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Laporan negara

Gewaltspirale in Costa Rica

Kein Ende in Sicht?

2022 war das gewalttätigste Jahr in der Geschichte Costa Ricas. Die Zahl der Tötungsdelikte erreichte einen Rekordwert von 656. Damit entspricht die Mordrate 12,6 pro 100.000 Einwohnern und liegt somit zwölf Prozent über dem Vorjahreswert. Im Vergleich dazu verzeichnete Deutschland 2022 eine Mordrate von 0,25. Es ist zu befürchten, dass es sich beim Anstieg der Gewaltdelikte um einen längerfristigen Trend handelt, der noch lange nicht seinen Höhepunkt erreicht hat. In diesem Jahr liegt die Zahl der Tötungen bereits 43 Prozent über dem Vorjahreswert. Experten befürchten, dass die Tötungsdelikte bis Ende 2023 auf 900 steigen werden. Was ist der Grund für diese überraschende Entwicklung im zentralamerikanischen Vorzeigeland Costa Rica?

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Costa Rica gilt in Lateinamerika als Modellnation in Sachen Demokratie und Umweltschutz und konnte lange Zeit als sicherer Hafen in der Region bezeichnet werden. Das OECD-Mitglied, das 1948 seine Armee abgeschafft hat, hatte deutlich weniger mit organisierter Drogenkriminalität und Tötungsdelikten zu kämpfen, als bspw. die zentralamerikanischen Länder des so genannten nördlichen Dreiecks (Guatemala, Honduras, El Salvador). Das hat sich in den letzten Jahren drastisch geändert. Innerhalb eines Jahrzehnts – zwischen 2012 und 2022 – stieg die Mordrate im Land des „puren Lebens“ um 66,5 Prozent. Einige Kantone wiesen 2022 teilweise doppelt so hohe oder wesentlich höhere Mordraten auf, als das für seine Unsicherheit berüchtigte Honduras. Ursache hierfür ist maßgeblich die Drogenkriminalität, die sich in den letzten Jahren stark ausbreiten konnte. 62 Prozent der 2022 verzeichneten Morde sind auf „Abrechnungen“ im Drogenmilieu zurückzuführen.

Anzahl der Tötungsdelikte in Costa Rica, 2018-2022

Costa Rica liegt auf der Transitroute für Drogen aus Südamerika nach Europa und in die USA. In den 90er Jahren wurde das Land zunächst von Kartellen mexikanischen (und in geringerem Maße kolumbianischen) Ursprungs dominiert. Mit der Lagerung größerer Drogenmengen im Land und der Bezahlung von Kurieren mit Drogen, wurden – insbesondere in den letzten zehn Jahren – immer mehr illegale Substanzen innerhalb Costa Ricas in den Umlauf gebracht. In der Folge entstanden ab 2010 Kleinkartelle, die überwiegend aus Costa-Ricanern bestehen (sogenannte „minicarteles criollos“) und sich an den Strukturen der mexikanischen Drogenkartelle orientieren. Das Aufkommen einer einheimischen Drogenszene und der steigende Kokainkonsum im Land führten schließlich zu Revierkämpfen zwischen Drogenhändlern und den verschiedenen Gruppierungen, denen diese angehören. Costa Rica entwickelte sich somit vom Transitland zur Heimstätte einheimischer Drogenbanden, die ihre Territorien mit Bandenkriegen ausweiten und deren Gelder zunehmend in der legalen Wirtschaft gewaschen werden. Heute gibt es etwa 300 Organisationen des organisierten Verbrechens in Costa Rica.

Als Ursache für den Anstieg des Drogenhandels werden zum einen die wachsende soziale Ungleichheit und Perspektivlosigkeit gesehen, die insbesondere in den von Armut geprägten und strukturschwachen Regionen des Landes präsent ist. Zum anderen werden Einsparungen bei Sicherheitskräften und Präventionsmaßnahmen als Erklärung für die Gewaltspirale herangezogen.

 

Ungleichheit und Perspektivlosigkeit als Treiber der Unsicherheit

Ihren Ursprung fand die Drogenkriminalität in Costa Rica vor allem in der Karibikregion Limón, einer der ärmsten und am wenigsten entwickelten Provinzen des Landes. Der dortige Tiefseehafen wurde zum Ausgangspunkt für den Drogenschmuggel in Containern nach Europa und in die USA und soll die Präsenz der Kartelle in der Region stark begünstigt haben.

