Die Nachrichtenlage zu Afghanistan wird zusehends dünner. Ausländische Journalistinnen und Journalisten erhalten zwar Visa und können nach Afghanistan reisen, aber mit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und zuletzt den anhaltenden Protesten im Iran ist die Krisenberichterstattung weitergezogen. Über soziale Medien lässt sich allerdings ein Mosaik zu individuellen Lebenssituationen im Land zusammenfügen. Eines wird dabei schnell klar, in Afghanistan herrscht wieder „Krisennormalität“, wie schon vor der Machtübernahme der Taliban: ein Anstieg von Anschlägen, aber unter dem Niveau der letzten Jahre; eine Finanz- und Zahlungskrise, aber die gibt es nun durch die Inflations- und Energiekrise womöglich auch in anderen Ländern; wirtschaftliche Verelendung und Mangelernährung, aber auch diese waren schon unter der alten Regierung auf einem kaum hinnehmbaren Niveau. Bleibt noch das Thema um die Frauen- und Freiheitsrechte, darunter insbesondere die Frage der Bildungs- und Berufsfreiheit für afghanische Frauen. Auch hier ist zu befürchten, dass ein internationaler Gewöhnungseffekt einsetzt.
Wie umgehen mit der neuen Situation?
Die internationale Gemeinschaft befindet sich in einem Dilemma. Die Taliban werden auf absehbare Zeit an der Macht bleiben. Weder die im nördlichen Pandschir-Tal und im benachbarten Tadschikistan angesiedelte National Resistance Front (NRF) um Ahmad Massoud, noch der lokale Ableger der jihadistischen Terrorgruppe Islamischer Staat Khorazan Province (ISKP) sind politisch oder militärisch stark genug, um zu einer existenziellen Bedrohung für das Taliban-Regime zu werden. Auch die zunehmenden Anschläge bringen die Taliban bisher noch nicht in große Bedrängnis.
„Das Bildungsangebot für Frauen bleibt weiterhin eingeschränkt und unklar. Viele warten zu Hause ab in einer Zeit der Langeweile und Ungewissheit.“
Für die Nachbarstaaten und die internationale Gemeinschaft geht es daher aktuell um das „Managen“ der neuen Taliban-Regierung in Kabul. Kein Staat hat die Regierung in Kabul bislang anerkannt. Staaten wie Pakistan, Russland, Iran, die Türkei und China hatten jedoch ihre diplomatischen Vertretungen in Kabul seit letztem Jahr durchgehend offengehalten. Indien hat ein „technisches“ Team zur indischen Botschaft in Kabul entsendet, um weitere Möglichkeiten der humanitären Zusammenarbeit zu prüfen. Deutschland und die westliche Staatengemeinschaft verfolgen den Ansatz einer „Humanitären Hilfe Plus“. Das heißt: bedingungslose humanitäre Hilfe weiterhin garantieren und Unterstützung möglichst an den Taliban vorbei und direkt an die Zivilgesellschaft leiten. Wieviel „Plus“ jenseits von humanitärer Hilfe in Zukunft möglich sein kann, ist unklar. Aktuell gibt es noch viele - auch deutsche - Hilfsorganisationen landesweit vor Ort, die neben humanitärer und medizinischer Versorgung auch grundlegende Bildungsprogramme wie Berufsausbildung für Frauen anbieten. Auch wenn eingeschränkte Angebote für Frauen wie Näh- und Handwerkskurse keine vollwertige Bildung ersetzen, erlauben sie den Frauen eine Tätigkeit außerhalb ihres Hauses in einer Zeit der Langeweile und Ungewissheit.[1]
„Die Nachbarländer der Region fordern weiterhin die Bildung einer ethnisch-inklusiven Regierung. (Fast) alle stehen im Austausch mit der Taliban-Führung in Kabul.“
Die Nachbarländer der Region haben jeweils ihre eigenen gewachsenen Beziehungen und Vorgeschichten mit Afghanistan. Alle haben jedoch ein unmittelbares Interesse an einer Stabilisierung Afghanistans. Für eine diplomatische Anerkennung machen die Nachbarländer die Bildung einer (ethnisch) inklusiven Regierung zur Bedingung, da nur die Einbindung aller politisch relevanten ethnischen Gruppen langfristig Stabilität verspricht. Bei einem Zerfall oder einem erneuten Bürgerkrieg in Afghanistan wären die Nachbarstaaten direkt betroffen. Die Nachbarn – mit Ausnahme Tadschikistans – suchen pragmatische Beziehungen zur neuen De-facto-Regierung, damit diese ihre Landesgrenzen vor möglichen Flüchtlingsströmen sowie Drogen- und Waffenhandel schützt. Vor allem aber erwarten sie von den Taliban-Machthabern in Kabul die Garantie, dass es den Dutzenden im Land aktiven Terrorgruppen verwehrt bleibt, ihre Operationen in die Nachbarstaaten auszudehnen und dort radikale Kräfte zu mobilisieren.[2]
Jihadistische und ethnisch inspirierte Gewalt: Welche Sicherheits-garantien von den Taliban?
