Ein Blick auf die Zahlen
Der erste Wahlgang der Präsidentenwahlen in Rumänien am Sonntag, den 24.11.2024 brachte vorläufig[1] die folgenden Ergebnisse:
- Călin Georgescu (Unabhängiger Kandidat): 22,94%;
- Elena-Valerica Lasconi (Uniunea Salvați România, USR, dt. Vereinigung zur Rettung Rumäniens): 19,18%;
- Ion-Marcel Ciolacu (Partidul Social Democrat, PSD, dt. Sozialdemokratische Partei): 19,15%;
- George-Nicolae Simion (Alianța pentru Unirea Românilor, AUR, dt. Allianz für die Einheit der Rumänen): 13,86%;
- Nicolae-Ionel Ciucă (Partidul Național Liberal, PNL, dt. Nationalliberale Partei): 8,79%;
- Mircea-Dan Geoană (Unabhängiger Kandidat): 6,32%;
- Hunor Kelemen (Uniunea Democrată Maghiară din România, UDMR, dt. Demokratische Vereinigung der Ungarn in Rumänien): 4,50%;
- Cristian Diaconescu (Unabhängiger Kandidat): 3,10%;
- Cristian Vasile Terheş (Partidul Național Conservator Român: 1,04%;
- Ana Birchall (Unabhängige Kandidatin): 0,46%;
- Ludovic Orban (Forța Dreptei, FD, dt. Rechte Kraft): 0,22%.
- Sebastian-Constantin Popescu (Partidul Noua Românie): 0,16%;
- Alexandra-Beatrice Bertalan-Păcuraru (Alternativa pentru Demnitate Națională): 0,16%;
- Silviu Predoiu (Partidul Liga Acțiunii Naționale): 0,12%;
Die Wahlbeteiligung lag bei 52,56% und damit etwas höher als 2019, als sich 48,26% der Wahlberechtigten an der ersten Runde der Präsidentenwahl beteiligten.
Ein Blick auf die Kandidaten für die zweite Runde
In der zweiten Runde der Präsidentenwahlen am 8. Dezember 2024 werden der Rechtsextremist Călin Georgescu und die liberale Elena Lasconi von der Partei "Vereinigung zur Rettung Rumäniens“ (rum. „Uniunea Salvați România“, kurz USR) gegeneinander antreten. Sehen wir uns die Kandidaten im Folgenden etwas genauer an.
Călin Georgescu, 62-jähriger Agrarwissenschaftler und Tiermediziner, hat unter anderem im rumänischen Außen-ministerium und als UN-Sonderberichterstatter Karriere gemacht. Wer auf einen weltoffenen Geist hofft, wird jedoch enttäuscht: Călin Georgescus Ansichten folgen denen der als „Legionäre“ bekannten rumänischen Faschisten. Er veröffentlichte Videos, in denen er die faschistischen Führer Rumäniens aus dem Zweiten Weltkrieg und die Verantwortlichen für den Holocaust offen bewunderte. Die rumänische Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen der Verherrlichung faschistischer Kriegsverbrechen. Aufgrund seiner extremistischen Äußerungen wurde er sogar aus der national-populistischen AUR, in der er eine Zeitlang als Premierminister-Kandidat gehandelt wurde, herausgedrängt.
Călin Georgescu folgt russischen Narrativen und konnte sich in Wahlkampfdebatten mehrfach nicht zu einer Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine durchringen. Seine Rhetorik ist oft anti-europäisch und anti-NATO, was ihn in Konflikt mit den mehrheitlich stark pro-westlichen Tendenzen der rumänischen Politik bringt. Călin Georgescu hat wiederholt die NATO-Präsenz in Rumänien kritisiert. Da der Staatspräsident in Rumänien die Außen- und Verteidigungspolitik bestimmt und an der Ernennung der Leiter der Nachrichtendienste beteiligt ist, steht bei einer Wahl von Călin Georgescu auch für die EU und die NATO viel auf dem Spiel.
Der völlig überraschende Aufstieg von Călin Georgescu spiegelt die enorme Unzufriedenheit vieler Rumäninnen und Rumänen mit dem politischen Status quo wider. Călin Georgescus sozialkonservative Wählerinnen und Wähler waren lange nur ein kleines Segment, das zuletzt bei den Wahlen im Jahr 2000 eine signifikante Kraft darstellte. Die national-populistischen Parteien AUR und „S.O.S România“ schienen als Neugründungen dieses Wählerpotenzial in den letzten Jahren abzuschöpfen. Im Windschatten des medial wesentlich präsenteren George Simion (AUR), führte Călin Georgescu als unabhängiger Kandidat einen sehr intensiven TikTok-Wahlkampf. Allerdings hatte er auch kräftig Unterstützung seitens der Rumänischen Orthodoxen Kirche, in deren Kirchen und Klöstern schon seit langem Flugblätter für ihn ausgelegt wurden.
