Es laufen verschiedene Strafverfahren gegen den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. In einem Verfahren soll die etwaige Beteiligung Trumps am versuchten Aufstand vom 6. Januar 2021 geklärt werden – dem Sturm auf das US-Kapitol in Washington. Daraufhin hat Trump das Verfahren vor dem Supreme Court angestrebt mit der Intension, dass er bei all seinem Handeln von der Immunität geschützt sei. Professor Miller, was hat der Supreme Court am 1. Juli 2024 genau entschieden?
Miller: Die konservative 6:3-Mehrheit des Gerichtshofs entschied, dass der ehemalige Präsident eine gewisse Immunität gegen Strafverfolgung genießt. Der Chief Justice John Roberts verfasste die Gerichtsentscheidung in diesem Fall und erläuterte den Umfang dieser Immunität. Erstens stellte die Mehrheit fest, dass der Präsident bei Handlungen, die mit seinen verfassungsmäßigen Kernkompetenzen zusammenhängen, absolute Immunität vor Strafverfolgung genießt. Zweitens stellte die Mehrheit fest, dass für den Präsidenten eine Immunitätsvermutung für alle anderen Handlungen gilt, die innerhalb eines weit gefassten Rahmens seiner „offiziellen“ Rolle liegen. Letztlich entschied die Mehrheit, dass der Präsident keine Immunität vor Strafverfolgung für „inoffizielle“ oder „private“ Handlungen genießt. Der Chief Justice Roberts versuchte dann, diese Grundsätze auf die Anklage im Strafverfahren im Zusammenhang mit Trumps Weigerung, die Ergebnisse der Wahl 2020 zu akzeptieren, anzuwenden. Einige der in der Anklageschrift genannten Handlungen waren Teil der Kernkompetenzen des Präsidenten, und der ehemalige Präsident kann dafür nicht belangt werden. Andere von der Anklageschrift erfasste Handlungen schienen der Mehrheit als „Amtshandlungen“ zu gelten, für die eine Anklage gegen den Präsidenten nicht in Frage käme. Das zuständige Prozessgericht ist nun damit beauftragt, die Tatsachen ausführlicher darzulegen, um zu entscheiden, ob es sich bei diesen Handlungen um „Amtshandlungen“ handelte und ob die Staatsanwaltschaft dennoch in der Lage sein könnte, die Immunitätsvermutung für dieses Verhalten zu überwinden. Schließlich erläuterte das Gericht, dass eine Reihe der von der Anklageschrift erfassten Handlungen „privat“ sein könnten und daher der Strafverfolgung unterliegen würden. Aber auch hier wurde die untere Instanz angewiesen, die für diese Handlungen relevanten Fakten zu ermitteln. Am Ende verkündete die Mehrheit einige neue und dramatische Verfassungsgrundsätze, erklärte einige der Anklagepunkte vom 6. Januar nach diesen Grundsätzen für verfassungswidrig und forderte die untere Instanz auf, zu versuchen, die neuen Grundsätze auf die verbleibenden Anklagepunkte in der Anklageschrift anzuwenden. Die drei liberalen Richter widersprachen nachdrücklich. Sie befürchten, dass das Urteil die Rechtsstaatlichkeit aushöhlt, indem es den Präsidenten außerhalb des Geltungsbereichs des Strafrechts stellt.
Der Supreme Court hat nun diese drei Kategorien geschaffen. Gibt das Urteil auch Kriterien für die Zuordnung zu einer der Kategorien mit an die Hand?
Miller: Ein wenig, ja. Aber man darf nicht vergessen, dass der Supreme Court in der Regel keine konkreten, vollständigen, abstrakten und systematisch kohärenten Aussagen zum Recht macht. Unser Gewohnheitsrecht ist ein dynamischer Prozess, bei dem die Gerichte der unteren Instanzen versuchen müssen, die vom Supreme Court verkündeten, allgemeinen Grundsätze auf den Sachverhalt eines bestimmten Falles anzuwenden. Diese Urteile werden dann in der Berufung überprüft, vielleicht bis hin zum Supreme Court, in einem fortlaufenden Prozess der Klärung und Präzisierung. Dennoch bot der Gerichtshof einige Erkenntnisse zu den drei Kategorien der präsidialen Immunität.