Die Tötung des Al-Qaida-Führers Ayman al-Zawahiri durch eine US-Drohne am 31. Juli 2022 in einem Privathaus im Zentrum Kabuls zeigt nicht nur, dass al-Qaida nach wie vor in Afghanistan präsent ist, sondern dass es für die Taliban fast unmöglich sein dürfte, ihre Verbindungen zu al-Qaida zu kappen. Entscheidend bleibt die Frage, ob die Taliban in der Lage und willens sein werden, die im Doha-Abkommen vom Februar 2020 gegebene Antiterror-Garantie zu erfüllen und somit von afghanischem Boden aus keine terroristischen Aktivitäten und Operationen gegen andere Länder zuzulassen. Gegenüber den Nachbarstaaten ist die Taliban-Führung bemüht zu zeigen, dass sie die Dutzenden, teils al-Qaida nahestehenden militanten Gruppen im Land im Griff hat. Für Deutschland und Europa besteht heute keine akute Anschlagsgefahr von in Afghanistan operierenden Gruppen. Dies könnte sich jedoch innerhalb weniger Jahre ändern, falls Afghanistan wieder attraktiv als Ausbildungsland für ausländische Kämpfer werden sollte.
„Ethnisch formulierter Hass und Misstrauen haben wieder zugenommen.“
Das generelle Gewaltniveau im Land, einschließlich Umfang und Anzahl von Anschlägen, hat mit Ende der Kampfhandlungen seit der Machtübernahme deutlich abgenommen.[3] Reisen und Überlandfahrten durch das Land sind nach Jahren des Kriegszustands wieder möglich. Seit einigen Monaten nehmen jedoch terroristische Anschläge gegen Taliban-Mitglieder wie auch vor allem gegen religiöse und ethnische Minderheiten spürbar zu. Der lokale IS-Ableger ISKP mit geschätzt bis zu 4.000 Mitgliedern und Kämpfern im Land ist heute der stärkste Gegner der Taliban.[4] Mit zahlreichen komplexen Anschlägen des ISKP, insbesondere gegen die schiitische Minderheit, haben ethnisch formulierter Hass und Misstrauen wieder zugenommen.
Im Gegensatz zur paschtunisch dominierten Taliban-Bewegung ist ISKP eine überwiegend nicht-paschtunische, tadschikisch geprägte Gruppe, die ihre Mitglieder unter ehemaligen Angehörigen der afghanischen Streitkräfte und Taliban-Überläufern rekrutiert. Unter ihren Mitgliedern sind zudem zahlreiche junge Menschen aus der städtischen, gebildeten Mittelschicht, darunter auch Frauen.[5] Und im Gegensatz zu den Taliban propagiert der ISKP eine transnationale, streng-salafistische, anti-schiitische Ideologie.
Afghanistan hat eine der jüngsten Bevölkerungen weltweit. 40 Prozent der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, 60 Prozent unter 25 Jahre alt.[6] Zehntausende Afghaninnen und Afghanen aus dieser neuen Generation sind global vernetzt und informiert, haben eine Schul- und Universitätsausbildung genossen.
Die Rekrutierungen durch salafistische oder jihadistische Gruppen in Afghanistan und auch andernorts zeigen jedoch auch, dass junge, städtische und säkular gebildete Menschen nicht zwangsläufig liberalen Idealen folgen. Manche der von der Weltgemeinschaft enttäuschten und zurückgelassenen jungen afghanischen Generation könnten sich in Zukunft anderen Idealen zuwenden.
Wie weiter?
Nach dem Abzug der NATO-Streitkräfte und einem Großteil der westlichen Gebergemeinschaft werden die Antworten und Lösungsvorschläge eher aus der Region kommen. Mit dem neuen geopolitischen Konflikt seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dürften international einvernehmliche Bemühungen für eine inklusivere Lösung in Afghanistan schwieriger geworden sein. Die bisherige Afghanistan-Troika (USA-China-Russland) scheint obsolet. Russland hat bereits eigenmächtig eine Afghanistan-Five mit Russland, China, Iran, Pakistan und Indien angekündigt.
