Országbeszámolók
Mit größtmöglicher Rücksichtslosigkeit gegenüber journalistischen Standards geht die anti-europäische Presse in Großbritannien in eine neuerliche Auseinandersetzung um die Zukunft der Europäischen Union und den Platz, den das Vereinigte Königreich darin einnimmt.
Wie auch bei früheren Kampagnen zeigen sich Politik und Öffentlichkeit, darunter auch viele Journalisten, die noch Gedanken auf Faktentreue und Ausgewogenheit verwenden, von der Massivität und Aggressivität der Attacken beeindruckt. Das Schweigen, das viele in dieser Situation als beste Antwort empfinden, trägt seit Jahren zu der Dominanz europa-skeptischer Stimmen bei.
In diesem Umfeld ist eine ganze Generation junger Politiker großgeworden, die heute bei Labour und Tories in die Verantwortung kommt. Bei ihnen geht eine emotionale Skepsis gegenüber Europa einher mit einem mangelnden Interesse zur Mitarbeit an den komplexen Themen der Europäischen Union. Beides macht es im Ergebnis immer schwieriger, unterschiedliche Konzepte sachgerecht zu überwinden.
Die Attacken insbesondere der Murdoch-Presse gegen Europa, die Premierminister Blair trotz enger Beziehungen zu Eigentümer und leitenden Redakteuren nie überwinden konnte oder wollte, und eine landesweite Kampagne der Tories hatten Blair bereits 2004 veranlasst, völlig überraschend eine Kehrtwende zu machen und ein Referendum zum damaligen Verfassungsvertragsentwurf anzukündigen. Wie er dessen Ausgang beurteilte, zeigten die regelmäßigen Anfragen seines Außenministers Jack Straw bei seinen Kollegen in Dänemark und Irland nach deren Daten für ihre Referenden. Und jedermann erinnert sich noch an die Erleichterung, mit der die britische Regierung schließlich die eigene Abstimmung nach den Ergebnissen von Frankreich und den Niederlanden absagen konnte.
Premierminister Blair hatte zu diesem Zeitpunkt bereits alle Chancen verpasst, seine Vorstellung umzusetzen, „to put Britain at the heart of Europe“. Seine parlamentarischen Mehrheiten nach der ersten Wiederwahl, sein Charisma, sein Enthusiasmus für Europa, die Einschätzung, er könne notfalls auch „über Wasser laufen“, waren ungenutzt geblieben.
Nun hat Blair erneut wissen lassen, es werde kein Referendum geben. Was in Brüssel am 21./22.Juni zur Verhandlung anstehe, sei vorangegangenen EU-Verträgen vergleichbar, die im Unterhaus mit einfacher Mehrheit verabschiedet wurden.
Aber da kommen die „Sun“, „Daily Mail“ oder der „Daily Telegraph“ auf die Idee, mit Gordon Brown zu versuchen, was so trefflich mit Tony Blair klappte. So macht die „Sun“ ihre künftige Unterstützung eines Premierministers Brown von dessen Zustimmung zu einem Referendum abhängig, andere veranstalten Umfragen unter ihren Lesern und fordern die Regierung warnend auf, deren Petitum (natürlich Referendum) nicht zu ignorieren, und Dritten geht es jetzt schlicht um die Zukunft Großbritanniens, die man selbstverständlich nicht ohne Volksabstimmung auf´s Spiel setzen kann. Aus den Sachthemen Europas ist längst eine innenpolitische Machtfrage geworden.
Die Wirkung bleibt nicht aus. Europaminister Hoon, der in einer Regierung Brown auch wieder werden möchte, was er schon einmal war – ein vollwertiges Mitglied am Kabinettstisch – erklärt überraschend, Brown könnte durchaus ein Referendum abhalten, beispielweise dann, wenn die britischen Forderungen in der Runde der 27 am Donnerstag und Freitag nicht durchgesetzt werden könnten.
Es entsteht so der Eindruck, Großbritanniens legitime Interessen stünden erstmals zur Diskussion, und natürlich müsse es in einer solchen Situation ein faires Geben und Nehmen geben.
Tatsächlich aber steht das Land im Begriff, nunmehr zum dritten Mal nacheinander seine Positionen bei weitgehend gleichbleibendem Sachverhalt immer weiter durchzusetzen, während eine Mehrheit von EU-Staaten ihre Vorstellungen zugunsten britischer Positionen mehrfach zurückschrauben mussten.
So war es zunächst bei den Verhandlungen im Konvent, anschließend bei den inter-gouvernementalen Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs und jetzt erneut bei den Gesprächen am Ende der „Denkpause“.
Allerdings haben die britischen Verhandlungsführer jedes Mal ihre Beiträge und Ergebnisse als einen Triumph britischer Politikkunst vermittelt, so auch 2004, als Blair und Straw den Verfassungsvertrag als einen großen Erfolg Großbritanniens verkauften und alle „Red-Lines“ beachtet fanden.
Wenn indes ein politischer Informations- und Diskussionsprozess nicht fortgesetzt wird, entsteht in der Wahrnehmung eine Form von politischer Diskontinuität. Anstatt also die Grundlagen der Entscheidungen von 2004 zu erläutern und weiter zu vertreten, wurde aus der Denkpause eine Ruhepause. Und dies trotz der britischen EU-Präsidentschaft 2005 und zweier fraglos bemerkenswerter Reden Blairs in Strassburg und Oxford.
Alle gefundenen Kompromisse schienen in dieser Zeit ihre Bedeutung verloren zu haben. Dies war gewollt angesichts der geringen Popularität des Themas. Aber jetzt rächt es sich.
