Bedeutung des G20-Gipfels für Japan
Nachdem Shinzo Abe im September 2012 zurück an die Spitze der Liberaldemokratischen Partei und darauf folgend zum Premierminister Japans gewählt worden war, teilte er alsbald der Welt seine Vision für ein neues Japan mit. Mit seinem umfangreichen wirtschaftlichen Reformprogramm, den sogenannten Abenomics, wollte er das Land mit der weltweit höchsten Staatsverschuldung durch eine expansive Geldpolitik aus der seit zwei Jahrzehnten anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation führen. Im Jahr 2014 erklärte Abe auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos metaphorisch, die Zeit der Abenddämmerung werde enden und stattdessen ein neuer Morgen anbrechen. 2019 ist dabei von besonderer Bedeutung, denn mit ihm beginnt buchstäblich die Zeit des neuen Japans, auch auf der Weltbühne.
Gipfeltreffen als Auftakt einer neuen Ära
Eingeleitet wurde die neue Zeitrechnung durch den historischen Rücktritt Kaiser Akihitos und der Thronbesteigung seines Sohns Naruhito, wodurch in Japan die Regierungsdevise Reiwa („schöne Harmonie“) begann. Die Ausrichtung des ersten G20-Gipfels in Japan, die drei Monate darauf folgende Rugby-WM, die Olympischen Spiele 2020 sowie die EXPO 2025 verdeutlichen die globalen Aspirationen der Inselnation.
Tokios Top-Prioritäten
In diesem Kontext soll der G20-Gipfel in Osaka die Weichen für eine – im japanischen Sinne – harmonische Zukunft stellen. Dafür erachtet Abe vier Themen als besonders wichtig: Freihandel, den Umgang mit digitalen Daten, Klimawandel sowie die Bewahrung der liberalen Weltordnung.
Freihandel statt Protektionismus
Japan verfügt über die diversifizierteste Wirtschaft der Welt. So werden überall japanische Produktkomponenten wie beispielsweise elektronische Steuer- und Speicherbausteine nachgefragt, die so komplex sind, dass sie kaum substituiert werden können. Nicht zuletzt diese Diversifikation macht die Inselnation zum viertgrößten Warenexporteur und zur drittgrößten Volkwirtschaft der Welt. Der freie Außenhandel bestimmt damit elementar den Wohlstand Japans. Für Premier Abe ist es allein deshalb wichtig, seinen G20-Vorsitz zu nutzen, um für multilateralen Handel zu werben und dem Protektionismus abzuschwören. Abe will Vertrauen in das internationale Handelssystem wiederherstellen und lang schon nötige Reformen der World Trade Organization (WTO) anstoßen. Internationaler Handel soll auch künftig multilateral organisiert sein und nicht bilateral. Abe setzt dabei auf die Unterstützung der europäischen Staaten, die ihm bereits bei dem EU-Japan-Gipfel im April ihre Zusammenarbeit zusicherten – sowohl für den G20-Gipfel als auch für den darauffolgenden G7-Gipfel im französischen Biarritz. Seit in Kraft treten des Freihandelsabkommens zwischen EU und Japan (JEFTA) im Februar 2019, haben sich die Beziehungen beider Akteure intensiviert. Für beide Seiten ist das Abkommen ein deutliches Zeichen gegen die aktuellen Protektionismustendenzen. Darüber hinaus eint beide Akteure der skeptische Blick auf den US-chinesischen Handelsstreit, der das globale Wirtschaftswachstum bereits geschwächt hat. In Japan ist man sich der Gefahr bewusst, die durch eine Eskalationsspirale im Handelsstreit ausgelöst werden könnte. So werden die wirtschaftlichen Sanktionen der USA gegen Japan Ende der 1930er Jahre gelegentlich als Analogie zur heutigen US-Handelspolitik mit China bewertet. Im gegenwärtigen Handelskonflikt steht Tokio zwischen zwei Stühlen. Während China der größte Handelspartner ist, sind die USA Japans wichtigster Sicherheitspartner. Ob diese Konstellation – die ebenso auch auf Deutschland zutrifft – Japan zum Brückenbauer beziehungsweise G20-Gastgeber Abe zum Mediator im Handelsstreit befähigt, ist kritisch zu bewerten.
