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Առանձին հրապարակում

Georgi Gospodinov:

Fakten sind heilig – das war einmal

Die Eröffnungsrede des bekannten bulgarischen Schriftstellers Georgi Gospodinov während der Konferenz «Verschleierung der Wahrheit. Desinformation in Südosteuropa», organisiert vom KAS-Medienprogramm in Sofia am 4. April 2023

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բաժնետոմս

Wir leben in wilden Zeiten. Es jagen sich die Krisen, und jede neue Krise zehrt an der Substanz des Menschlichen. Der Zukunftsglaube und der Wahrheitsbegriff sind uns abhandengekommen. Was können wir tun, um uns nicht am Zeitgeist zu vergiften?

Wären alle Menschen darüber im Bild, was einer über den anderen denkt und sagt, gäbe es keine vier Freunde auf der Welt. Das schreibt Blaise Pascal einige Jahrhunderte vor dem Auftauchen der sozialen Netzwerke. Seinen Worten liegt die plausible Annahme zugrunde, dass es unmöglich ist, dass einer jemals genau wissen kann, was die anderen von ihm halten. Heute wissen wir, dass es doch möglich ist. Und in Bezug auf die möglichen Freunde scheint die Zahl vier gar stark übertrieben. Die Welt hat Risse bekommen und ist in eine Unmenge von winzigen Teilen zersplittert. Sie hat sich in einige Milliarden Medien aufgespalten: Jeder von uns ist ein Medium, und jedes dieser Medien buhlt mit dem anderen um Aufmerksamkeit. So werden wir heutzutage bombardiert mit Propaganda und Desinformation, welche Spaltung und Hass verbreiten. Mir scheint, als gehe diese Situation auf den klassischen menschlichen Fehler zurück, Dinge zu unterschätzen und Entwicklungen gegenüber blind zu sein. Zunächst einmal haben wir die Kraft der Worte und die Macht der Geschichten unterschätzt. In den postsozialistischen osteuropäischen Gesellschaften konnte dies geschehen, weil wir über ein halbes Jahrhundert lang mit offener und kruder Propaganda bearbeitet wurden und zu einem gewissen Grad ihr gegenüber abstumpften. Der grosse polnische Dichter Zbigniew Herbert fasste es so in Worte: «Wahrlich deren Rhetorik war zu grob gesponnen [. . .] / die Dialektik von Schergen in den Schlüssen keinerlei Feinheit» (übersetzt von Oskar Jan Tauschinski, Suhrkamp 2016).

Das Gegenteil dürfte stimmen

Aber wie ist es nach dieser epochalen Erfahrung möglich, dass wir nach wie vor anfällig sind gegen üble Ideologen und falsche Ideologien? Einerseits war die Propaganda von damals ineffektiv und leicht zu durchschauen, andererseits jedoch schuf sie einen dauerhaften Verdacht gegenüber dem öffentlichen Diskurs, auch die Stellungnahmen der staatlichen Institutionen wurden suspekt. So gewöhnten sich in Osteuropa mehrere Generationen daran, dass die Wahrheit nichts ist, was einem offiziell mitgeteilt wird – offiziell kann sie eigentlich nur verschwiegen werden. Der einfachste Mechanismus, sich die Wahrheit zu erschliessen, besteht demnach darin, das Gegenteil des Gesagten zu glauben. 1986 liessen die bulgarischen staatlichen Behörden verlauten, die radioaktive Strahlung der aus Tschernobyl heranziehenden Wolke bewege sich unterhalb der zulässigen Grenzwerte – ebendies war das Zeichen dafür, dass es schlimm stehen musste, zumal man sich trotzdem Jodtabletten zu besorgen hatte. Vor kurzem sagten dir die staatlichen Medien, dass dich die Covid Impfung vor dem möglichen Tod retten würde, und du legtest dir zurecht, dass es sich in Wahrheit umgekehrt verhalten müsse, was heisst: Du wirst dich aus Trotz nicht impfen lassen. Nicht zufällig gehörte Bulgarien zu den Ländern mit der niedrigsten Durchimpfungsrate in Europa und der Welt.