In keiner der Umfragen zu den Präsidentenwahlen war Călin Georgescu auch nur unter den fünf bestplatzierten Kandidaten. Zwar ist Rumänien für die Ungenauigkeit von Wahlumfragen bekannt, aber dass ein Kandidat seine optimistischsten Umfragewerte mehr als verdoppelt und selbst die Nachwahlbefragung noch um fast 7 Prozentpunkte übertrifft, ist mehr als erstaunlich. Entsprechend tief sitzt der politische Schock über das Ergebnis am Morgen nach der Wahl.
Unerwartet schlecht schnitt auch PSD-Vorsitzender Marcel Ciolacu ab. Alle Umfragen und auch die Nachwahlbefragung deuteten darauf hin, dass er sicher als Erstplatzierter aus der ersten Runde der Präsidentenwahlen hervorgehen werde. Nun wurde er von Elena Lasconi sogar auf den dritten Platz verdrängt.
Die 52- jährige Elena-Valerica Lasconi ist erst seit Juni 2024 die Vorsitzende der liberalen USR. Ihre Kandidatur als Kandidatin um das Präsidentenamt wurde lange belächelt und in etlichen Interviews und Auftritten war ihr die fehlende Sattelfestigkeit insbesondere in außen- und sicherheitspolitischen Fragen anzumerken. Als ehemalige Journalistin, die als Bürgermeisterin von Câmpulung Muscel bekannt wurde, setzt sich Lasconi stark für Transparenz, Korruptionsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit ein. Sie betont die Notwendigkeit, politische Einflüsse aus dem Gesundheits- und Bildungswesen zu entfernen. Aber sie sprach sich auch für eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben ein, um die Ukraine zu unterstützen.
Die politische Karriere von Elena Lasconi ist für rumänische Verhältnisse relativ arm an Skandalen. Zwar wird aktuell von der europäischen Staatsanwaltschaft wegen Korruptionsvorwürfen im Zusammenhang mit einem EU-finanzierten Projekt in Câmpulung ermittelt, allgemein überwiegt jedoch die Einschätzung, dass Elena Lasconi einen entschlossen Reformwillen mitbringt, um die tiefverwurzelten Klientelismus und Korruptionsprobleme in Rumänien anzugehen. Ein Punkt, der für viele Rumäninnen und Rumänen von hoher Bedeutung ist und erklärt, warum sie in Bukarest mehr als 35% der abgegebenen Stimmen erhielt. Auf dem Land jedoch schnitt sie schwach ab. Viele traditionale Wählermilieus in Rumänien lehnen eine Frau als Staatspräsidentin ab. Zumal eine liberal und reformorientierte Politikerin. Die starke Stadt-Land Polarisierung wird die große Herausforderung für Elena Lasconis Kampagne für den zweiten Wahlgang. Sie muss bei den ländlichen Wählerinnen und Wählern kräftig zulegen, um Călin Georgescu schlagen zu können.
Als mögliche zukünftige Staatspräsidentin würde Elena Lasconi aller Voraussicht nach die klassische pro-europäische und pro-NATO-Politik Rumäniens fortsetzen. Auch für die deutsch-rumänischen Beziehungen wären keine negativen Auswirkungen zu befürchten. Eine Präsidentschaft Lasconi könnte Rumänien in eine Phase der politischen Erneuerung hin zu einer Stärkung demokratischer Institutionen und Prozesse führen. Aktuell ist unklar, ob Elena Lasconi genug politisches Kapital und Machtbewusstsein mitbringt, um die starken politischen Interessenskartelle zur Beibehaltung des Status quo zu durchbrechen.
Ein Blick hinter die Kulissen
Ganz klare Verlierer der Wahl sind Marcel Ciolacu, Vorsitzender der sozialdemokratischen PSD, und Nicolae Ciucă, Vorsitzender der nationalliberalen PNL. Dabei hatte der Plan der regierenden PSD-PNL-Koalitionäre ursprünglich vermutlich wie folgt ausgesehen: Marcel Ciolacu und Nicolae Ciucă erreichen die zweite Runde der Präsidentenwahlen. Dort entscheiden sich die Wähler für den nationalliberalen Kandidaten und folgen damit der rumänischen Tradition, niemals einen Sozialdemokraten zum Präsidenten zu wählen. Bei den Parlamentswahlen am Wochenende nach den Wahlen erhält die PNL einen Bonus von den Wählern, um dem Präsidenten ein starkes „backing“ im Parlament zu geben. Dennoch geht die PSD als stärkste Kraft aus der Wahl. Die Stimmverhältnisse reichen aus, dass beide zusammen eine gute Mehrheit für die Fortführung der großen Koalition haben und Marcel Ciolacu bleibt Premierminister.
Dann jedoch hob zunächst die Kampagne für Nicolae Ciucă nie richtig vom Boden ab: Seine bereits Anfang 2024 im ganzen Land aufgestellten Wahlplakate wurden Thema zahlreicher Polit-Memes. Die Koalition mit der PSD hatte die liberale Wählerbasis nachhaltig beschädigt. Die Erklärung, dass man in der Regierung bleibe, um aus dieser Position heraus das Schlimmste an PSD-Korruption zu verhindern, wurde nicht als glaubwürdig wahrgenommen. Nicolae Ciucă wurde zudem als zu abhängig vom bisherigen Staatspräsidenten Klaus Iohannis wahrgenommen, von dem sich die meisten Rumäninnen und Rumänen tief enttäuscht fühlen.
