Judul tunggal
Liebe Besucher des ökumenischen Kirchentages,
liebe Brüder und Schwestern,
es geht los! Endlich ist es soweit! In dieser Stunde beginnt am Brandenburger Tor der zentrale Eröffnungsgottesdienst und dort und in zwölf Berliner Gemeinden versammeln sich Christen, um gemeinsam das Wort Gottes zu hören. Sie wollen ein Zeichen setzen. Sie wollen deutlich machen, dass uns schon viel mehr verbindet als uns noch trennt. Das Wort Gottes, das Alte Testament und das Neue Testament ist uns allen gemeinsam.
Und so verbindet uns auch der Text aus dem 6. Kapitel des Lucas-Evangeliums, das wir eben gehört haben. Geistliche gestalten die Gottesdienste. Aber Laien - aus allen Berufsgruppen - sollen versuchen, die Texte auszulegen.
Ist es einem theologischen und pastoralen Laien wie mir erlaubt, das zu tun? Etwas zu tun, was ich noch nie getan habe? Die Auslegung des Evangeliums! Fällt etwa nun auch diese Aufgabe in die Zuständigkeit der Politik und habe ich als Politiker dazu etwas zu sagen? Weil ja die Politik auf alles eine Antwort geben muss.
Viele meinen ja fälschlicherweise, Politik könne das Glück der Menschen bewirken, wo sie in Wahrheit doch nur die Kunst des Möglichen ist.
Nein - auch ich möchte mich zunächst an dem orientieren, was uns die Kirchen und die Theologen mit ihrer Erfahrung, Tradition und Kompetenz zu diesem Text zu sagen haben, bevor ich anmerke, wie ich ihn für mich und meine Arbeit verstehe.
Unser Text ist Teil der sog. Feldrede, die viele Parallelen zum Matthäus-Text der Bergpredigt aufweist. Die Zuhörerschaft Jesu dürfte aus “einer großen Schar seiner Jünger", darunter die zwölf Apostel, die er eben ausgewählt hatte, also auch Petrus, und vielen Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung bestanden haben, die zur Verkündigung Jesu bereits einen Zugang gefunden hatten und im Erfahrungsbereich seiner Botschaft lebten.
Ihnen wird aufgetragen, die Feinde zu lieben, Gewalt nicht mit Gewalt zu vergelten, zu geben ohne zurückzuverlangen, für die Gegner zu beten, nicht zu richten, nicht zu verurteilen und anderes mehr.
Das sind Worte, die provozieren, die Unverständnis und Protest erzeugen, die Widerstand hervorrufen und sicher viele überfordern. Darum verwundert es nicht, dass der Text zu jenen Bibelstellen gehört, die besonders häufig missverstanden und auch missbraucht worden sind, die oft absolut gesetzt oder übergangen wurden.
Die Feinde lieben? Ein Auftrag, der oft passiv verstanden worden ist: Unrecht hinnehmen und freundlich ertragen. Diese Deutungstradition von Vergeltungsverzicht, Duldsamkeit und Widerstandsverbot war folgenreich für das christliche Selbstverständnis. Man verstand darunter, sich zurückzuhalten, das Feld den anderen zu überlassen. Es lieber andere machen lassen, sich zu bescheiden. Konflikten, wo irgendmöglich, aus dem Weg zu gehen. Man verstand die Mahnung auch als Aufforderung, sich von der Welt eher auf Distanz zu halten, sich auch von der Politik fernzuhalten - dort herrscht eh nur Streit.
Ich dagegen meine, dass Jesus seinen Zuhörern damals in Israel und heute uns hier nicht einen allgemeinen und absoluten Sittenkodex vorlegt, sondern die Chance eines neuen Miteinanders eröffnet angesichts des von Gott geschenkten und in Jesus Christus erfahrbaren Heils.
Es geht darum, das System von Gewalt und Gegengewalt, von Feindschaft, die mit Feindschaft beantwortet wird, zu durchbrechen und durch den Verzicht auf Vergeltung das Unrecht als solches sichtbar zu machen. Dies gilt m.E. sowohl für den persönlichen als auch für den gesellschaftlich-politischen Lebensbereich.