Bei den verfassungsmäßigen Kernkompetenzen, für die dem Präsidenten absolute Immunität zusteht, handelt es sich um verfassungsmäßig zugewiesene Befugnisse, die „endgültig und ausschließlich“ dem Präsidenten allein zustehen, erklärte das Gericht. Diese Kategorie präsidialer Befugnisse wurde erstmals in einem wichtigen Fall aus den 1950er Jahren entwickelt. Tatsächlich lässt sich diese Kategorie auf den berühmten Fall Marbury gegen Madison aus dem Jahr 1803 zurückführen, der vom Supreme Court entschieden wurde. Weder der Kongress noch die Gerichte üben jegliche Macht über diese Kernkompetenzen des Präsidenten aus. Man könnte dies als den Bereich der Exekutivbefugnisse betrachten, der ausschließlich den politischen Ermessensspielraum des Präsidenten betrifft. Bis zu diesem Punkt hätten wir gesagt, dass es sich um einen sehr, sehr engen Bereich von Befugnissen handelt, einschließlich der Aufsicht des Präsidenten über seine Kabinettressorts und einer begrenzten Anzahl von außenpolitischen Zuständigkeiten.
Überraschenderweise bot der Gerichtshof im Fall Trump jedoch ein neues Beispiel. Die Mehrheit sagte, dass die Begnadigungsbefugnis des Präsidenten ebenfalls zu diesen seltenen Kernkompetenzen gezählt werden sollte. In Anbetracht der ganzen Diskussion darüber, ob Trump sich selbst begnadigen könnte, wenn er verurteilt und später wiedergewählt wird, war dieses neue Beispiel subtil, aber bedeutsam. Im vorliegenden Fall erklärte das Gericht, dass die Zusammenarbeit des damaligen Präsidenten Trump mit dem Justizministerium – auch im Zusammenhang mit der unhaltbaren und ungerechtfertigten Untersuchung des Wahlbetrugs – zu dieser Kategorie von Kernkompetenzen gehört. Als Teil seiner Aufsicht über dieses Kabinettressort, so der Gerichtshof, hat der Präsident eine endgültige und ausschließliche Befugnis und ist gegen eine strafrechtliche Verfolgung für diese Handlungen immun. Dies ist kein gut durchdachter Vergleich. Aber als ich die Erklärung des Gerichtshofs zu dieser zentralen verfassungsrechtlichen Kompetenz las, fragte ich mich, ob sie Ähnlichkeiten mit der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers in Deutschland aufweist, die seine oder ihre absolute Befugnis beinhaltet, die von den Bundesministerien verfolgte Politik zu bestimmen.
In gewisser Weise hängen die zweite und die dritte Kategorie in ihrer Abgrenzung voneinander ab. Die „Amtshandlungen“ des Präsidenten, für die eine Immunitätsvermutung gilt, sind keine „privaten Handlungen“, für die er keine Immunität genießt. Aber vielleicht ist das nicht sehr hilfreich. Die Mehrheit wies darauf hin, dass die bisherige Rechtsprechung bei der Abgrenzung nicht hilfreich ist, weil es so wenig davon gibt. Immerhin ist dies das erste Mal in der Geschichte, dass ein ehemaliger Präsident eines Verbrechens angeklagt wird. Stattdessen nutzte das Gericht eine Mischung aus teleologischer und systematischer Auslegung, um die Dinge zu klären. Die konservativen Richter, die sich auf die umstrittene Theorie der „unitären Exekutive“ stützen, waren der Ansicht, dass die Verfassung eine besonders mächtige Präsidentschaft schafft, die eine starke, stabile und effektive Exekutive vorsieht. Die in der Verfassung vorgesehene „kraftvolle und tatkräftige“ Präsidentschaft erfordere, so das Gericht, dass der Präsident effektiv und regierungsfähig bleibe. Würde der Präsident wegen der Ausübung seines Amtes strafrechtlich verfolgt, könnten der Kongress (durch den Erlass von Strafgesetzen) und die Gerichte (durch strafrechtliche Ermittlungen und Prozesse) die verfassungsmäßig vorgeschriebene Macht und Effektivität des Präsidenten untergraben. Für die Mehrheit wirft dies alarmierende Bedenken hinsichtlich der Gewaltenteilung auf. Mit dieser Erklärung im Hinterkopf bot das Gericht eine Art negative Definition von „offiziellem Verhalten“. Wenn eine Strafverfolgung den Präsidenten behindern würde – sein Amt „ohne Angst und redlich“ auszuüben –, dann sollte das betreffende Verhalten als „amtlich“ betrachtet werden und von einer Immunitätsvermutung profitieren. Der Gerichtshof verfolgte einen ähnlichen Ansatz bei der Definition privaten Verhaltens, für das der Präsident keine strafrechtliche Immunität genießt. Wenn man den Präsidenten wegen eines bestimmten Verhaltens strafrechtlich verfolgt und es keine Auswirkungen auf seine Fähigkeit hat, effektiv zu regieren, dann muss es sich um eine „private Handlung“ handeln.
