Országbeszámolók
Das kuwaitische Rechtssystem basiert auf einer Vielzahl an etablierten Institutionen. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei nicht zuletzt die Arbeit des Verfassungsgerichts. Dieses beginnt Schritt für Schritt, sich als fortschrittliche Verfassungshüterin zu profilieren, beispielsweise durch die Stärkung von Frauenrechten. Auch die kuwaitische Nationalversammlung, die am längsten existierende Volksvertretung der Region, nimmt eine Sonderstellung im institutionellen Gefüge ein. Im Vergleich zu parlamentsähnlichen Gremien der anderen Golfmonarchien hat sie sich zu einer bedeutenden Institution entwickelt und verfügt über relativ weitgehende Rechte. Auch wenn die Nationalversammlung nicht die Kriterien eines unabhängigen Parlaments erfüllt, wurde auf eine für Kuwait typische Weise stets das Gleichgewicht zwischen traditionellem Islam und Moderne gewahrt. Kuwait liefert somit ein einzigartiges Beispiel für den Versuch, arabisch-islamische Werte und westlichen Politikstil, Tradition und Moderne, Konservativismus und Fortschritt in einem Rechtssystem zu vereinen.
Die Entwicklung des modernen kuwaitischen Rechtssystems begann Mitte des 20. Jahrhunderts. Der kleine Staat im Nordosten der arabischen Halbinsel war zunächst Teil des Osmanischen Reichs, bevor er 1899 zum Britischen Protektorat wurde. Bis in die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts hinein wurde bei rechtlichen Fragen auf zwei Quellen zurückgegriffen: Gewohnheitsrecht, das immer dann zur Anwendung kam, wenn sonst keine ausdrücklichen Regelungen existierten, und das islamische Recht der Scharia, das traditionell von religiösen Gelehrten angewandt wurde.
Die Scharia – ein Überblick
Der arabische Begriff „Scharia“ umfasst in seinem weiteren Sinne nicht nur eigentliche Rechtsnormen, sondern auch religiöse Gebote und Riten, insbesondere die fünf Säulen des Islam. Dabei handelt es sich um ein komplexes Regelungssystem bestehend aus Normen und entsprechenden Instrumenten zur Auffindung und Interpretation, das von Beginn an eine Idealvorstellung des göttlichen Gesetzes war und zu keiner Zeit vollständig angewandt wurde. Die bedeutendste Rechtsquelle des islamischen Rechts ist der Koran, welcher sich als vollständig und umfassend versteht; die darin enthaltenen größtenteils allgemeinen Prinzipien bedürfen allerdings der weiteren Ausarbeitung und Interpretation. Dies geschieht insbesondere mithilfe der Sunna, der Überlieferung der Aussprüche und Verhaltensweisen des Propheten Mohammed, die im Laufe der Zeit in den sogenannten Hadithen gesammelt wurden. Für Fragen, auf die Koran und Sunna keine eindeutigen Antworten liefern, haben sich zwei weitere sekundäre Quellen herausgebildet: der Analogieschluss bei vergleichbarer Rechtslage (qiyas), und der Konsens von in einem bestimmten Zeitabschnitt lebenden Rechtsgelehrten (idschmaʿ); die Bindungswirkung des letzteren ist allerdings umstritten.
Die Bestimmungen der Scharia wurden im Laufe der ersten islamischen Jahrhunderte (ab Mitte des 7. Jh. n. Chr.) von muslimischen Gelehrten herausgearbeitet, welche dabei auch durch das lokale Gewohnheitsrecht beeinflusst wurden. So bildeten sich in regionalen Zentren verschiedene Rechts-schulen. Durchsetzen konnten sich dabei die Malikiten in Nordafrika, die Hanafiten in Zentralasien und den osmanischen Provinzen, die Schafiiten in Südostasien, Ägypten und Syrien, und die Hanbaliten auf der Arabischen Halbinsel. Hinzu kam die Dschafari-Rechtsschule der Zwölfer-Schia als größte schiitische Rechtslehre. Die Schulen unterscheiden sich unter anderem im Hinblick darauf, welches Gewicht sie den verschiedenen Rechtsquellen beimessen.