Startschuss für ein globales Daten-Regelwerk
Nicht nur für Japans Premierminister sind digitale Daten der Kraftstoff des 21. Jahrhunderts. Die Digitalisierung produziert mehr Innovation und fördert mehr Wirtschaftswachstum als jede andere Ressource. Auf dieser Grundlage wird Abe wiederholt für die Notwendigkeit einer Reformierung der WTO werben. Sein Ziel ist es, den weltweiten Handel mit digitalen Daten zu reglementieren, wie auch der Warenverkehr von analogen Gütern bestimmten Regeln unterliegt. Abe ist jedoch nicht der alleinige Impulsgeber dieses Anliegens. Deshalb ist zu erwarten, dass es unter den Gipfelteilnehmern breite Zustimmung geben wird, gemeinsame Regeln für die fünfte industrielle Revolution zu definieren. Dennoch wird das Vorhaben als sehr ambitioniert wahrgenommen, sind doch zuletzt alle Reformversuche der WTO seit der Wahl des US-Präsidenten Trumps in den Hintergrund gerückt. Tokios Intention hinter der Implementierung eines internationalen Daten-Regelwerks, richtet sich auch gegen Staaten, die ihren einheimischen Datenfluss von der Welt isolieren wollen. Allen voran China und Russland setzten auf restriktive Regulierungen, die ausländischen Unternehmen den Zugang zum nationalen Datenmarkt erschweren oder verweigern. Abe wird daher auf dem G20-Gipfel für einen freien Datenverkehr und gegenseitiges Vertrauen werben. Dabei kann er wohl auf Unterstützung aus den USA und den europäischen Staaten hoffen – wobei letztere zusätzlich besonderen Wert auf die Implementierung internationaler Datenschutzrichtlinien legen. Ein zweiter Aspekt bei der Einführung neuer Regeln für die fünfte industrielle Revolution richtet sich allerdings auch gegen US-amerikanische IT-Giganten. Internetfirmen wie Google, Amazon, Facebook, etc. erwirtschaften heute nahezu überall auf der Welt Gewinne, bezahlen aber oft nur an einem Standtort Steuern. Bei dem offiziellen G20-Finanzministergipfel, welcher am 8. und 9. Juni in Fukuoka stattfand, diskutierten die Teilnehmer bereits verschiedene Möglichkeiten künftig Digitalkonzerne ähnlich zu besteuern wie es bei klassischen Betrieben der Fall ist. Ob dies letztlich durch eine internationale digitale Mindeststeuer geschieht oder ob die absolute Anzahl der Dienstleistungsnutzer in einem Land als Maßstab für die Steuerhöhe genommen werden soll, ist noch unklar. Deutlich wurde in Fukuoka allerdings, dass es innerhalb der G20 einen Konsens gibt, digitale Steuerschlupflöcher zu schließen, damit künftig mehr Staaten von den Gewinnen der Internetfirmen profitieren können.
