lediglich von 50 auf 54 Prozent angestiegen ist[8].
Die völlig außer Kontrolle geratene Pandemie und die Rückkehr Lulas als „Lichtgestalt“ der brasilianischen Linken setzen den Präsidenten aktuell unter Druck, doch es wäre ein großer Fehler, Bolsonaro abzuschreiben.
Kurzfristig könnte die nun beschlossene Wiedereinführung der Soforthilfemaßnahme auxílio emergencial ab April, wenn auch deutlich eingeschränkt, Bolsonaro eine Atempause verschaffen. Über 45 Millionen Menschen werden von den Hilfsgeldern profitieren, welche den klammen Staatshaushalt mit weiteren 43 Milliarden Reais, umgerechnet etwa 6,5 Milliarden Euro, belasten werden. Mit Lula als im Grunde für ihn idealen Gegenkandidaten könnte Bolsonaro wohl auch wie 2018 einen ideologisch aufgeladenen Wahlkampf führen, eigene gravierende programmatische Defizite in der Regierungsarbeit durch Warnungen vor der „kommunistischen Gefahr“ übertünchen und viele moderate, konservative Kräfte könnten sich letztlich aus Mangel an überzeugenden Alternativen erneut für Bolsonaro entscheiden.
Die Parteien des Centrão, die Bolsonaro zum Regieren braucht, werden möglicherweise die Gunst der Stunde nutzen, um Einfluss geltend zu machen und weitere Zugeständnisse, beispielsweise eine größere Kabinettsumbildung und damit einhergehend Ministerposten, einfordern. Mit großer Spannung ist allerdings die ganz entscheidende Frage versehen, ob sich jene verschiedenen Parteien der Mitte auf einen gemeinsamen, möglichst starken Gegenkandidaten einigen können oder tatsächlich Lula und der – ebenfalls alles andere als geeinten – brasilianischen Linken von Vorneherein das Feld überlassen werden.
[1] https://www.telam.com.ar/notas/202103/547693-coronavirus-brasil-fiocruz.html
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