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Filmische Rollenspiele
In der ersten Sektion standen ‚Bürger im Film‘ im Fokus. Heinrich Breloers Dokudrama Die Manns (2001), so Jürgen Barkhoff (Dublin), enthülle Thomas Mann zwar als Repräsentanten bürgerlicher Werte, aber auch als meisterhaften Regisseur einer bürgerlichen Rolle, die dazu diene, die inneren Gefahren seines Künstlertums und seiner Homosexualität sowie die äußeren Gefahren der Weltgeschichte zu sublimieren. Dieses komplexe Rollenspiel mit der Bürgerlichkeit, in dem allerdings kaum Manns Engagement für die Demokratie in den Blick komme, weite der Film auf Manns Familie aus.
Ioana Craciun-Fischer (Bukarest) machte anhand von Joe Mays Stummfilm Asphalt (1929) auf eine wesentlich kritischere Darstellung der Bürgerlichkeit aufmerksam. Der autoritätshörige Protagonist des Films, ein junger Polizeiwachtmeister, wandle sich erst dank einer verführerischen Verbrecherin zu einem autonomen Subjekt. Abgeschlossen wurde die erste Sektion mit Wolfgang Staudtes Film Der Untertan (1951). Unter der Regie von Frank Finlay (Leeds) erörterte die Filmproduzentin Susanne Ottersbach-Flimm mit dem Plenum die Frage, ob Staudte seine satirische Darstellung einer bürgerlichen Moral des Tretens und Getreten-Werdens überziehe – und damit das Thema des Untertanen vielleicht sogar verharmlose.
Vom Bildungsroman zum europäischen Mutbürger
Die zweite Sektion galt dem ‚Bürger in der Literatur‘. Gerhard Lauer (Göttingen) beschrieb Goethes Ideal eines Bürgers, der seine Individualität frei ausbilde und dennoch zu einem harmonischen Ausgleich zwischen Welt bzw. Gesellschaft und Individuum imstande sei. Sein Bildungsideal, festgehalten im Bildungsroman, auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen, von der nur ein Prozent der Bildungsschicht angehört habe, dies habe sich der Autor nicht vorstellen können. Der Zusammenhang zwischen Bildung und Bürgerlichkeit sei dann in der Romantik und im 19. Jahrhundert schwächer geworden. Das Engagement für das Ideal einer freien Bildung sei aber gerade jetzt wieder sehr gefragt. So sei die pakistanische Bloggerin Malala Yousafzai wegen ihres Plädoyers für Bildung beinahe umgebracht worden.
Eva Kocziszky (Szombathely) warf neue Blicke auf Hans Magnus Enzensbergers Bürgerkonzepte. Die harsche und hoffnungslose Kritik, die Enzensberger in dem Versepos Der Untergang der Titanic (1978) über die europäische Bürgerlichkeit fälle, sei in der Dokufiktion Hammerstein (2008) – über den letzten Chef der Heeresleitung in der Weimarer Republik und seine Familie – zwar nicht gänzlich verschwunden. Der verbürgerlichte Militäradel werde in ihm aber auch positiv bewertet. Aus Hammerstein spreche eine neue Hoffnung auf bürgerliche Tugenden: auf individuelle Freiheit und Zivilcourage sowie auf einen familiären Zusammenhalt, der politische Differenzen überwiege.
Antje Büssgen (Löwen/Louvain) stellte Robert Menasses Europa-Essay Der Europäische Landbote (2012) und dessen Ideal eines Europas der Regionen vor. Um ein solches Europa zu erreichen, sei es Menasse zufolge unabdingbar, dass nationale Interessen und Demokratien sowie deren Vertretung im Europäischen Rat überwunden würden und dass eine übernationale europäische Demokratie konzipiert werde. Deshalb sei für Menasse eine demokratische Bewegung von „Mutbürgern“ nötig. In Menasses Essay bleibt aber unklar, wie Büssgen in der Diskussion betonte, warum regionale Interessen weniger Konfliktpotential bergen als nationale Interessen.
Am zweiten Abend las Martin Mosebach, diesjähriger Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung, aus seinem Roman eines gescheiterten Bürgers, Eine lange Nacht (2000). Dieser fallende Held namens Ludwig Drais sei eine seiner, so Mosebach, ‚monströsen‘ Figuren. Sein Bürgertum werde an dem Punkt sichtbar, wo er es verliere, wie Moderator Günter Blamberger (Köln) ausführte.