Die gewünschte Interpretation

Die kommunistische Propaganda ist Vergangenheit, aber das von ihr gesäte Misstrauen ist geblieben. Als sich in den letzten Jahren die Rhetorik des Populismus verbreitete, fand dies auch sprachlich seinen Niederschlag, und wir waren darauf nicht vorbereitet. «Die Macht des Geschmacks» (so der Titel des in Teilen zitierten Gedichts von Zbigniew Herbert), von dem wir dachten, wir hätten ihn zu Zeiten des Kommunismus als Teil des Widerstands ausgebildet, zerbrach plötzlich angesichts der verführerischen Reden. Wir erkannten sie nicht gleich als Propaganda. Anfangs schienen uns all die Geschichten von der Flachheit der Erde und den die Menschheit bedrohenden, künstlich erzeugten Giftwolken harmlos und komisch zu sein. Die erste Erschütterung verspürten wir, als solch seltsame Verschwörungstheorien in den USA einen Präsidenten an die Macht brachten, der wirkte, als wäre er einem hoffnungslos veralteten TV-Showprogramm entsprungen. Dabei versprach er, Amerika wiederso gross zu machen, wie es einst gewesen sein soll. Bis dato hatten alle amerikanischen Präsidenten von der Verheissung der Zukunft gesprochen, er aber liess seine Anhänger sich an der Vergangenheit berauschen. Und er gewann damit die Wahlen. Die zweite Erschütterung erfolgte mit der Corona-Pandemie. Damals begriffen wir, dass die Verschleierung der Wahrheit nicht nur politisch gefährlich ist, sondern auch im physischen Sinn existenzbedrohend sein kann. Aufgrund von Verschwörungstheorien und von blinde Angst verbreitenden Narrativen bezüglich der Impfung fanden viele Menschen einen Tod, der möglicherweise vermeidbar gewesen wäre. Die dritte und stärkste Erschütterung war der Überfall Russlands auf die Ukraine. Dieser Krieg begann nicht erst am 24. Februar 2022 mit dem Vorstoss von Putins Armee auf ukrainisches Territorium, er hatte 2014 mit der Besetzung der Krim und den inszenierten «Volksaufständen» im Donbass angefangen und schon vorher als Propagandakrieg gewütet. Putin ging es darum, die Vergangenheit umzuschreiben – dies in Vorbereitung des Versuchs, dem historischen Phantasma irgendwann Realität zu verleihen.