Es zeichnete sich spätestens zum Sommer hin ab, dass Nicolae Ciucă es nicht in die Stichwahl schaffen würde. Zudem schien sich Marcel Ciolacu immer mehr mit der Idee anzufreunden, doch selbst Staatspräsident zu werden. Um Bedenken der Wähler vor einer zu mächtigen PSD zu zerstreuen, kündigte er schon einmal an, auf jeden Fall einen nicht-PSD-Ministerpräsidenten ernennen zu wollen. Um die eigenen Chancen auf das Amt zu steigern, war es für Marcel Ciolacu nun wichtig, möglichst gegen George Simion in der zweiten Runde anzutreten. Man kalkulierte, dass gegen einen Rechtspopulisten mit problematischer außen-, europa- und sicherheitspolitischer Agenda, das PSD-Kernelektorat in einer zweiten Runde deutlich erweiterbar sei. Entsprechend waren einige Manöver zu beobachten, die die Umfragewerte von George Simion zunächst deutlich steigen ließen. Zu nennen sind das Verbot der national-populistischen Kandidatin Diana Şoşoaca durch das rumänische Verfassungsgericht und auch die „Unbedenklichkeits-bescheinigung“ des rumänischen Geheimdienstes für George Simion.
Den meisten Wählerinnen und Wähler entging nicht, dass die Bukarester Polit-Elite ein Drehbuch für die Präsidentenwahl entworfen hatte. Auch die Anpassung in Richtung George Simion als „Wunsch-Gegenkandidat“ von Marcel Ciolacu wurde wahrgenommen. Viele fühlen sich als „Stimmvieh“ missachtet, dass durch politische Winkelzüge praktisch gezwungen werden sollte, den Wahlstempel an der „richtigen“ Stelle auf das Papier zu drücken. Das Durchkreuzen dieses Drehbuches dürfte am Wahltag viele der tief politisch frustrierten Wählerinnen und Wähler entscheidend zu ihrem Wahlverhalten für Călin Georgescu motiviert haben. Viele sogar bis zu dem Punkt, dass ihnen die absehbar desaströsen politischen Folgen ihrer Wahl egal waren. Zusätzlich darf aber auch nicht ignoriert werden, dass in Rumänien seit Jahren rechtsextreme faschistische Einstellungen Fuß fassen. An den Universitäten sind diese bei Studierenden mittlerweile deutlich erkennbar. Der eklatante Mangel an politischer Bildung, Medienbildung und Geschichtskenntnissen ist Katalysator dieser Entwicklung.
Ein Blick in die Zukunft
Es bleibt keine Zeit um Luft zu holen: Nächsten Sonntag, am 1. Dezember 2024, haben die Wähler ein neues Parlament zu wählen und am Sonntag darauf, am 8. Dezember 2024, findet die Stichwahl um das Präsidentenamt statt.
Die national-populistischen Kräfte wie AUR und S.O.S România werden sich in der letzten Woche vor den Parlamentswahlen nun stärker rechtsextrem radikalisieren, um von dem Momentum zu profitieren, dass das starke Wahlergebnis für Călin Georgescu mit sich bringt. Auch wenn Călin Georgescu letztlich die Präsidentschaftswahl im zweiten Wahlgang nicht gewinnt, wird eine stärkere Präsenz von AUR und S.O.S România im rumänischen Parlament einen spürbaren Einfluss auf verschiedene Politikbereiche haben. Als Folge dürfte es schwieriger werden, Mehrheiten für die Unterstützung der Ukraine zu finden und einen konstruktiven EU-Kurs zu halten.
Der USR von Elena Lasconi wird zugutekommen, dass ihre Vorsitzende es in die zweite Runde der Präsidentenwahlen geschafft hat und viele Wähler des Mitte-rechts-Spektrums Angst vor einem rechtsextrem dominierten Parlament haben. Den Mitte-rechts Kräften bleibt für die zweite Runde der Präsidentenwahlen auch gar nichts anderes übrig, als sich hinter Elena Lasconi zu werfen. Leidtragend wird die nationalliberale PNL sein, der es kaum gelingen kann, in den wenigen Tagen bis zur Parlamentswahl einen überzeugenden personellen Neuanfang zu finden.
Auch die PSD wird sich mit der ganzen Macht ihrer regionalen Strukturen aufbäumen, um ein starkes Ergebnis bei den Parlamentswahlen einzufahren. Ob es reicht? Vermutlich bleibt die PSD als Zauberlehrling stehen, der klagt: „Die ich rief, die Geister / Werd‘ ich nun nicht los“.
[1] https://alegeri.g4media.ro/rezultate-prezidentiale-2024/ - abgerufen am 25.11.2024 um 11.00 Uhr. Eine Aktualisierung auf die Endergebnisse erfolgt nach deren Eingang.
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