Aber: Ein Zeichen ist nur sinnvoll, wenn es auch verstanden wird! Wo die Hoffnung besteht, dass Deeskalation eintritt und nicht die vermeintliche Schwäche des Gegenüber ausgenützt wird.
Für den Umgang mit menschenverachtenden Diktatoren kann dieses Gebot keine zwingende Handlungsmaxime sein. Die Diktatoren verstehen diese Zeichen nicht, sie verstehen es als Schwäche des Gegners, die man ausnutzen muss.
Anders in der DDR im Herbst 1989. Nicht zuletzt durch das verantwortliche und beherzte Auftreten von evangelischen und katholischen Christen, die zunächst die Kirchentüren öffneten und dann mit vielen anderen hinaus auf die Straßen und Plätze zogen, kam es zu einer Revolution, die - Gott sei Dank - eine “friedliche Revolution" blieb. Hier ist das Zeichen verstanden worden: Dem Volk, das auf Gewalt verzichtete, wurde keine Gegengewalt angetan. Großer Dank den mutigen Christen, aber Respekt auch denen, die keine Gegengewalt gegen sie einsetzten. Kerzen und Gebete haben eine Diktatur zum Einsturz gebracht.
Und dann die Aufforderung, Kredite zu geben ohne etwas zurückzuerwarten. Banken und Sparkassen tun das in der Regel nicht. Und mir ist nicht bekannt, dass unsere kirchlichen Banken, die Pax-Bank etwa, eine solche Kreditpraxis üben. Täten sie dies und würden wir alle uns so verhalten, so wären wir bald unseres gesamten Eigentums ledig, unsere Freigiebigkeit würde schonungslos ausgenutzt.
Und trotzdem: Wer nur gibt, in der Erwartung zurückzubekommen, worin unterscheidet er sich von denen, die nur auf ihren Nutzen schielen und darauf aus sind, Zweckbündnisse zu schließen?
Für mich ist dieser Aufruf Jesu im Kontext der damaligen tatsächlichen Lebensverhältnisse ein Appell zur unbedingten Solidarität. Wer von Gottes Barmherzigkeit überreich beschenkt wird, soll nicht kleinmütig seinen Besitz verteidigen. Wer sich von Gott geliebt weiß, dessen Liebe ohne Grenzen, ohne Maß und ohne Berechnung ist, der muss und kann, der soll in seinen Beziehungen über das do ut des - gebe, damit dir gegeben werde -, über den Aspekt der Nützlichkeit und Vorteilhaftigkeit hinausgehen, er rechnet und berechnet nicht.
Hier greift die so heilsame Dialektik von Geben und Empfangen, mit der wir hoffentlich schon alle unsere guten Erfahrungen gemacht haben - gemäß dem Schriftwort: “Denn wer gibt, der empfängt."
Für die Staatengemeinschaft heißt das, Kredite müssen normalerweise verzinst und zurückgezahlt werden. Wer darauf nicht besteht, wird morgen keine Kredite mehr geben können. Aber es muss Ausnahmen geben. Wenn Entwicklungsländer sich in tiefer Not befinden, muss es auch Schuldenerlass geben. Für manches Land und seine Menschen ist das lebens-, ja, überlebenswichtig.
Niemand wird bestreiten, dass Kredite nicht blauäugig gegeben werden können, sondern an Konditionen - beispielsweise an die Schaffung tragfähiger demokratischer Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft gebunden sein müssen. Es kann aber auch geboten sein, auf eine Rückzahlung zu verzichten und Schulden zu erlassen, um einer Spiralwirkung hin zu noch mehr Armut und Unfreiheit entgegenzuwirken.
Mit der Aufforderung, nicht zu richten und nicht zu verurteilen, um nicht gerichtet und nicht verurteilt zu werden, tun wir uns vielleicht etwas leichter. Hier liegt es auf der Hand, dass es sich nicht um ein juristisches Gebot handelt. Unser Zusammenleben wäre ohne Gerichtsbarkeit und den ihr zur Verfügung stehenden Instrumenten undenkbar - selbst die Kirchen kommen nicht ohne ihre “innerbetriebliche" Gerichtsbarkeit ohne das Kirchenrecht aus.