Das tiefere Wissen der Literatur

Wir mögen Strategien wie jene von Putin intellektuell durchschauen, die Frage aber ist, ob es uns auch gelingt, die entscheidenden Dinge anders zu erzählen. Nicht einfach mit Fakten und Zahlen, sondern als die Geschichte von körperlichen und seelischen Erfahrungen, die sich darin verbergen. Denn der Kampf gegen Verschwörungstheorien und Desinformation ist nicht nur ein Kampf um die Wahrheit, sondern ein Kampf darum, wie man diese Wahrheit den Leuten nahebringt. Das Problem reicht tief, und die Dinge sind auf perfide Weise kompliziert geworden. Denn Fakten allein genügen nicht mehr, da sie leicht zu manipulieren sind. Jede Tatsache kann mittels einer Verschwörungstheorie widerlegt werden. Die klassische Behauptung, die als Motto über der Kommentarseite des «Guardian» steht, «Comments are free, but facts are sacred», steht mittlerweile kopf, denn heute sind eher die Kommentare heilig geworden: Gebt mir die gewünschte Interpretation vor, und ich finde die Fakten für euch. Ich spreche hier von Erzählungen und Geschichten, und das hängt mit der Literatur zusammen, von der her ich komme. Mir scheint, als würde die Literatur in dieser unserer verfahrenen Situation immer wichtiger werden. Vor vielen Jahren schrieb ich, dass unsere Krisen andere wären, wenn Politiker und Ökonomen Bücher lesen würden. Es gibt Epochen, in denen Anton Tschechow, Franz Kafka, Thomas Mann oder Virginia Woolf grösseres Wissen über unsere Krisen vermitteln, als die Experten es zu tun vermögen. Ich denke, das gilt auch für unsere Zeit. Literatur erscheint mir als ein natürliches Antidot, als Gegengift gegen Fake News. Diese erheben zwar ebenfalls den Anspruch, den Menschen die Welt zu erklären, sie tun dies jedoch auf billige, banale und betrügerische Weise. Stets verfolgen sie ein definiertes Ziel und damit den eigenen Vorteil. Nun könnte man sagen, dass auch Literatur Fiktion ist, Erfindung. Doch gibt es einen wesentlichen Unterschied. Eine Fiktion ist keine Lüge, sie entwirft eine mögliche Welt, in der komplexe Figuren leben, ihren Weg gehen, glücklich werden oder scheitern, leiden und sterben. Figuren, mit denen wir uns identifizieren, mit denen wir mitfühlen können. Lesend sammeln wir existenzielle Erfahrungen, entwickeln wir ein Verständnis für die Anderen und eine andere Welt. Literatur ist somit das Gegenteil von Verschwörungstheorie, die immer alles auf einen einzigen, mit Absicht geheim gehaltenen Grund zurückzuführen sucht. Hinzu kommt die Macht der vielstimmig erzählten Geschichten. Wenn Literatur den Leser dazu bringt, sich in Figuren einzufühlen, weckt sie in ihm die Fähigkeit zur Empathie. Im heutigen unsichtbaren Krieg gegen Ideologie und Desinformation, in einer gespaltenen Welt, wo die Produktion von Hass und Feindschaft zu einer Industrie geworden ist, kommt der Empathie lebenswichtige Bedeutung zu. Emotionale Intelligenz schlägt soziale Dummheit. Wo sie uns alle eine individuelle Weltsicht lehrt, verhindert sie eine mögliche Massenpsychose.

Das wichtigste Ziel von Literatur, Kultur und Bildung ist es, die «Macht des Geschmacks» zur Entfaltung zu bringen. Denn ein Mensch mit Geschmack und Stil erliegt nicht so leicht der Propaganda. Beides muss ein Teil der Widerstandskraft der heutigen Gesellschaft werden. Darum ist die geistige Produktion eines Landes in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Sie ist Teil der nationalen Sicherheit. Wenn die Staaten ihre Ausgaben für Rüstung auf Kosten von Kultur und Bildung blind erhöhen, ist dies ein strategischer Fehler. Denn die neuen Kriege und die neuen Krisen finden auch auf dem Feld des Herzens statt. Wir sind auch aus Zeichen und Worten gemacht. Früher gab es die grosse gesellschaftliche Erzählung vom Fortschritt, von der utopischen Zuversicht, dass alles besser würde. Heute herrscht Weltuntergangsstimmung, grassiert Pessimismus. Corona-Pandemie, Klimawandel, Energiekrise, Migration und Ukraine-Krieg lauten die Stichworte. Es ist leicht, die Menschen bei ihrer Angst und ihrer Einsamkeit, ihrer Verwirrtheit und Verzweiflung abzuholen.Das wissen diejenigen genau,welche das Geschäft der Desinformation undKonspiration betreiben. Mit dem Ukraine-Krieg sind wir letztes Jahr an den Punkt gekommen, wo es gilt, zusammenzustehen, das Recht und die Würde des Menschlichen zu verteidigen. Aber ist es denn möglich, Fake News im Einzelnen zu widerlegen? Die Widerlegung einer Lüge ist leider nicht so interessant wie die Lüge selbst, auch kann sie mit deren Tempo nicht mithalten. Wie der bulgarische Schriftsteller Čudomir schrieb: «Während die Wahrheit sich bückt, um sich die Schuhe zu binden, hat die Lüge bereits die Erde umrundet.» Und doch, Fake News müssen Lügen gestraft werden. Immer und sofort. Aber langfristig gesehen ist es entscheidender, dass wir auf Dinge setzen, die dauerhaft auf eine bessere Zukunft verweisen. Dass wir junge Menschen positiv beeinflussen und in ihre Bildung investieren. Dass wir ihr kritisches Denken fördern, ihre Fähigkeit zu Analyse, Reflexion und Empathie. 

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