Den Klimawandel positiv verstehen
Um den Klimawandel zu adressieren, wirbt Abe mit der Förderung disruptiver Innovationen. Es sei für ihn der falsche Ansatz, der 1,5°C Empfehlung des Weltklimarats ausschließlich mit Regulierungen zu begegnen. Stattdessen hält er es für zielführend Technologien zu fördern, die CO2 nicht als bösartig wahrnehmen, sondern als erschwingliche Ressource verstehen – beispielsweise für künstliche Photosynthese und Photokatalyse. Abe möchte erreichen, dass die übrigen Staats- und Regierungschefs den Klimaschutz künftig nicht prinzipiell mit hohen finanziellen Ausgaben verbinden, sondern als Wachstumsgenerator erkennen und dahingehend politische Reformen in ihren Ländern umsetzen. Um dem Nachdruck zu verleihen, lädt Japan im Herbst renommierte Wissenschaftler und Ökonomen aus aller Welt zum Green Innovation Summit ein. Dieser global ausgerichtete Wissensaustausch soll die Teilnehmer vernetzen und neue Handlungsdimensionen vermitteln. Japan ist sich den Risiken des Klimawandels sehr bewusst. Die Inselnation ist unmittelbar betroffen von Folgen wie dem Anstieg des Meeresspiegels. Aus diesem Grund leistete Japan in der Vergangenheit mehrfach Pionierarbeit bei der Erforschung der globalen Erwärmung. Die japanische Raumfahrtbehörde JAXA war es, die 2009 den weltweit ersten Greenhouse Gases Observing Satellite (GOSAT) in das Weltall entsendete. Seit Mai 2019 kooperiert JAXA über den GOSAT-Satelliten mit der in Darmstadt ansässigen europäischen Wetterbeobachtungsstation EUMETSAT. Diese Entwicklung beschreibt auch den Wandel im Verständnis mit der globalen Erwärmung, deren Bewältigung immer vehementer multilateral gesucht wird. In diesem Sinne ist zu erwarten, dass Abe auch beim Thema Klimaschutz energisch auf internationale Kooperation pochen wird. Beispielsweise hat er angekündigt, dass er eine gemeinsame Verpflichtung formulieren möchte, in der sich die Staaten dazu bekennen ab dem Jahr 2050 keinen neuen Plastikmüll in die Ozeane zu schwemmen. In Tokio geht man allerdings davon aus, dass eine solche Verpflichtung auf gemischte Zustimmung treffen wird. Während Washington eine solche Erklärung voraussichtlich ablehnt, werden die europäischen Staaten wahrscheinlich eine ambitioniertere Deadline setzen wollen. Folglich ist nicht absehbar, ob es in diesem Programmpunkt ein gemeinsames Ergebnis geben wird.
Bewahrung der liberalen Weltordnung
Multilateralismus, Demokratie, Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, offene Märkte und ein globales Handelssystem können als die Kernprinzipien der liberalen Weltordnung gesehen werden. Jeder einzelne Aspekt hat in der jüngsten Vergangenheit eine Erosion erfahren, weshalb Japan diesem allumfassenden Punkt besondere Priorität auf der Agenda widmet. Tokio ist der drittgrößte Geldgeber der UNO und nur die USA, Großbritannien sowie Deutschland geben mehr Geld für die Entwicklungshilfe aus als Japan. Damit trägt die Inselnation schon seit mehreren Jahrzehnten eine herausragende Verantwortung bei der Gewährleistung der liberalen Weltordnung. Gleichwohl hat sich Japan etwa bei der Friedenssicherung lange Zeit eher passiv engagiert, was ähnlich wie in Deutschland historisch begründet ist. Doch Abe wirbt entschlossen für ein aktiveres Auftreten, womit er auch den Einsatz militärischer Mittel im Rahmen multilateraler Organisation meint. Hinter den Bekenntnissen zum verstärkten globalen Engagement, verbirgt sich aber auch ein langersehntes innenpolitisches Vorhaben: die Re-Formulierung der pazifistischen Verfassung. Artikel 9 der Nachkriegsverfassung verbietet Japan de jure eigene Streitkräfte zu unterhalten. Die japanischen Selbstverteidigungskräfte sind jedoch de