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Solidarität vor der Geburt

Gesellschaftliche und ethische Herausforderungen der modernen Reproduktionsmedizin und Diagnostik

Die moderne Reproduktionsmedizin erfüllt Kinderwünsche. Doch wenn Eltern die Diagnose „Down-Syndrom“ erhalten, kann aus dem Wunschkind schnell eine seelische Belastung werden. 3.000 bis 4.000 Schwangerschaften werden deshalb jedes Jahr in Deutschland abgebrochen. Ob in solchen Fällen der Fokus eher auf der Perspektive hilfesuchender Eltern oder eher auf den ethischen Grundsätzen liegen soll, diskutierten Mediziner, Theologen, Kultur- und Sozialwissenschaftler bei einer Fachkonferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.

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Reproduktionsmedizin erfüllte Millionen Kinderwünsche

Der gesellschaftliche Druck zur Elternschaft scheint hoch: Knapp 62 Prozent der Deutschen halten zwei Kinder für ideal, 31 Prozent drei Kinder – und nur ein halbes Prozent befürwortet die kinderlose Familie, berichtet die Sozialwissenschaftlerin Anette Eva Fasang. Abhilfe kann die moderne Reproduktionsmedizin schaffen. Sie erfüllte in den letzten Jahrzehnten Millionen Eltern ihren Wunsch nach Nachwuchs. Bis 2013 kamen weltweit über sieben Millionen Kinder durch assistierte Reproduktion zur Welt, allein in Deutschland waren es 233.749.

Die Zeugung des Kindes ist jedoch nur der Anfang. Neue Diagnose-Methoden stellen Eltern und Ärzte vor schwierige Entscheidungen: Untersuchungen insbesondere in den Frühphasen der Schwangerschaft lassen mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit genetische Unregelmäßigkeiten erkennen. Die bekannteste ist die Trisomie 21, das Down-Syndrom. Für viele Paare eine erschütternde Diagnose: Experten schätzen, dass 80 bis 90 Prozent der Schwangerschaften abgebrochen werden, wenn Ärzte schwere Erkrankungen feststellen. Die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche aufgrund medizinischer Indikationen, also wenn Ärzte ein körperliches oder seelisches Risiko der Schwangeren sehen, steigt kontinuierlich von Jahr zu Jahr: 2008 waren es in Deutschland knapp unter 3.000, 2015 bereits über 3.800.

Vor- und Nachteile der vorgeburtlichen Diagnostik

Es ist kaum umstritten, dass noch während der Schwangerschaft Untersuchungen des Fötus und der Mutter durchgeführt werden. Für Wolfgang Holzgreve ist „die Pränatal-Diagnostik wichtig für Notfallsituationen in der Geburtshilfe“ und „die Pränatal-Diagnostik hat mehr Schwangerschaften gerettet, als dass es zu Abbrüchen kam“. Der Ärztliche Direktor des Universitätsklinikums Bonn betont, dass sich bereits durch Ultraschall viele auch schwerwiegende Erkrankungen ermitteln ließen – und diese Methode stelle kaum jemand in Frage. Auch die Direktorin des Göttinger Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin verweist in dieser Diskussion auf die Erfolge des medizinischen Fortschritts: „Vor 100 Jahren lag die Säuglingssterblichkeit noch bei zehn Prozent – sie ist bis heute auf fünf von Tausend reduziert worden“, sagt Claudia Wiesemann. Durch Vorsorge und Untersuchungen konnten Ärzte Millionen Leben retten. