Առանձին հրապարակում
Tunesien stand mit der Flucht seines Präsidenten
Zine el-Abidine Ben Ali am 14. Januar
2011 nach Saudi Arabien politisch und in
weiten Teilen gesellschaftlich am Anfang der
Stunde Null, wirtschaftlich nicht weit davon
entfernt. Der Implusion der Macht- und vor
allem Abhängigkeitsstrukturen Ben Alis, der
umtriebigen Geschäfte seiner Frau und ihrer
Familie sowie des dominanten Sicherheitsund
Kontrollapparates, einschließlich der
bis dato parallel-staatlich organisierten und
präsenten Staatspartei Rassemblement Constitutionnel
Démocratique (RCD), machten
einen Neuanfang nicht nur möglich, sondern
dringend notwendig.
Drei Übergangsregierungen
Zwei Übergangsregierungen – zum Teil besetzt
mit Mitgliedern des mittlerweile aufgelösten
RCD – unter dem ehemaligen Premierminister
Mohammed Ghannouchi mussten
letztlich dem Druck der Straße und den
anhaltenden Auseinandersetzungen unter
den Regierungsmitgliedern selber weichen.
Ende Februar nahm Interims-Staatspräsident
Fouad Mebazaâ den Rücktritt Ghannouchis
an und vertraute dem 84-jährigen Beji Caid
Essebsi, einst Minister unter Bourguiba und
frei von jedem Verdacht, sich während der
Zeit Ben Alis kompromittiert haben zu lassen,
die Regierungsgeschäfte an.
Ghannouchi wich nicht nur aufgrund des
Protests der Straße, sondern auch wegen
der Ungewissheit, was verfassungsrechtlich
und politisch mit Tunesien passieren sollte.
Präsident Mebazaâ wäre nach der zu dieser
Zeit noch geltenden Verfassung gezwungen
gewesen, spätestens bis zum 15. März 2011
einen neuen Präsidenten wählen zu lassen.
Dies jedoch stellte sich vor dem Hintergrund
der politischen Lage weder der Bevölkerung
noch den sich neu formierenden politischen
Kräften als vermittelbar dar. Denn eine solche
Wahl hätte – selbst bei einigen kurzfristigen
Änderungen – zwangsläufig auf der
Grundlage der alten, durch die 23-jährige
Regierungszeit Ben Alis in den Augen der
Bevölkerung total diskreditierten Verfassung
geschehen müssen.
Beginn einer geplanten Transition
Die Gründung der dritten Interims-Regierung
unter Essebsi kann somit auch als Befreiungsschlag
und Anfang einer nunmehr geplanten,
da nicht mehr ziellosen Transition verstanden
werden. Präsident Mebazaâ gab in einer
Fernsehansprache am 3. März 2011 den von
der Bevölkerung lang erwarteten Fahrplan
dazu bekannt, indem er für den 24. Juli 2011
die Wahlen zu einer Verfassungsgebenden
Versammlung ankündigte, deren vorrangige
Aufgabe es sein soll, eine neue Verfassung
für die Zweite Republik auszuarbeiten und
die sich daran anschließenden Parlamentsund
Präsidentschaftswahlen vorzubereiten.
Die bereits in der ersten Übergangsregierung
eingesetzte Hohe Kommission für die politischen
Reformen unter Yadh Ben Achour
wurde damit beauftragt, die notwendigen Voraussetzungen
zu schaffen. Seitdem hat die
Transition in Tunesien zumindest eine Hausnummer,
jedoch stellt sich der politische, gesellschaftliche
und vor allem wirtschaftliche
Übergang nicht ohne Stolpersteine dar.
Hauptproblem Wirtschaft
Ein entscheidendes Problem der nach-revolutionären
Zeit in Tunesien liegt insbesondere
in der wirtschaftlichen Entwicklung: Bis
Ende Mai alleine sollen sich die Arbeitslosenzahlen
auf 700.000 erhöht haben, manche
Beobachter gehen davon aus, dass bis zum
Sommer die Millionengrenze überschritten
wird, wobei der informelle Bereich gar nicht
erfasst ist.
Der Tourismusminister erklärte in einer
Pressekonferenz im April, dass die Einnahmen
im Tourismusbereich im Vergleich zum
Vorjahr bereits um 48% gesunken seien.
Kehrtwende: Nicht absehbar.
Kurzfristig erneut aufkommende Unruhen
Anfang Mai sorgten für eine Verhängung der
Ausgangssperre, die mittlerweile wieder aufgehoben
wurde. Auch gibt es immer wieder
Zwischenfälle mit randalierenden und vandalierenden
Gruppen, die die Sicherheitskräfte
vor große Herausforderungen stellen. Hinzu
kommen die sich jede Woche neu formierenden
Streiks, mal der Müllabfuhr, mal der
Richter.
Der Illusion, dass sich alles innerhalb kürzester
Zeit verbessern würde, haften noch viele
an, jedoch ist das Gegenteil, wie so oft bei
Übergängen, zunächst der Fall. Zahlreiche
Offshore-Firmen, die in Tunesien Tausende
Arbeitsplätze sichern, haben Personal abgebaut
oder stehen vor der Schließung.
Ein derzeit wichtiger Lichtblick: Die Aussicht
auf eine sehr gute Ernte, die jedoch viele
Bauern veranlassen könnte, Bürgerwehren zu
gründen, um sich vor möglicher Zerstörung
durch Schutzgelderpresser zu wehren.
Unterstützung durch
Gelder und Expertise
Die Perspektiven der wirtschaftlichen Entwicklung
werden denn auch als Schlüssel für
den Erfolg einer demokratischen Transition
angesehen: Die „Gruppe der 21“, ein internationaler
wirtschaftspolitischer Expertenkreis,
der Tunesien im Vorfeld des G8-Gipfels beraten
hatte, bezifferte die notwendige Summe,
die das Land benötige, bereits auf 20 bis 30
Milliarden US-$. Der Gipfel in Deauville
beantwortete diese Forderungen mit einem
umfassenden Angebot partnerschaftlicher
Zusammenarbeit über die G8-Staaten hinaus,
das insgesamt 40 Milliarden US-$ für Tunesien
und Ägypten umfassen soll.
Die deutsche Bundesregierung zielt zudem
darauf ab, dem tunesischen Arbeitsmarkt auf
der einen Seite kurzfristig Entspannung, auf
lange Sicht jedoch auch wieder Expertise zuführen
zu können, indem Ausbildungspartnerschaften
insbesondere mit in Tunesien ansässigen
deutschen Firmen getroffen werden.
„Invest in Democracy“: Schnell zur neuen Verfassung
Die wirtschaftliche Entwicklung wird somit
einen entscheidenden Anteil daran haben, ob
der politische Übergang, über den derzeit erneut
heftig diskutiert wird, gelingt. Inwiefern
die sich langsam erholende tunesische Wirtschaft
auf Dauer nachhaltig sein kann, hängt
nicht ganz unwesentlich von den nächsten
politischen Schritten ab.
Obwohl bereits viele im Vorfeld der Vorbereitungen
kritisiert hatten, dass die Wahl zur
Verfassungsgebenden Versammlung zum anberaumten
24. Juli weder logistisch noch mit
Blick auf die bis dato 81 registrierten Parteien
realisierbar sei, entschied der Ministerrat
– auch vor dem Hintergrund der politischen
Glaubwürdigkeit –, an dem gesetzten Termin
festzuhalten. Präsident Mebazaâ erließ daher
bereits am 20. Mai 2011 das entsprechende
Dekret zur Durchführung des Wahlgangs,
das am 24. Mai 2011 veröffentlicht wurde.
Mehr oder weniger zeitgleich formierte
sich jedoch Widerstand gegen dieses Datum
von Seiten der ebenfalls erst Mitte Mai gegründeten
neuen unabhängigen Wahlkommission,
deren Präsident, Kamel Jendoubi,
Ende Mai für eine Verschiebung des Termins
auf den 16. Oktober plädierte.
Die Übergangsregierung weiß um die
Schwierigkeiten, die sich bei der Erstellung
der neuen Wahllisten und Registrierung der
Wähler, zumal etwa knapp 1 Millionen Tunesier
über keine Identitätskarte verfügen,
stellen werden. Doch scheint man diese in Kauf zu nehmen, auch weil eine Verschiebung
zu nicht kalkulierbaren wirtschaftlichen Risiken
und weiterer Instabilität führen könnte.
Die Wahlen werden von Regierungsseite als
entscheidendes Vertrauenszeichen auch gegenüber
inländischen wie vor allem ausländischen
Investoren gesehen. Zudem hat die internationale
Gemeinschaft die Überweisung weiterer
Hilfsgelder in Höhe von 5 Milliarden Euro
für die Zeit nach den Wahlen angekündigt.
Die Beibehaltung des ursprünglichen Termins
ist daher für die Regierung Essebsi auch eine
logische Konsequenz der gerade gestarteten
Wirtschaftskampagne „Invest in Democracy“,
die der Logik verhaftet ist, dass durch
eine bald gewählte Verfassungsgebende Versammlung
Stabilität und damit auch wieder
Vertrauen wachsen, von denen auch positive
wirtschaftliche Impulse ausgehen würden.
Baldige Wahlen: Wer proftiert?