Das Gericht führte einige Beispiele an, um die zweite und dritte Kategorie zu veranschaulichen. Einerseits war die Mehrheit der Ansicht, dass die Gespräche des damaligen Präsidenten Trump mit dem damaligen Vizepräsidenten Pence über die Bestätigung der Wahl zu seinem „offiziellen Verhalten“ gehörten. Der Präsident, so wurde argumentiert, wäre weniger in der Lage, effektiv zu regieren, wenn er eine mögliche strafrechtliche Verfolgung aufgrund seiner Interaktionen mit seinen engsten Beratern befürchten müsste. Andererseits fragte sich die Mehrheit, ob Trumps Rede und seine Tweets vom 6. Januar als „privates Verhalten“ behandelt werden sollten, weil sie eher mit seiner Rolle als Kandidat oder Parteivorsitzenden zusammenhingen und nicht mit seinem Dienst als Präsident. Wie ich bereits erwähnt habe, forderte das Gericht die untere Instanz auf, die Tatsachen zu ermitteln, die erforderlich sind, um das von der Anklage erfasste Verhalten der einen oder anderen Kategorie zuzuordnen, damit anschließend festgestellt werden kann, ob es sich um immunisiertes Verhalten handelt.
Dass Staatsoberhäupter Immunität genießen, ist erst einmal keine amerikanische Erfindung, sondern findet sich in vielen Rechtsordnungen. Worauf stützt sich das Urteil des Supreme Courts? Gibt es dazu Regelungen in der amerikanischen Verfassung?
Miller: Ich denke, das ist eine wichtige Erkenntnis, zumal die Meinung des Gerichtshofs großen Widerspruch erfahren hat. In der Tat gibt es nachvollziehbare Gründe für einige sorgfältig kalibrierte und streng begrenzte Arten der Immunität in Bezug auf ein Staatsoberhaupt oder einen Regierungschef. Und wie Sie andeuten, finden wir dies in vielen Rechtsordnungen sowie im Völkerrecht. Die Mehrheit des Supreme Courts hat sich bei der Entscheidung jedoch nicht der Rechtsvergleichung bedient.