Zumindest innenpolitisch startet Großbritannien die Debatte weitgehend von Neuem, und es scheint dabei heute nicht mehr zu gelten, was damals galt. Außenministerin Beckett, die im Unterhaus zumeist die Auskunft verweigert, wenn sie auf Europa angesprochen wird, sieht immer noch „starke Gegensätzlichkeiten“ und will auf keinen Fall nur „kosmetische Änderungen“ am neuen Entwurf akzeptieren.
Premierminister Blair muss begründen, warum er heute, anders als 2004, kein Referendum mehr für erforderlich hält. Er muss erneut einen Erfolg in der Sache präsentieren, mit dem er seine Zustimmung erklären und zugleich seine europapolitische Bilanz aufhellen kann. Und er muss seinen Nachfolger in einer Weise einbinden, die ihn auf eine Entscheidung verpflichtet, mit der Brown innenpolitisch zurechtkommen kann.
Heute hat Tony Blair dazu vor einem Ausschuss des Unterhauses seine Verhandlungsposition wie folgt zusammengefasst:
'We should be very clear about this... first, we will not accept a treaty that allows the Charter of Fundamental Rights (part of the original constitution) to change UK law. Secondly, we will not agree to something that displaces the roles of British foreign policy and our foreign minister.
Thirdly, we will not agree to give up our ability to control our common law and police system. And fourthly, we will not agree to anything that moves towards qualified majority voting.'
'We must have the right in these circumstances to determine it in unanimity. That's the position we will set out. If people want agreement then people have to agree on that.'
Am Dienstag Abend, 19. Juni 2007, treffen Blair und Brown in London den französischen Staatspräsidenten Sarkozy. Auch hier muss vermittelt werden, wie sehr der ausscheidende und der künftige Premierminister und Labour-Führer dem Rest Europas noch weitere Kompromisse abverlangen, die jedenfalls den verbliebenen Gutwilligen im Lande die Einsicht verschaffen, die Interessen Großbritanniens seien entschlossen und erfolgreich vertreten worden.
Ob dies durch die Sarkozy zugerechnete Aufnahme der alten Idee gefördert wird, Blair zum ersten Präsidenten der EU unter einer neuen „Verfassung“ zu machen, muss bezweifelt werden. Ein von vermeintlich eigenen Interessen geleiteter Verhandlungsführer wird noch mehr Schwierigkeiten haben, ein gefundenes Ergebnis als bestmögliche Lösung zu verkaufen.
Wenn es gleichwohl berechtigte Hoffnungen auf einen Kompromiss unter britischer Beteiligung gibt, so ist dafür nicht zuletzt der Wunsch verantwortlich, das Thema von der Tagesordnung zu bekommen. Auch wenn darauf hingewiesen wird, dass das Europa der 27 Mitglieder selbst ohne neue Vereinbarung nicht im Chaos versinkt, wird der Regelungsbedarf im Übrigen weitgehend anerkennt.
An Gordon Brown ist bislang der Versuch abgeprallt, sich gegen Blair in der Europa-Frage in Stellung bringen zu lassen. Seine Bereitschaft, am Abendessen mit Sarkozy teilzunehmen, lässt erkennen, dass er an einem gemeinsamen Ergebnis interessiert ist. Angesichts einer langen Hinterlassenschaft, die von Irak über die Besonderheiten der Britisch-Amerikanischen Beziehungen zu den innenpolitischen Themen, und hier insbesondere der Eingrenzung des Erfolgs der Tories im Wettbewerb mit Labour reicht, muss er die von Blair vererbten Probleme nicht noch durch ein Scheitern des EU-Gipfels verlängern. Wenn er – wie es scheint – keine kurzfristig angesetzten Neuwahlen plant, braucht er die kritische, öffentliche Debatte zur Zeit nicht beachten. Ihr Einfluss auf die Labour-Abgeordneten bei einer Entscheidung zum EU-Vertrag im Parlament wird begrenzt durch den Umstand, dass kein Labour-MP seinem neuen Premier gleich zu Anfang eine Niederlage wird bereiten wollen.
Bei den Tories sind die Einlassungen von David Cameron und William Hague zur EU-Debatte maßvoll, misst man sie an Erklärungen ihrer Vorgänger bei vergleichbaren Anlässen. Dass sie Blair nachsetzen und sein Versprechen eines Referendums anmahnen, entspricht der Logik der bisherigen Argumentation und innenpolitischen Zwangsläufigkeiten. Die Konservativen haben das Thema, nicht zuletzt aus innerparteilichen Gründen, nicht gewollt, und finden auch wenig Reiz daran. Sie werden auf die Regierung einschlagen, wenn ein Ergebnis des Gipfels vorliegt, aber zugleich werden sie froh sein, wenn die Strukturfragen der Europäischen Union nicht mehr als offene Punkte ihre Arbeit beeinträchtigen, wenn die Tories – nach jetziger Erwartung – bei den nächsten Wahlen die Regierung übernehmen.
David Cameron wird kein Interesse daran haben, das moderne, offenere Image, das die Tories unter seiner Führung erworben haben, durch eine Debatte über Europa gefährden zu lassen, bei der die Stimmen und Gesichter der Vergangenheit von Bill Cash und anderen aus der verdienten Versenkung auferstehen.
Deshalb spricht viel dafür, das Thema zu einem schnellen Ende zu bringen oder wieder einmal – wie Jack Straw 2004 - in Kopenhagen oder Dublin nach dem dortigen Referendum-Termin zu fragen.
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Auslandsbüro Vereinigtes Königreich und Irland
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