Rechtliche Fragen, die nicht explizit von Koran, Sunna und idschmaʿ behandelt wurden, beantworteten die frühen islamischen Gelehrten durch eigenständige Interpretation bzw. Rechtsfindung (idschtihad). Mit der im Rahmen der Rechtsschulen erfolgten end-gültigen Formulierung und Systematisierung (nicht allerdings Kodifizierung) des islamischen Rechts fand die eigenständige Rechtsfindung im sunnitischen Islam im Laufe des zehnten Jahrhunderts ihr Ende, was im Arabischen mit der Formel der „Schließung des Tores des idschtihad“ (insidad bab al-idschtihad) beschrieben wird. Von dieser Zeit an waren die (sunnitischen) Muslime an die überlieferten Lehrmeinungen gebunden , mit der Folge, dass das islamische Recht noch heute die damaligen Wertungen und Verhältnisse widerspiegelt. So gelten insbesondere im Familien- und Erbrecht, einem der wichtigsten Rechtsgebiete der Scharia, stark traditionelle und patriarchalisch geprägte Normen. Darüber hinaus lässt sich das islamische Strafrecht in manchen Bereichen nicht mit internationalen Menschenrechtskonventionen in Einklang bringen. Dies bezieht sich insbesondere auf die sogenannten Hadd-Verbrechen: bestimmte Taten, die als Verbrechen gegen Gott angesehen werden und im Koran mit schweren Strafen belegt sind. Hierzu zählen z.B. Diebstahl oder unehelicher Geschlechtsverkehr. Abgesehen davon ist das Strafrecht jedoch nur bruchstückhaft geregelt, basierend auf einigen spezifischen Fällen der damaligen Zeit.
Insgesamt handelte es sich beim traditionellen islamischen Recht um ein Gelehrtenrecht, dessen Normen überwiegend Einzelfälle regelten und das bis ins 19. Jh. hinein kaum kodifiziert war.
Von Mecelle zur Verfassung: Entwicklung des Rechtssystems in Kuwait
Vor diesem Hintergrund einer islamisch und gewohnheitsrechtlich geprägten Rechtsprechung wurde von einem speziell gewählten Legislativrat im Jahr 1938 ein erster Vorläufer der Kuwaitischen Verfassung erarbeitet; diese bestand aus nur fünf Artikeln und schrieb bereits das Volk als Träger der Staatsgewalt fest. Außerdem enthielt sie den Auftrag an den Legislativrat, weitere geschriebene Gesetze zu erlassen. In den folgenden Jahren entstanden demnach erste kodifizierte Regelungen, die sich größten-teils mit speziellen Wirtschafts- und Handelsfragen befassten und Kuwaits Rolle als Seehandelsnation widerspiegelten. Gleichzeitig erklärte der damalige Herrscher Scheich Ahmed Al Jaber Al Sabah die Mecelle, das Zivilgesetzbuch des Osmanischen Reichs, für anwendbar. Dieses Gesetzbuch, das auf der hanafitischen Rechtsschule beruht, war der erste Versuch in der Geschichte weltweit, islamisches Recht zu kodifizieren und umfasste hauptsächlich zivilrechtliche sowie einige zivilverfahrensrechtliche Fragen. In Fällen, in denen keine gesetzliche Regelung griff, insbesondere in Personenstands- und Strafsachen, wurde weiterhin das ungeschriebene Recht der Scharia in der Interpretation der in Kuwait vorherrschenden malikitischen Schule angewandt.
Die Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1961 stellte einen Wendepunkt in der Entwicklung Kuwaits dar; die Regierung des Landes erhielt die volle Souveränität und insbesondere die legislative und justizielle Gewalt zurück. In den folgenden Monaten wurde eine neue Verfassung erlassen, die das Prinzip der Gewaltenteilung sowie allgemeine Rechte und Pflichten der Bürger festlegte und eine gewählte Nationalversammlung etablierte. Zudem entschied sich der kuwaitische Emir im Grundsatz für ein an Kontinentaleuropa orientiertes, kodifiziertes Zivilrechtssystem, statt das Common Law System der britischen Kolonialherren zu übernehmen. Um die Herausforderung der Kodifizierung des gesamten Rechtssystems zu bewältigen, beauftragte er den renommierten ägyptischen Juristen Dr. Abdul Razzak Al Sanhuri, der unter anderem das so-genannte Law of Commerce (ein Handelsgesetz, das allerdings auch schuldrechtliche und andere Regelungen enthielt) entwarf. Dabei griff er zu großen Teilen auf Gesetzbücher anderer arabischer Staaten zurück, wie. z.B. Syriens und Ägyptens. Der schuldrechtliche Teil basierte auf dem irakischen Zivilgesetzbuch, das wiederum stark von französischen Regelungen beeinflusst war. So entstand ein diversifiziertes, von unterschiedlichen Traditionen beeinflusstes Gesetzessystem. Die bisherigen Regelungen der Mecelle, soweit sie nicht von spezielleren Normen verdrängt wurden, sowie der Scharia im Personenstandsrecht galten jedoch auch weiterhin.