Aber die Entscheidung beruht auf einer streitbaren verfassungsrechtlichen Argumentation. Ich sage das, weil der Text der Verfassung dem Präsidenten nicht ausdrücklich Immunität gewährt. Vielmehr sieht die Amtsenthebungsklausel der Verfassung eindeutig eine strafrechtliche Verantwortung nach Abschluss eines Amtsenthebungsverfahrens vor. Ich frage mich auch, auf welcher verfassungsrechtlichen Grundlage das Urteil steht, denn die sehr begrenzte Rechtsprechung, die es zu ähnlichen Fragen gab, wies in zwei Richtungen. In einem Fall aus den 1980er Jahren (Fitzgerald) wurde festgestellt, dass der Präsident absolute Immunität vor Zivilklagen genießt. In einem anderen Fall aus den 1970er Jahren (Nixon) wurde jedoch entschieden, dass der Präsident kein absolutes verfassungsmäßiges Privileg genießt, wenn er in einem Strafverfahren auf Beweisanträge antworten muss. Eine Begründung für das letztgenannte Urteil lag der Überzeugung des Supreme Courts zugrunde, dass strafrechtliche Verfahren für eine Gesellschaft so bedeutsam sind, dass es einem Präsidenten nicht möglich sein sollte, diese zu untergraben, indem er sich auf ein Zeugnisverweigerungsrecht beruft. Das bedeutet, dass sich die konservative Mehrheit des Gerichts nicht auf den Wortlaut, Präzedenzfälle oder historische Auslegung für ihr Urteil stützen konnte. Stattdessen stützen sie sich bei der verkündeten Regel vielmehr auf die Struktur und praktische Belange. Sie sagten, die Struktur der Regierungsbereiche – und die Trennung voneinander – erfordere eine derartige Isolierung des Präsidenten. Und praktische Bedenken hinsichtlich der Effektivität des Präsidenten erforderten die vom Gericht gewährte Immunität. Aber diese interpretativen Schlussfolgerungen sind weniger konkret und objektiv. Sie sind offen für unterschiedliche Auslegungen.
Allerdings fand ich eine der von der Mehrheit vorgebrachten praktischen Rechtfertigungen überzeugend. Die abweichenden Meinungen kritisierten, dass der Supreme Court die Rechtsstaatlichkeit aushöhle, indem er den Präsidenten in vielen Fällen außerhalb der Autorität des Strafrechts stelle. Die Mehrheit hingegen befürchtete eine „Kannibalisierung“ der Präsidentschaft durch die Politik, wenn der Präsident keine Immunität genießt. Diese Sorge bezieht sich auf die in der amerikanischen Politik immer häufiger anzutreffende Rhetorik, die eine strafrechtliche Verfolgung der Opposition, insbesondere auch früherer Präsidenten, fordert. Trump machte diese Dynamik populär, indem er dazu aufrief, die „korrupte Hillary“ einzusperren. Und nun verfolgt die Regierung Biden oder zumindest Staatsanwälte aus dem Umfeld der Demokratischen Partei diese Anschuldigungen gegen Trump. Ein wichtiger Punkt in Trumps Wahlkampf 2024 ist das Versprechen, dass es Untersuchungen und strafrechtliche Verfolgung gegenüber der „korrupten Biden-Familie“ geben wird. Die Stellungnahme des Supreme Courts ist ein klarer Schlag gegen diese sich überschlagende Rhetorik. Das halte ich für politisch sinnvoll, auch wenn es vielleicht keine logische verfassungsrechtliche Schlussfolgerung ist.
Welche Folgen hat das Urteil für die noch laufenden Verfahren?
Miller: Einige der Verhaltensweisen, die die Grundlage der Anklage vom 6. Januar bilden, sind jetzt absolut immun. Alle Anklagepunkte, die in hohem Maße von diesem Verhalten abhängen, müssen aus der Anklageschrift gestrichen werden. Das erstinstanzliche Gericht wird auch die Tatsachen in diesem Fall prüfen müssen, um zu ermitteln, welche Handlungen „offiziell“ und welche „privat“ sind. Das „dienstliche“ Verhalten kann auch nicht als Grundlage für die Anklage dienen, es sei denn, der Staatsanwalt kann die Vermutung widerlegen, dass das betreffende „dienstliche“ Verhalten Immunität genießt. Kann er dieses Argument nicht vorbringen, müssen auch diese Anklagen fallen gelassen werden. Es ist möglich, dass sich das gesamte Verfahren gegen Trump vom 6. Januar aufgrund der Entscheidung des Supreme Courts erledigt. Aber selbst, wenn ein Teil des Verfahrens bestehen bleibt, wird die Klärung dieser neuen, komplexen tatsächlichen und rechtlichen Fragen viel Zeit in Anspruch nehmen und möglicherweise sogar eine weitere Berufung vor dem Supreme Court nach sich ziehen. Trump hat es auf jeden Fall geschafft, den Fall für die nächsten Jahre hinauszuzögern.