Aber auch in der ärmsten Provinz des Landes, Puntarenas, sind die Kriminalitäts- und Mordraten in den letzten Jahren drastisch angestiegen. Seit 2017 hat sich die Mordrate in der Pazifikprovinz mehr als verdoppelt. Dies steht im Zusammenhang mit der wachsenden Präsenz von Kartellen aus Limón, die seit 2018 ihre Aktivitäten auf die Pazifikregion ausgeweitet haben und dort Revierkämpfe mit lokalen Gruppen austragen. Puntarenas liegt an der für den Drogenhandel strategisch wichtigen Pazifikroute gen Norden. Besonders betroffen von der zunehmenden Gewalt sind Bezirke, die von Armut, sozialer Ausgrenzung und fehlenden Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für junge Menschen geprägt sind. Viele Kleinfischer der Provinz leiden unter der Überfischung des Meeres infolge der Schleppnetzfischerei. Deren Verbot wiederum bedeutete für zahlreiche Krabbenfischer die Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Gleichzeitig gab es nur wenig staatliche Unterstützung, um die Folgen des Verbots abzufedern und den Fischern berufliche Alternativen zu bieten. Infolgedessen sind überproportional viele Fischer in den Drogenschmuggel involviert und stellen die mit Abstand größte Berufsgruppe unter den Häftlingen in Puntarenas.

Die Erschließung neuer Einflussgebiete der Drogenbanden von der Karibikküste hat sich auch auf die ländlich geprägte Pazifikregion Guanacaste ausgeweitet, deren Küstenhotels bei US-Reisenden besonders beliebt sind. Zwischen 2021 und 2022 hat sich die Anzahl der Tötungsdelikte dort nahezu verdoppelt.

Doch die Bandenkriege beschränken sich längst nicht mehr auf die abgelegenen Küstenregionen. Inzwischen gehört auch die Hauptstadtregion zum Einzugsgebiet der Drogenkartelle und so hat sich der geografische Schwerpunkt der Tötungsdelikte 2023 von der Karibikküste auf San José verlagert, was die die US-Botschaft im März zu einer Sicherheitswarnung für die Hauptstadt veranlasste.

Tötungsdelikte pro Provinz in den ersten vier Monaten: 2022 versus 2023

Pandemie als Brennglas für gesellschaftliche Missstände

Lange Zeit war es das solide Bildungs- und Sozialversicherungssystem, das Costa Rica von anderen Ländern in der Region abhob und zu mehr sozialer Gerechtigkeit beitrug. Zunehmend vereint das Land jedoch Aspekte, die prekäre Verhältnisse und damit die wachsende Unsicherheit begünstigen. Aufgrund des hohen Anteils von informell Beschäftigten werden viele Menschen nicht mehr vom Sozialversicherungssystem erfasst. Ausufernde Bürokratie und Reformverweigerung führten zudem in den letzten Jahren zu einem spürbaren Qualitätsrückgang im öffentlichen Schulsystem. Die Pandemie intensivierte die bestehenden Herausforderungen.

Die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung trafen insbesondere informell beschäftigte und ärmere Teile der Bevölkerung. Die Entwicklungsunterschiede zwischen der Hauptstadt- und den vom Tourismus abhängigen Küstenregionen vertieften sich, da letztere besonders unter Schließungen und Reiserestriktionen litten.

Auch Missstände im Bildungssektor verschärften sich im Zuge der Pandemie. Nachdem 2018 und 2019 infolge monatelanger Streiks die Schulen des Landes insgesamt sechs Monate geschlossen waren, folgte in der Corona-Pandemie eine erneute Schließung der Bildungsinstitutionen für rund 12 Monate. Vielen Schülerinnen und Schülern, v.a. aus sozioökonomisch schwächeren Familien und abgelegeneren Regionen, war es in dieser Zeit nur bedingt möglich, dem virtuellen Unterricht zu folgen. Es besteht ein massiver Lernrückstand, insbesondere in den Jahrgängen, die ab 2018 ins Bildungssystem eingetreten sind. Schon jetzt beträgt die Jugendarbeitslosigkeit im Land 28 Prozent.

Mit den beschriebenen Herausforderungen wächst die Attraktivität der Drogenkartelle für Jugendliche. 40 Prozent der Tötungen werden von Jugendlichen ab 15 Jahren verübt. Für besondere Aufmerksamkeit sorgte in diesem Jahr der Fall des achtjährigen Samuel Arroyo, der schlafend in seinem Kinderzimmer in San José von einem Querschläger getroffen wurde. Festgenommen wurde ein 15-jähriger Tatverdächtiger.

 

Politische Maßnahmen

Die angespannte Sicherheitslage setzt den vor einem Jahr ins Amt gewählten Präsidenten Rodrigo Chaves (Partido Progreso Social Democrático) und seine Regierung zunehmend unter Druck. Chaves, der von Medien und gebildeten Eliten des Landes für einen populistischen Politik- und Kommunikationsstil kritisiert wird, genießt historisch hohe Beliebtheitswerte in der Bevölkerung. Eine weitere Eskalation der Gewaltspirale könnte jedoch Proteste entfachen, die auch am Image des Präsidenten kratzen würden.

Längst dominiert die steigende Unsicherheit die öffentliche Debatte und wirkt sich auf das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung aus. Dies liegt auch daran, dass mit der Anzahl der Morde die Zahl der Kollateralopfer durch „Querschläger“ zwischen 2021 und 2022 um 128 Prozent stieg. Laut einer jüngsten Umfrage sieht die Mehrheit der costa-ricanischen Bevölkerung in Unsicherheit und Kriminalität derzeit die größten Herausforderungen des Landes. In den letzten Umfragen dominierten die hohen Lebenshaltungskosten, Arbeitslosigkeit und Korruption das Problembewusstsein der Bevölkerung.