Im Laufe der folgenden Jahrzehnte wuchs aufgrund einiger Ungereimtheiten der Wunsch nach einem einheitlicheren Rechtssystem. Als Reaktion darauf wurden unter der Leitung des damaligen Justizministers Scheich Salman Al Duaij Al Sabah die bestehenden Regelungen überarbeitet, im Einklang mit der Scharia, der Verfassung und den Traditionen Kuwaits. Das Ergebnis war neben neuen Handels- und Strafgesetzbüchern auch ein neues Zivilgesetzbuch, das ab 1981 die Mecelle vollständig ersetzte, sowie ein neues Zivilverfahrensrecht. Zudem wurde das bisher rein islamisch geregelte Personenstandsrecht, d.h. Familien- und Erbangelegenheiten, kodifiziert. Im Zuge einer allgemeinen Islamisierungstendenz in den Golf-Staaten in den 80er Jahren, sowohl als Abgrenzung vom Westen als auch als Reaktion auf Korruption und Ungerechtigkeit im eigenen Land, gab es auch in Kuwait Bestrebungen, das Recht wieder stärker an der Scharia auszurichten. So wurde u.a. die Einführung einer verpflichtenden Armensteuer (zakat), die Eröffnung der islamischen Bank „Kuwaiti Finance House“ oder die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts insofern, dass Nicht-Muslime keine kuwaitische Staatsbürgerschaft erhalten können, durchgesetzt. Das so kodifizierte Zivilrechtssystem mit islamischen Einflüssen gilt im Großen und Ganzen bis heute fort. Allerdings scheiterten mehrere Versuche, Art. 2 der Verfassung, der die Scharia zu einer der Hauptrechtsquellen erklärt, dahingehend zu ändern, dass diese als einzige Rechtsquelle genannt wird.
Die Scharia im kuwaitischen Recht
Laut Art. 2 der kuwaitischen Verfassung ist der Islam Staatsreligion und die Scharia eine der Hauptrechtsquellen. Dies bedeutet, dass der Großteil der Gesetze im Einklang mit islamischem Recht steht, Abweichungen aber dennoch möglich sind (bspw. im Wirtschaftsrecht). Eine weitere Erwähnung der Scharia findet sich in Art. 18 Abs. 2, der festlegt, dass das Erbrecht durch diese geregelt ist. Insgesamt sind Familien- und Erbrecht am stärksten vom islamischen Recht geprägt, allerdings wird die Scharia als solche auch in diesem Gebiet grundsätzlich nicht mehr direkt angewandt. Das 1984 kodifizierte Personenstandsgesetz, basierend auf der Maliki-Rechtsschule, spiegelt jedoch die Regelungen und Wertungen des islamischen Rechts wider. So findet sich darin bspw. die Möglichkeit für den Ehemann, sich einseitig und ohne Gerichtsverfahren von seiner Frau zu scheiden (Prinzip des talaq); die Ehefrau kann sich hingegen durch Rückgabe der Brautgabe und Verzicht auf alle Unterhaltsleistungen scheiden lassen (Prinzip der khulaʿ). Was das Erbrecht betrifft, so kann ein Nicht-Muslim nicht von einem Muslim erben. In Fällen, in denen keine eindeutige gesetzliche Regelung existiert, können kuwaitische Gerichte gemäß Art. 343 des Personenstandsgesetzes auf autoritative Lehrmeinungen der Maliki-Rechtsschule (bzw. bei Prozessen zwischen Anhängern einer anderen Schule auf deren Rechtslehre) zurückgreifen.