Europäische Gesellschaft und Weltbürgertum
In der dritten Sektion, ‚Weltbürgertum und europäische Gesellschaft‘, beschrieb Françoise Lartillot (Metz) Michael Hamburgers Kosmopolitismus in altgriechischer Tradition. Sie belegte ihn mit Hamburgers poetologischer Position des Exilanten, mit seiner kosmopolitischen Deutung der deutschen Literatur, mit dem Motiv des Gehens und Bleibens bzw. mit kulturanalytischen Elementen in seiner Lyrik sowie mit seiner Idee, dass Mensch und Kosmos durch die Materialität der Sprache versöhnt werden müssen.
Bogdan Mirtschev (Sofia) fasste die Geschichte der Begriffe ‚Bürger‘ und ‚Bürgerlichkeit‘ zusammen. Dabei beleuchtete er auch die abwertende Verwendung dieser Begriffe seit dem französischen Absolutismus und deren positive Verwendung in der gegenwärtigen Gesellschaft. Bürgerliche Werte wie christliche Ethik, Familie und Heimat würden wieder stärker befürwortet. Darüber hinaus gäbe es neben politischem Engagement dank der Neuen Medien neue Formen politischer Partizipation. In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, wie wichtig es ist, zwischen zwei Verwendungen des ‚Bürger‘-Begriffs zu unterscheiden: Zum einen kann mit einem ‚Bürger‘ eine Person gemeint sein, die das Recht auf politische Mitbestimmung habe und dieses Recht zum Wohle des Gemeinwesens engagiert ausübe bzw. eine Person, die dafür kämpfe, dieses Recht zu erhalten. Zum anderen kann mit einem ‚Bürger‘ eine Person gemeint sein, die sich durch einen bestimmten Habitus definiere. Freilich lässt sich beides nicht immer völlig trennscharf unterscheiden. Zum Beispiel kann der Anspruch auf politische Mitbestimmung einen Habitus prägen.
Büchner als Mutbürger und Citoyen
Im Abschlussvortrag zeigte Rüdiger Görner (London), wie differenziert das Bürgerliche von Georg Büchner in einem weiten Feld zwischen revolutionärem Engagement, Stadtbürgertum und Lethargie erfahren und dargestellt worden sei. Büchners Texte seien Experimente, die nie ein bestimmtes Konzept von Bürger und Bürgerlichkeit eindeutig kritisierten oder befürworteten.
Im Abschlusspodium diskutierten die Studierenden Jesper Festin (Lund), Guglielmo Gabbiadini (Bergamo), Helena Köhler (Bielefeld) und Heilika Leinus (Tartu) über die Bedeutung und Brauchbarkeit des ‚Bürger‘-Begriffs, über Bildung als Qualifikation und bürgerlichen Wert, über Patriotismus und europäische Identität, über die Chancen und Grenzen der Neuen Medien. Einig waren sich die Studierenden darüber, wie wichtig bürgerschaftliches Engagement und die Partizipation an einer europäischen Bürgergesellschaft heute sind.
Insgesamt machte die Tagung auf verschiedene, bis in die Gegenwart reichende Darstellungen und Bewertungen von Bürgerlichkeit aufmerksam. Darüber hinaus wurden viele Perspektiven für weitere Forschungen und Diskussionen deutlich. Unter dem Motto der Tagung könnten weitere literarische Texte, auch zeitgenössische Werke anderer Künste analysiert werden. Dabei müssten, so ein zentrales Ergebnis der Tagung, die oben bereits beschriebenen unterschiedlichen Verwendungen des ‚Bürger‘-Begriffs bedacht werden. Vor allem könnte die Frage nach dem Bürger für vergleichende Analysen verschiedener europäischer Literaturen fruchtbar gemacht werden. Es geht darum, wie eine bürgerliche europäische Identität definiert werden kann. So könnte eine Frage auf der kommenden VII. Fachtagung für europäische Germanisten über ‚Krieg und Frieden in europäischer Literatur‘ lauten, inwiefern Bürger und Bürgerlichkeit sowohl zu Kriegen als auch zu Friedensbestrebungen beigetragen haben.
Von Markus Pahmeier
Doktorand an der Universität Bielefeld
Tentang seri ini
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