Was hier gemeint ist, liegt tiefer und trifft eine erhebliche Schwachstelle im Umgang miteinander - nicht zuletzt in unserer modernen, medialen, offenen Gesellschaft. Jesus wendet sich gegen das lieblose Verurteilen im täglichen Miteinander, gegen die pharisäerhafte Überheblichkeit, gegen die Besserwisserei, gegen Ehrverletzung, gegen die ungerechte und kleinliche Einordnung von Menschen in Urteilskategorien, die sie letztlich ihrer Würde und Einzigartigkeit berauben. So wie Gott gnädig mit uns ist, so sollten wir auf das Richten und Verurteilen verzichten - und verzeihen.
Hier sehe ich manche Entwicklung im Bereich verschiedener elektronischer aber auch Printmedien mit Sorge. Mit versteckten Kameras und Mikrofonen und mit Reportern, die selbst an der Haustür nicht halt machen, wird Menschen nachgestellt. Sie werden der Öffentlichkeit ausgeliefert und dabei nicht nur be-, sondern häufig auch verurteilt. Und so, wie über die einen hergefallen wird, werden andere in kurzer Zeit in entsprechenden medialen Events zu “Superstars" (so der Titel einer kürzlichen entsprechenden Show-Reihe im Privatfernsehen) hochkatapultiert.
Was für eine Diskrepanz: Auf der einen Seite werden Menschen zunichte gemacht, auf der anderen Seite zu Idolen verklärt. Beides ist nicht menschengemäss und nicht gottgewollt. Gottes Barmherzigkeit übersteigt menschliches Urteilen und Gottes Liebe hat uns zu Kindern Gottes gemacht, so dass wir Menschen nicht vergöttlichen müssen.
Der Lucas-Text ist im vollen Wortsinn ein doppel-deutiger Text. Man muss sich ihm mit Umsicht nähern. Ein Text, der uns Mut macht und uns großen Lohn verspricht, auch wenn wir undankbar und böse sind, der uns aber auch die Augen öffnet. Wir sollen anders miteinander umgehen, wir sollen anders sein als die anderen. Radikaler. Und das heißt nicht unbedachter, verwirrter, undisziplinierter, das heißt grundsätzlicher, wacher, aktiver.
“Was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen." Was erwarten wir nicht alles von anderen, z. B. von den Pfarrern, von den Kirchenführern, von unseren Vorgesetzten, von unserer Verwaltung und erst recht von der Politik. Wer tut, was er erwartet? Ist nicht vielen die Politik ein viel zu unseriöses Geschäft, als dass man sich seine Hände dort schmutzig machen möchte? Vielleicht ist sie darum so anrüchig!
Ich zitiere jetzt nicht den 28. Vers, der aufruft, für die zu beten, die euch misshandeln. Aber ich wünsche mir, dass unsere Kirche, denen die sich im öffentlichen Leben engagieren, mehr Hilfe zuteil werden lässt, sie zum politischen Engagement ermutigt. Der thüringische Landesbischof Christoph Kähler sagt zu Recht: “Es müssen die bestärkt und ermutigt werden, die sich den Aufgaben stellen und sie anpacken. Die allgemeine Atmosphäre des Missmutes schadet uns allen."
Das Neue Testament ist kein Lehrbuch der Staatslehre und kein Handbuch christlicher Politik. Und darum gibt es nach meiner Überzeugung auch keine christliche Politik, wohl aber christliche Politiker. Menschen, die ihr Tun und Lassen an ihrer christlichen Überzeugung ausrichten oder es zumindest wollen. Für sie stellt der Lucas-Text eine Herausforderung dar, der man sich stellen muss.
Wenn wir dieses Gotteshaus verlassen, hat der Ökumenische Kirchentag begonnen. Lasst uns gemeinsam alles tun, dass er ein Erfolg wird, ein Zeichen unseres Glaubens und unserer Hoffnung und lasst uns alles tun, dass wir der Aufforderung des Kirchentagsmottos gerecht werden: “Ihr sollt ein Segen sein!" Amen.