Das Zivilgesetzbuch enthält ebenfalls eine Regelung zur Anwendung der Scharia: Gemäß Art. 1 Abs. 2 können Richter in Ermangelung einer ausdrücklichen Vorschrift auf Gewohnheitsrecht und subsidiär auf die islamische Rechtslehre zurückgreifen. Auch allgemein befindet sich das kodifizierte Zivilrecht im Einklang mit der Scharia, wie der damalige Justizminister Scheich Salman bei dessen Einführung 1981 betonte. Beispielhaft hierfür ist Art. 547 des Zivilgesetzbuchs, der die Berechnung von Zinsen für Verbraucherkredite untersagt (da Wucher, arab. riba, im Islam verboten ist). Dies führte wie auch in anderen arabischen Ländern zur Entwicklung eines islamischen Bankwesens. Im Gegensatz dazu ist das kuwaitische Wirtschaftsrecht, wenn auch historisch von anderen muslimischen Staaten (insbesondere Syrien und Ägypten) beeinflusst, an die heutigen Gegebenheiten einer globalisierten, auf Handel ausgerichteten Wirtschaft angepasst; das Handelsgesetzbuch erlaubt daher bspw. die Berechnung von Zinsen für geschäftliche Kredite. Das heutige Strafrecht ist eben-falls weniger von der Scharia als vielmehr vom britisch-indischen Modell beeinflusst, so dass bspw. die traditionellen Hadd-Strafen nicht zur Anwendung kommen. Islamischer Einfluss zeigt sich aber dennoch in einigen Regelungen, wie beispielsweise das absolute Verbot des Imports und Verkaufs von Alkohol, das bereits seit 1960 besteht.
Frühislamische Prinzipien mit modernem Twist: Öffentliches Recht in Kuwait
Was das Öffentliche Recht, insbesondere die Staatsorganisation angeht, so ist dieser Bereich in Kuwait traditionell nicht durch die Scharia geregelt. Vielmehr wurde schon in der früheren islamischen Geschichte im Rahmen der sogenannten Siyasa-Gewalt (siyasa scharʿiya) dem jeweiligen Herrscher die Befugnis zu administrativen Maßnahmen zur Umsetzung und Vervollständigung der Scharia in traditionell nicht islamisch geregelten Bereichen zugestanden. Dies galt insbesondere für die Ausgestaltung des Staatsapparates und der Staatsorganisation.
Das politische System Kuwaits stellt eine Mischung aus (in Ansätzen konstitutioneller) Monarchie, Präsidial- und Parlamentssystem dar. Die exekutive Gewalt hat der Emir, ein Mitglied der herrschenden Al Sabah-Dynastie, inne, der auch den Premierminister ernennt und den übrigen Ministerkandidaten zustimmen muss. Die legislative Gewalt hingegen üben der Emir und die aus 50 gewählten Abgeordneten bestehende Nationalversammlung gemeinsam aus. Letztere ist dabei die einzige solche Institution am arabischen Golf, die nur aus einer gewählten Kammer besteht und an deren Arbeit die 15 ernannten Minister als ex-officio Mitglieder teilnehmen. Sie genießt dabei im regionalen Vergleich relativ großen Einfluss und Unabhängigkeit, basierend auf einer langen Tradition von Beratung und Mitgestaltung in Kuwait. Das islamische Prinzip der schura als Methode gegenseitiger Beratung geht auf Mohammed und seine Prophetengenossen zurück und findet sich sowohl im Koran als auch in der Sunna. In der jüngeren Vergangenheit wurde es teilweise als Ausdruck demokratischer Mitbestimmung neu interpretiert. Bereits in den 1930er Jahren legten kuwaitische Bürger dem Emir ein Dokument vor, in dem sie politische Mitbestimmung basierend auf dem islamischen Prinzip aus der Zeit der Kalifen forderten. Ebenfalls zu dieser Zeit gründeten einflussreiche kuwaitische Familien einen eigenen Kommunalrat und etablierten damit den ersten gewählten Madschlis (beratende Versammlung) am arabischen Golf. Nach der Ernennung mehrerer beratender Komitees in den folgenden Jahrzehnten wurde 1961 schließlich eine verfassungsgebende Versammlung und nach der Verabschiedung der Verfassung im Jahr 1963 die erste Nationalversammlung (Madschlis Al Umma) gewählt. Dabei wurde Wert darauf gelegt, dass die
se nicht als bloßer „Import“ westlicher Verfassungspraxis gesehen wurde, sondern ihren Ursprung im arabisch-islamischen Erbe des Landes hatte. So wurden bestimmte arabische Begriffe verwendet und islamische Prozesse festgelegt, wie z.B. mubayaʿa, oder Akklamation, für die Bestätigung des Kronprinzen durch den Madschlis – ein Vorgang, durch den in der frühislamischen Zeit die Kalifen von den Vertretern der muslimischen Gemeinschaft gewählt wurden.