Bei Urteilen dieser Tragweite würde man sich eine einstimmige Entscheidung wünschen. Die Entscheidung erging jedoch 6:3. Was sagen die abweichenden Meinungen?
Miller: Ich verstehe Ihren Impuls, wenn Sie andeuten, dass gewichtige Entscheidungen von einer einstimmigen Entscheidung des Gerichtshofs profitieren könnten. Aber ich muss sagen, dass die Amerikaner mit einer Welt leben können, in der das Recht umstritten und daher nicht völlig geklärt ist, und dass sie damit juristisch umgehen können. Auf bewundernswerte Weise sind wir so selbst Teil einer ständigen, lebendigen Debatte über das Recht, das uns umgibt. Wir verstehen das Recht viel mehr diskursiv und verfahrenstechnisch. Nicht in der wissenschaftlichen, systematischen und objektiven Art und Weise, wie man sich das Recht in der deutschen Rechtskultur vorstellt. Wie die Geschichte des Abtreibungsrechts und die Entscheidung in der Rechtssache Roe v. Wade gezeigt haben, kann in unserem System die Entscheidung des Gerichtshofs in einer kontroversen Angelegenheit nur der Anfang einer großen rechtspolitischen Debatte sein. Ich glaube nicht, dass ein einstimmiges Urteil in der Abtreibungsfrage diese Debatte in den Vereinigten Staaten zum Schweigen gebracht hätte. Und, wie Sie anmerken, gibt es in diesem Fall eine starke und robuste Gegenmeinung von drei Richterinnen. Als der Chief Justice Roberts für die Mehrheit schrieb, musste er ihre Einwände berücksichtigen und auf sie reagieren. Ohne diese lautstarken Nein-Stimmen wäre es vielleicht zu einem Urteil gekommen, das dem Präsidenten noch mehr Immunität und Macht verliehen hätte?
Die abweichenden Meinungen wiesen darauf hin, dass die begrenzte Rechtsprechung, einschließlich des Falles Nixon aus den 1970er Jahren, für eine Ablehnung der Immunität hätte sprechen können. Sie betonten auch, dass der Verfassungstext keine Immunität des Präsidenten vorschreibt. Wie ich bereits erwähnt habe, sieht die Amtsenthebungsklausel sogar eine strafrechtliche Verantwortung des Präsidenten vor. Vor allem aber argumentierten die abweichenden Meinungen, dass Geschichte und Pragmatismus die Entscheidung des Gerichts untergraben. Sie weisen darauf hin, dass die Gründungsväter, die einen Krieg geführt haben, um sich von der Macht eines absoluten Monarchen zu befreien, nicht vorhersehen konnten, den Präsidenten außerhalb der Reichweite des Strafrechts zu stellen. Aus pragmatischer Sicht bringen sie ihre tiefe Besorgnis über den Schaden zum Ausdruck, den die Entscheidung des Gerichtshofs für einen Kernbestandteil der Rechtsstaatlichkeit bedeutet: dass niemand über dem Gesetz steht.
Drei der Richter, die jetzt für die Immunität stimmten, wurden von Trump ernannt. Meinen Sie, dass das einen Einfluss hatte?