Experten werfen der Regierung vor, durch die strenge Sparpolitik und damit verbundene Einsparungen bei den Sicherheitskräften und das Rückfahren großangelegter Polizeioperationen zum Anstieg der Unsicherheit beigetragen zu haben. So erreichte die Zahl der wegen Drogendelikten festgenommenen Personen im Januar den tiefsten Stand seit zehn Jahren. Auch Einschnitte bei Präventionsmaßnahmen werden kritisiert. 

Nachdem Präsident Chaves Kritik zunächst mit Verweis auf seine erst kurze Amtszeit von sich wies und von einer Inszenierung der Medien sprach, präsentierte seine Regierung unter dem Eindruck der Kritik am 19. April das Sicherheitspaket „Costa Rica Segura“.  Dies sah die Stärkung der Sicherheitskräfte durch zusätzliches Personal und Ausstattung, die Erhöhung der Polizeipräsenz durch eine temporäre Ausweitung der Arbeitszeiten und ein Gesetzespaket vor, das beispielsweise die Auslieferung von costa-ricanischen Straftätern auf Antrag ausländischer Behörden ermöglichen und die Abhörtechnik verbessern soll.

Kritiker nannten das Paket substanzlos und bemängelten den Fokus auf Strafmaßnahmen. Stattdessen bedürfe es vielmehr eines ganzheitlichen Ansatzes, der Lösungsansätze für die sozialen Herausforderungen bereithält und Perspektiven für junge Menschen schafft. Nach nur zwei Tagen musste der Präsident die Ausweitung der Arbeitszeiten infolge massiver Proteste von Polizeikräften wieder zurücknehmen. Zudem geben Beobachter der Initiative zur Auslieferung costa-ricanischer Straftäter nur wenig Aussicht auf Erfolg, da sie einer verfassungsgebenden Versammlung bedürfe.

Am 10. Mai wurde schließlich der Rücktritt des zuständigen Ministers für öffentliche Sicherheit, Jorge Torres, bekanntgegeben. Torres wurde nicht nur wegen des gescheiterten Plans der Arbeitszeiterweiterung kritisiert, sondern auch dafür, dass unter seiner Führung der Fokus auf der Bekämpfung des kleinangelegten Drogenhandels und nicht der internationalen organisierten Kriminalität lag. Neuer Amtsinhaber ist Mario Zamora, der bereits während der Regierung von Laura Chinchilla (Partido Liberación Nacional) zwischen 2011 und 2014 als Minister für öffentliche Sicherheit agierte und in dieser Zeit die Mordrate von 12 auf 8,8 reduzierte. Die Regierung Chinchilla stand für ein Modell der Kriminalitätsbekämpfung, das neben repressiven Maßnahmen stark auf Präventionsmaßnahmen setzte.

Die Neubesetzung dürfte also insbesondere die Stimmen besänftigen, die einen ganzheitlichen Ansatz im Kampf gegen die Unsicherheit fordern und vor dem salvadorianischen Modell warnen, das Ex-Minister Torres noch im Dezember gelobt hatte. Der salvadorianische Präsident Nayib Bukele verhängte im März 2022 den Ausnahmezustand, um die grassierende Bandenkriminalität in El Salvador zu bekämpfen. In diesem Rahmen wurden Tausende Verdächtige ohne Haftbefehl festgenommen, Militär und Polizei erhielten bedeutende Budgeterhöhungen. Zwar gelang es in El Salvador, die Mordrate durch die Verhängung des Ausnahmezustands drastisch zu reduzieren. Menschenrechtsorganisationen kritisieren jedoch das Vorgehen der Sicherheitskräfte und prangern Menschenrechtsverletzungen, wie bspw. Folter und Misshandlungen im Gefängnis, an.

In Costa Rica ist vorerst kein Ende der Gewalt in Sicht. Bis die Maßnahmen des neuen Sicherheitsministers und die angekündigten Gesetzesinitiativen Wirkung entfalten, dürfte noch einige Zeit ins Land gehen. Wenngleich Costa Rica noch immer ein beliebtes Tourismusziel und Anzugspunkt für internationale Investitionen in der Region ist, dürfte die Gewaltspirale die wirtschaftliche Dynamik negativ beeinflussen. Sollte es mittelfristig nicht gelingen, das organisierte Verbrechen zurückzudrängen, könnten aber nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die vielgepriesene Demokratie nachhaltig Schaden nehmen. In diesem Fall droht auch in Costa Rica der Zuspruch zu populistischen Politikansätzen der harten Hand zu wachsen.

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Julia Sandner

Julia Sandner

Leiterin Regionalprogramm Energiesicherheit und Klimawandel Lateinamerika - EKLA und Leiterin Auslandsbüro Costa Rica

julia.sandner@kas.de +51 934 346 675

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