Zwischen Kontrolle und Blockade: die kuwaitische Nationalversammlung
Kuwaitische Abgeordnete haben zum einen nicht zu vernachlässigende legislative Kompetenzen: Gemäß Art. 79 der Verfassung kann kein Gesetz (mit Ausnahme von Notstandsverordnungen) ohne deren Zustimmung erlassen werden. Bis zum Jahr 2005 blockierten die Volksvertreter beispielsweise mehrere Versuche, Frauen das aktive und passive Wahlrecht zu gewähren. Jeder Abgeordnete hat das Recht, eigene Gesetzesvorschläge einzubringen. Lehnt der Emir die Unterzeichnung eines von der Madschlis verabschiedeten Gesetzes ab, so können die Abgeordneten es dennoch mit einer Zweidrittelmehrheit erneut erlassen. Zum anderen hat die Nationalversammlung eine wichtige Kontrollfunktion: Es kann die Regierung befragen (Art. 100 der Verfassung), einzelnen Ministern das Vertrauen entziehen, die daraufhin zurücktreten müssen (Art. 101), oder beschließen, nicht mehr mit dem Premierminister zu kooperieren (Art. 102). In einem solchen Fall kann der Emir diesen entweder absetzen oder jedoch die Versammlung auflösen und Neuwahlen innerhalb von zwei Monaten ansetzen (wenn die neu gewählten Abgeordneten allerdings ebenfalls kein Vertrauen in den Ministerpräsidenten haben, muss dieser in jedem Fall zurücktreten). Insoweit kann der Madschlis die Regierungsbildung bis zu einem gewissen Maße beeinflussen. Ernennen können die Abgeordneten die Minister allerdings nicht. Zudem muss die Mehrheit der Abgeordneten, wie bereits erwähnt, die Ernennung des Kronprinzen billigen. Geschieht dies nicht, nominiert der Emir drei Kandidaten, von denen die Abgeordneten einen wählen. In der für die Benennung des Kronprinzen vorgesehenen Kombination aus Vererbung und Wahl spiegelt sich wiederum das Verfahren für die Auswahl der ersten Kalifen wider.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Nationalversammlung zweimal für mehrere Jahre suspendiert. Der Grund hierfür kann neben strukturellen Problemen auch in ihrer wichtigen Rolle im legislativen Prozess gesehen werden – die gleichzeitig eine Gefahr für die Autorität der Emirfamilie darstellte. In den letzten Jahren kam es aufgrund häufiger Differenzen zwischen der Regierung und der Opposition erneut mehrfach zur Auflösung der Nationalversammlung und anschließenden Neuwahlen. Eine der Ursachen der bis heute andauernden politischen Krise ist die Tatsache, dass die politischen Rechte der Madschlis wenig eigenen Gestaltungsspielraum bieten und hauptsächlich als Blockaderechte ausgestaltet sind, wie das oben ausgeführte Beispiel der Ernennung der Minister zeigt. Auch die Beteiligung an neuen Gesetzesvorhaben beschränkt sich in der Praxis auf ein Vetorecht gegen Vorschläge des Emirs bzw. des Kabinetts, was zu häufigen Blockaden des gesamten Prozesses führt.
Die Judikative als weitgehend unabhängige Instanz
Art. 50 der kuwaitischen Verfassung legt das Prinzip der Gewaltenteilung fest und gemäß Art. 53 haben die Gerichte die justizielle Gewalt inne, die sie im Namen des Emirs ausüben. Sie sind dabei absolut unabhängig (Art. 163) und jede Person hat ein Recht auf freien Zugang zu den Gerichten (Art. 166). Eine Besonderheit war bis 1961 die extraterritoriale Gerichtsbarkeit der Protektoratsmacht Großbritannien: Bis zu diesem Zeitpunkt übte der britische High Commissioner in Kuwait die justizielle Gewalt über britische Staatsangehörige sowie sonstige nicht-muslimische Ausländer aus und wandte dabei die eigenen Gesetze an. Erst mit der Unabhängigkeit erlangte Kuwait die Gerichtsbarkeit über alle Einwohner zurück.