Die Kritik derjenigen, die für eine Verschiebung
plädieren, ist dabei in weiten Teilen
nicht von der Hand zu weisen: Kamel Jendoubi
führt zu Recht die verbleibende Zeit
der Vorbereitung als nicht zufriedenstellend
an. Aber über dieses Faktum hinaus stellt
sich mit dem Festhalten am ursprünglichen
Wahltermin vor allem die Frage, wer von den
mittlerweile über 80 registrieren Parteien davon
am ehesten profitieren würde?
Mitten in diese Diskussion hinein veröffentlichte
die Firma SIGMA Ende Mai eine
repräsentative Umfrage, deren Ergebnisse in
den nächsten Wochen noch viel Zündstoff für
Diskussionen liefern werden. Demnach würden
15% der bereits entschiedenen Wähler die
islamistische Ennahda-Partei wählen, knapp
gefolgt von der Demokratischen Fortschrittspartei
(PDP) Najib Chebbis mit 14,6%. Weit
abgeschlagen wäre dagegen das Demokratische
Forum für Arbeit und Freiheit (FDTL) mit
etwas über 5%.
Die aktuelle Situation und das Festhalten
am ursprünglichen Wahltag dürften daher vor
allem den beiden Parteien Ennahda und PDP
dienen, die sich folglich auch für die Beibehaltung
des Termins aussprachen. Gerade die
neuen Parteien hätten aufgrund der geringeren
Zeit, die ihnen zur Verfügung stünde, kaum
Chancen, sich erfolgreich zu organisieren, geschweige
denn zu etablieren. Ein entsprechend
starkes Abschneiden der Ennahda-Partei und
der PDP erstaunt nicht wirklich, sind es doch
beides Bewegungen, die bereits vor dem 14.
Januar politisch aktiv waren und über entsprechende
Strukturen sowie einen relativ hohen
Organisationsgrad verfügten.
Islamisten: Tatsächlich gemäßigt?
Fraglich bleibt für viele Beobachter, ob die
mittlerweile „gemäßigten“ Vertreter der Ennahda
tatsächlich die politischen Ziele verfolgen,
die sie seit dem 14. Januar predigen:
den tunesischen Gesellschaftsentwurf, insbesondere
die Errungenschaften im Bereich der
Gleichstellung von Mann und Frau, Respekt
und Toleranz vor Andersdenkenden und Minderheiten
sowie die nicht ausschließliche Formulierung
von Gesetzen aufgrund der Scharia,
bewahren zu wollen. Die Ergebnisse der
gleichen Umfrage legen zumindest nahe, dass
die Mehrheit der Tunesier nicht bereit ist, hier
hinter das Erreichte zurückzutreten. Demnach
plädieren 75% der Tunesier für die gleichen
Rechte von Muslimen und Nicht-Muslimen in
der Gesellschaft, gut 70% gaben an, dass Gesetze
nach den Bedürfnissen der Gesellschaft
und den Wünschen der Menschen formuliert
werden sollten und nur in wenigen Fällen auf
Grundlage der Scharia. Die Ergebnisse zeigen
zumindest an, dass die gesellschaftliche Orientierung
Tunesiens nach wie vor eine breite,
offene und moderate ist, und dies landesweit.
Noch viele offene Fragen
Ungeachtet des Wahldatums, über das in den
nächsten Wochen sicherlich weiterhin diskutiert
werden wird, verlangt jedoch eine weitere
Frage nach einer Lösung: Ist der neu zu wählenden
Verfassungsgebenden Versammlung
wirklich die gesamte Arbeit der Formulierung
einer neuen Verfassung zu überlassen? Sollten
nicht durch eine gemischte Kommission aus
der Übergangsregierung und der politischen
Reformkommission bereits Vorarbeiten geleistet
werden, einschließlich eines festen Zeitplans
und Mandats für die Versammlung?
Was genau wird das darüber hinausreichende
Mandat der Versammlung sein?
Nach jetzigem Stand wird mit dem Zusammentreten
der Verfassungsgebenden Versammlung
die gesamte Übergangsregierung,
deren Mitglieder sich zudem verpf lichtet
hatten, nicht selber zu kandidieren, zurücktreten.
Einen neuen Regierungschef und vorübergehenden
Staatspräsidenten zu wählen,
wird dann Aufgabe der Versammlung sein.
Doch unter welchem zeitlichen Horizont die
Arbeiten der Versammlung an einer neuen
Verfassung stattfinden sollen, wie lange die
neue Regierung im Amt bleibt, inwiefern
das dann vielleicht für 2012 anberaumte Verfassungsreferendum
auch mit ordentlichen
Wahlen zum Parlament und zum Staatspräsidentenamt
verbunden wird – auf diese Fragen
gibt es bis jetzt noch keine Antworten.
Erschienen in der afrikapost 2/2011.