facto eine hochmoderne Armee, wodurch sie in einer rechtlichen Grauzone existieren. Abe hält diesen Zustand für unwürdig, denn es deklariert Japan quasi automatisch zum Juniorpartner in seinen militärischen Beziehungen. Seine Taktik ist recht eindeutig: der internationalen Gemeinschaft beschwört er immer wieder, sich multilateral, insbesondere bei der Wahrung des Friedens- und Wohlstands, mehr engagieren zu wollen. Unter dem Motto die Freiheit der Meere zu bewahren, entwickelte die Inselnation so zuletzt die größten Kriegsschiffe seit 1945 und kaufte über 100 neue Kampfflugzeuge. Der Bevölkerung kann Abe kommunizieren, dass die Aufrüstung der internationalen Erwartung entspricht. Hat sich die Inselnation erst an die moralische Rolle des aktiven Japans gewöhnt, kann er auf die nötige zweidrittel Mehrheit im eigenen Parlament hoffen, die er benötigt, um schließlich die Verfassung zu novellieren. Diese Taktik könnte durchaus erfolgreich sein. So bewertet etwa die australische Denkfabrik Lowy Institute: „Japan has become the leader of the liberal order in Asia“. Innerhalb der G20 wird diese Entwicklung jedoch ambivalent verfolgt. Allen voran beobachten China und Südkorea Japans Hinwendung zu einer aktiveren Außenpolitik kritisch und stehen einer angestrebten Revision von Artikel 9 entsprechend misstrauisch gegenüber. Ebenso äußert Russland Sicherheitsbedenken, insbesondere solange kein bilateraler Friedensvertrag besteht. In den USA, welche seit einigen Jahren mehr militärische Eigenständigkeit von Japan fordern sowie in Australien und in Indien wird die Abkehr vom Pazifismus dagegen positiv aufgenommen. Für Abe kann dieser Programmpunkt somit zu einem Meilenstein werden, im Prozess die eigene Verfassung an die geopolitischen Realitäten der Gegenwart anzupassen. Die diplomatische Herausforderung für die Inselnation wird dabei sein, das angespannte Verhältnis zu seinen Nachbarn nicht überzustrapazieren, um einen regionalen Rüstungswettlauf zu vermeiden.
Wegweisender G20-Gipfel?
Noch nie zuvor war Japan Gastgeber eines G20-Gipfels. Die Regierung ist jedoch alles andere als unerfahren. Taro Aso, aktueller Finanzminister und Vizepremier, vertrat Japan auf den ersten beiden Treffen der G20 (2008 und 2009). Shinzo Abe selbst hat seit seinem Amtsantritt 2012 Japans Interessen auf sechs aufeinanderfolgenden Gipfeltreffen vertreten. Diese Erfahrungen werden ihm dabei helfen, seine Agenden nachhaltig zu adressieren. Ebenso ist der Zeitraum des Gipfels günstig, um sich als gestaltungsmächtiger Akteur zu inszenieren. Während auf der einen Seite der US-Präsident unberechenbar und fluide ist, kämpfen die europäischen Staaten auf der anderen Seite mit innenpolitischer Zerrissenheit. Großbritannien wird weiterhin durch den Brexit ausgebremst, Italien versinkt in einer Schuldenkrise, Frankreich hat die Massenproteste der Gelbwesten gerade erst überstanden und die deutsche Regierungskoalition muss schwierige Landtagswahlen überstehen. Diese Kombination kann Abe nutzen, um die globalen Aspirationen des neuen Japans der Reiwa Zeit in eine gute Ausgangslage zu manövrieren. Eine erfolgreiche G20-Präsidentschaft wird Abe ebenfalls Innenpolitisch nutzen. Am 21. Juli wird die Hälfte des japanischen Oberhauses – und gegebenenfalls auch des Unterhauses – neu gewählt. Die Inszenierung als einflussreicher Staatsmann kann Abe dabei helfen ein vorteilhaftes Wahlergebnis zu erzielen, um schließlich lange verfolgte Projekte wie die Verfassungsänderung umzusetzen. Japan könnte letztlich in der Folge nicht nur als Anführer der liberalen Ordnung in Asien, sondern auch im Westen betrachtet werden.Tentang seri ini
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