Ein Gerichtssystem im westlichen Sinne besitzt der Golf-Staat seit 1959. Zuvor wurden Streitigkeiten (zwischen Kuwaitis bzw. Muslimen) grundsätzlich vom Emir selbst oder ausgewählten Mitgliedern der Herrscherfamilie entschieden; Straf-, Familien- und Erbsachen wurden islamischen Scharia-Richtern übertragen. Mit der Einführung des Gerichtsgesetzes von 1959 wurde die Justiz neu geordnet. Die allgemeine Gerichtsbarkeit gliedert sich nun in drei Instanzen: Die Gerichte erster Instanz auf unterster Stufe, mit getrennten Zivil-, Handels-, Straf- und Personenstandskammern; die Berufungsgerichte, die gegen Urteile der erstinstanzlichen Gerichte in allen Bereichen angerufen werden können; und der Oberste Gerichtshof oder Kassationsgerichtshof, der seit 1990 existiert und als letzte Revisionsinstanz fungiert. Dessen Rechtsprechung ist für die anderen Gerichte nicht verbindlich, wird aber in der Regel respektiert. Verwaltet wird das Gerichtssystem vom Obersten Justizrat, bestehend aus den höchsten Richtern und Justizbeamten. Im Zuge der Reform im Jahr 1959 wurden außerdem die islamischen Scharia-Gerichte abgeschafft. Alle Streitigkeiten, auch die traditionell islamisch geregelten Familien- und Erbangelegenheiten, werden nun vor den jeweiligen Kammern der säkularen Gerichte verhandelt. Diese untergliedern sich jedoch wiederum in sunnitische, schiitische und nicht-muslimische Kammern, welche die für die entsprechende Gruppe gültigen Gesetze anwenden; man spricht hier von konfessioneller bzw. interreligiöser Rechtsspaltung. Das bedeutet, dass für sunnitische Muslime, wie auch bei gemischten Parteien, das an der malikitischen Schule orientierte Personenstandsgesetz zur Anwendung kommt, während für Schiiten deren eigene Regeln im Einklang mit der Jafari-Rechtstradition angewendet werden. Die christliche Minderheit kann sich in diesen Fragen wiederum auf ihre eigenen religiösen Normen berufen. Dies wird als Ausdruck der Religionsfreiheit und Toleranz des Islam gegenüber anderen (Buch-)Religionen verstanden.
Im Jahr 1973 wurde zudem ein Verfassungsgericht geschaffen, das zur Interpretation der Verfassung sowie zur Überprüfung von Gesetzen und Wahlbeschwerden berufen ist. Die Urteile des Gerichts sind endgültig und verbindlich. Die fünf Verfassungsrichter werden in geheimer Wahl vom Obersten Justizrat gewählt. Das kuwaitische Verfassungsgericht gilt im regionalen Vergleich als relativ liberal und unabhängig und hat bereits einige kontroverse und auch regierungskritische Urteile erlassen, insbesondere in der jüngeren Vergangenheit. So hat es beispielsweise im September 2014 einem Antrag des Emirs, das Wahlgesetz von 2006 für verfassungswidrig zu erklären, um die Wahlbezirke – angeblich zu den eigenen Gunsten – neu einteilen zu können, nicht stattgegeben. Bei dieser und ähnlichen Gelegenheiten hat Kuwaits Emir öffentlich erklärt, er werde das Urteil des Verfassungsgerichts akzeptieren, unabhängig vom Ergebnis der Entscheidung. In anderen Urteilen wurden insbesondere die Rechte von Frauen gestärkt: Das Gericht entschied, dass weibliche Mitglieder des Madschlis nicht verpflichtet sind, Kopftuch (hidschab) zu tragen (ein diesbezüglicher Passus im Wahlgesetz sei zu vage) und dass Frauen zur Beantragung eines Reisepasses keine Genehmigung eines männlichen Vertreters benötigen (die entsprechende Norm verstoße gegen die verfassungsrechtlich gewährleistete persönliche Freiheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau).
Auch in anderen Golf-Staaten haben sich in den letzten Jahrzehnten Ansätze von rechtstaatlichen Strukturen entwickelt. So hat beispielsweise Bahrain, dessen Verfassung nach kuwaitischem Vorbild erarbeitet wurde , mittlerweile neben der vom König ernannten Kammer ebenfalls eine gewählte Nationalversammlung sowie ein Verfassungsgericht. Mit seiner spezifischen Entwicklung und vergleichsweise langen demokratischen Erfahrung sticht Kuwait jedoch heraus und beeinflusst die Debatte über die politischen Strukturen in den Golf-Staaten.
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