Miller: Ich glaube nicht, dass die von Trump ernannten Richter aus persönlicher oder parteipolitischer Loyalität zur Mehrheitsmeinung gehören. Das heißt, ich denke nicht, dass sie „Trump“-Richter in dem Sinne sind, wie wir es beispielsweise in Ungarn gesehen haben, wo Richter ernannt wurden, um den konkreten Interessen von Fidesz oder Viktor Orbán zu dienen. Aber Trump hat sie ernannt, weil diese Juristen stark auf die konservative Politik und die konservative Verfassungsrechtsprechung ausgerichtet waren. Dazu gehört auch die Ansicht, dass dem Präsidenten im Rahmen unserer Verfassung mehr Befugnisse eingeräumt werden sollten. In dem Maße, in dem das Mehrheitsurteil diese Theorie der Präsidentschaft – oft als „unitary executive“-Theorie bezeichnet – unterstützt, haben sich die von Trump berufenen Richter am Gerichtshof sicherlich darüber gefreut. Wie sich herausstellte, kam dies Trump in diesem Fall auch praktisch und politisch zugute. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass die Mehrheit des Gerichts zum selben Ergebnis gekommen wäre, also der Stärkung des Präsidenten, wenn es sich um einen demokratischen Präsidenten gehandelt hätte, gegen den Anklage erhoben wurde. Ich bin mir nicht sicher, ob das Gegenteil bei den drei abweichenden Richtern, die von demokratischen Präsidenten ernannt wurden, der Fall sein würde. Diese Hypothese wirft für mich zwei Gedanken auf:
Erstens sollte klargestellt werden, dass Trump sich bewusst ist, dass seine ernannten Richter diese Ansicht über eine sehr starke, autonome Präsidentschaft vertreten. Es ist durchaus möglich, dass Trump durch die Besetzung des Gerichtshofs mit Juristen, die diese Ansicht vertreten, bereit war, in Bezug auf sein Verhalten bis an die Grenzen zu gehen – im Vertrauen darauf, dass eine Mehrheit der Richter des Gerichtshofs der Macht des Präsidenten zumindest wohlwollend gegenüberstehen würde. In diesem Sinne besteht die Mehrheit vielleicht nicht aus „Trump-Richtern“, sondern Trump ist die Art von Präsident für die konservative Mehrheit.
Zweitens: Obwohl die Republikaner in der letzten Generation die Führung in dieser Frage übernommen zu haben scheinen, kann man mit Fug und Recht behaupten, dass die Macht des Präsidenten ein parteiübergreifendes Thema ist. Beide politischen Parteien sind oft genug im Weißen Haus vertreten, um zu verstehen, dass sie ihrerseits auch weitreichende präsidiale Befugnisse wünschen. Das gilt vor allem für Präsidenten beider Parteien, die sich in Krisen- oder Kriegszeiten befinden. Es wird interessant sein zu sehen, ob die Demokraten die von Trump im Rahmen dieser konservativen Verfassungstheorien errungenen Machtzuwächse des Präsidenten tatsächlich ablehnen oder sich dafür einsetzen, sie rückgängig zu machen. Eine weitere Person, die von der Entscheidung des Gerichtshofs profitieren wird, ist sicherlich der demokratische Präsident Joe Biden. Trumps Drohungen, gegen Biden zu ermitteln und ihn strafrechtlich zu verfolgen, falls er wiedergewählt wird, sind nun hinfällig.
Das Urteil wird oft als historisch bezeichnet. Stimmen Sie dem zu? Und welche Tragweite hat das Urteil über den Fall Trump hinaus?
Miller: Ja. Dies ist ein historisches Urteil des Supreme Courts. Es trifft eine völlig neue Aussage über die Macht der politischen Figur, die von vielen immer noch als „die mächtigste Person der Welt“ bezeichnet wird. Es tut dies auf der Grundlage eines nahezu leeren Blattes, was Präzedenzfälle angeht. Und das Gericht verkündete seine umstrittene Entscheidung in Bezug auf eine der umstrittensten und aufrüttelndsten politischen Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte. All dies geschah inmitten des Präsidentschaftswahlkampfes 2024. Dies ist ein dramatischer verfassungsrechtlicher Kontext, bei dem viel auf dem Spiel steht. Selbst wenn man die Gewohnheit der Amerikaner, Dinge sensationell darzustellen, oder unsere Vorliebe für Melodramen außer Acht lässt, muss man sagen, dass dies eine wichtige Entscheidung des Gerichtshofs ist. Diese Art von Urteilen ist es, die das Studium des Verfassungsrechts so fesselnd und aufregend macht!
Herr Professor Miller, herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Die Fragen wurden von Dr. Franziska Rinke, Referentin für Rechtsstaatsdialog und Völkerrecht bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, gestellt.
Lesen Sie das Interview mit Professor Russell A. Miller „Trump versus United States" hier als PDF.