In Deutschland wird die im September 2022 vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquête-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ bis zum Ende der Legislaturperiode das deutsche Afghanistan-Engagement der letzten zwanzig Jahre aufarbeiten, um Lehren und Empfehlungen für die Zukunft zu formulieren.[7] Eine echte „Zeitenwende“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik braucht eine schnellere und zielgerichtete Koordinierung zwischen Ressorts, Gremien und Institutionen, eine verlässliche Abstimmung mit den europäischen und transatlantischen Bündnispartnern sowie klare Strategien und Zielvorgaben. Nicht zuletzt braucht sie eine weitsichtige Bereitstellung von Ressourcen, darunter vor allem auch Investitionen in neue Technologien und künstliche Intelligenz im Sicherheitssektor, unter Wahrung der demokratischen Kontrolle.
In Afghanistan werden Europa und die westliche Staatengemeinschaft in Zukunft immer weniger Einfluss auf die Entwicklungen haben. Für die Zukunft Afghanistans ist es wichtig, dass es aus globalen Systemkonflikten oder regionalen Rivalitäten herausgehalten wird. Man kann sich nur wünschen, dass die Staaten der Region ihr gemeinsames Interesse an einem inklusiv geführten Afghanistan, das transnationalen Terrorgruppen Einhalt gebietet, nicht kurzsichtigen Interessen und Stellvertreterkriegen opfern.
[1] Die Bildungssituation für Frauen ist weiterhin unklar. Von der 7. bis zur 12. Klasse ist der Schulbesuch für Frauen verboten. Die Universitäten stehen Frauen weiterhin offen - unter Wahrung der Kleidervorschriften und Geschlechtertrennung - jedoch können sie sich als Erstsemester nur noch für bestimmte Fakultäten wie der Erziehungswissenschaft, Medizin und Krankenpflege einschreiben.
[2] Im April, Mai und Juli 2022 schlugen erstmals von ISKP in Afghanistan abgefeuerte Raketen in den Grenzregionen der Nachbarländer Usbekistan und Tadschikistan ein. Auch wenn es rein symbolische Aktionen waren, die v.a. die Taliban-Regierung in Kabul diskreditieren sollte, bleibt das Thema der Grenzsicherheit für die Nachbarländer hochgradig sensibel. Siehe Ramachandran, Sudha: ISKP Attacks in Uzbekistan and Tajikistan, in: The Central Asia Caucasus Analyst, 31.08.2022, https://www.cacianalyst.org/publications/analytical-articles/item/13731-iskp-attacks-in-uzbekistan-and-tajikistan.html (zuletzt abgerufen am 30.10.2022). Im Nachbarland Pakistan haben terroristische Anschläge 2021 um 42 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zugenommen. Die Mehrheit der Anschläge wurde durch die pakistanischen Taliban TTP (Tehrik-e Taliban Pakistan) verübt. Siehe Pakistan Security Report 2021, Pak Institute for Peace Studies, https://www.pakpips.com/web/wp-content/uploads/2022/01/Overview_PIPS-SR_2021.pdf (zuletzt abgerufen am 30.10.2022).
[3] Siehe auch International Crisis Group, Asia Report No. 326: Afghanistan’s Security Challenges under the Taliban, 12. August 2022, S. 1-2: In den ersten zehn Monaten der Taliban-Herrschaft ist die Anzahl gewaltsamer Vorfälle um das Fünffache gesunken. Ebenso ist die Anzahl der Binnenvertriebenen deutlich gesunken (264.000 Binnenvertrieben im Juli 2021 gegenüber 1.155 im April/Mai 2022).
[4] Siehe auch Steinberg, Guido/Albrecht, Aljoscha: Terror Against the Taliban. Islamic State Show’s New Strength in Afghanistan, SWP Comment, Nr. 12, Februar 2022, S. 3-4.
[5] Siehe v.a. Borhan Osmans interviewbasierte Studie in Afghanistan. Osman, Borhan: Bourgois Jihad. Why Young Middle-Class Afghans Join the Islamic State, United States Institute of Peace (USIP), Juni 2020.
[6] Siehe CIA World Factbook, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/afghanistan/#people-and-society (zuletzt abgerufen am 28.10.2022).
[7] Siehe https://www.bundestag.de/ausschuesse/weitere_gremien/enquete_afghanistan
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