Bereits in der Begrüßungsrede machte der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Prof. Dr. Norbert Lammert, auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Arbeit des Gerichts aufmerksam. Er selbst hob die in Deutschland gefundene Balance zwischen Verfassungsorganen, Öffentlichkeit und Wissenschaft als ein weltweit rares Verhältnis hervor, und trat damit einer Einschätzung entgegen, die Karlsruhe zum Jubiläum Schwäche, Mutlosigkeit und schwindende Raffinesse attestierte. In einem Schnelldurchlauf skizzierte der Göttinger Staatsrechtler, Prof. Dr. Frank Schorkopf, die wichtigsten Entscheidungen des vergangenen Jahres und verdeutlichte, dass 2021 neben der Bundesnotbremse noch einige weitere verfassungsrechtliche Highlights zu bieten hatte.
Karlsruher Jubiläumsjahr - Teil 1
Auch beim diesjährigen Rückblick führte kein Weg am Thema Corona vorbei. Nicht nur fand die Veranstaltung aufgrund der weiterhin angespannten pandemischen Lage in hybrider Form statt. Auch setzten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im ersten Block intensiv mit den Entscheidungen der Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter zu den Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sowie Schulschließungen auseinander. Die sowohl von Seiten der Politik als auch der Gesellschaft sehnsüchtig erwarteten Beschlüsse waren nicht zuletzt aufgrund der richtungsweisenden Kraft für zukünftige Maßnahmen von herausragender Bedeutung. Prof. Dr. Anna Bettina Kaiser von der Humboldt-Universität zu Berlin untersuchte die Beschlüsse auf ihre Gründlichkeit in der verfassungsrechtlichen Prüfung und setzte sich mit dem Vorwurf auseinander, dass Gerichte der Politik in Krisenzeiten vermehrt unkritisch gegenüberstünden. Juniorprofessorin Dr. Anika Klafki von der Friedrich-Schiller-Universität Jena betonte die negative Symbolwirkung der nächtlichen Ausgangssperren in einer Demokratie. Aus guten Gründen könne man die Entscheidung, so das Resümee der Juniorprofessorin, kritisieren, „ein Skandalon ist sie jedoch nicht.“ Als Stimme der Politik betonte der erste parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU Fraktion, Thorsten Frei MdB, in der von LTO-Redakteurin Annelie Kaufmann moderierten Debatte den klar vorgegebenen Rahmen der Ausgangssperren und die kontinuierlich dagewesene demokratische Kontrolle des Parlaments. Sogar wagten die Rednerinnen und Redner auf eine Frage aus dem Plenum hin vorsichtige Mutmaßungen über Aussagen der Entscheidung zur allgemeinen Impfpflicht als zukünftiges Mittel zur Pandemiebekämpfung.
Karlsruher Jubiläumsjahr - Teil 2
Der unscheinbare Beschluss aus Karlsruhe vom Jahresbeginn, der dem zweiten Panel zugrunde lag, beschäftigte sich mit einer Wahlprüfungsbeschwerde zur Bundestagswahl 2017. Die Beschwerdeführerinnen machten darin die Ungültigkeit der Wahl geltend, da die Parteien ihre Kandidierenden nicht paritätisch nominiert hatten. PD Dr. Patrick Hilbert beleuchtete zu Anfang das formale Repräsentationsverständnis des Bundesverfassungsgerichts sowie die Bedeutung und den Inhalt des Prinzips der Gesamtrepräsentation. Zwar erteile das Bundesverfassungsgericht der Pflicht zur paritätischen Aufstellung eine klare Absage. „Damit ist aber nicht gesagt, dass Paritätsregelungen gänzlich ausgeschlossen sind. Sie sind lediglich eine begründungsbedürftige Ausnahme“, so Hilbert. Prof. Dr. Judith Froese von der Universität Konstanz betonte, dass der Beschluss weder eine genaue Anleitung für Paritätsregelungen in der angestrebten Wahlrechtsreform bereithalte, noch klare No-Gos aufzeige, der reinen Möglichkeit von paritätischer Besetzung jedoch nicht im Wege stehe. Auf die Frage von Moderatorin, Dr. Helene Bubrowski (FAZ), hin, erklärte sie den häufigen Verweis auf die nicht substantiierte Darlegung in der ausführlich begründeten Entscheidung als Indiz dafür, dass sich das Gericht die Frage weiterhin offenhalten wolle. Es bleibt somit abzuwarten, ob und in welcher Ausgestaltung Paritätsregelungen Eingang in das Wahlrecht finden werden.
Karlsruher Jubiläumsjahr - Teil 3
Zum Anlass des siebzigjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts nach seiner Gründung am 7. September 1951 widmete sich der finale Teil der Veranstaltung dem Gericht selbst. Seine Bedeutung im Wandel der Zeit wurde durch Einschätzungen von Referenten aus In- und Ausland, aus Politik und Wissenschaft und somit aus unterschiedlichen Blickwinkeln analysiert. Russell Miller, Head of the Max Planck Law und Professor an der Washington and Lee University in Virginia, präsentierte in seinem Eingangsplädoyer eine amerikanische Sicht auf das deutsche Verfassungsgericht. Er stellte in seinem Statement die These auf, dass das Bundesverfassungsgericht nach bemerkenswerten Erfolgen wie dem Export des Verhältnismäßigkeitsprinzips nun einen Bedeutungsschwund erfahre. Gründe dafür seien unter anderem die Unzugänglichkeit der deutschen Sprache, der Rückgang des internationalen Einflusses infolge der europäischen Integration sowie der nüchterne Stil der Entscheidungen. Der Politikwissenschaftler, Prof. Dr. Oliver Lembke, von der Ruhr-Universität Bochum bewertete diese Entwicklung als einen „normalen Prozess der Ausdifferenzierung“, nachdem das Gericht in den Anfangsjahren seine Stellung behauptet hatte. Als grundsätzlich positive Gegebenheit und ein Zeichen für die Funktionalität des Systems bewertete Prof. Dr. Günter Krings MdB die angesprochene Tatsache, dass das Gericht weniger hart durchgreife und somit weniger präsent in der öffentlichen Wahrnehmung sei. Die Vorstellung, dass ein Gericht laut und kontrovers sein müsse wie der Supreme Court in den USA, sei der deutschen Rechtskultur nicht inhärent. Kritisch sah PD Dr. Andreas Kulick den Rückgang der Sondervoten. Konsens habe zwar einen gewissen Befriedungseffekt, so Kulick, eine pluralistische Gesellschaft brauche jedoch die Repräsentation mehrerer Stimmen. Der von Moderatorin Gigi Deppe (SWR) angestoßene Blick in die Zukunft offenbarte vor allem Vorhersagen der Rednerinnen und Redner zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Gesamtgefüge. Ob das Bundesverfassungsgericht somit im Laufe der letzten Jahre vom „entgrenzten“ zum „begrenzten“ Gericht geworden ist, ist und bleibt eine Frage der Perspektive.
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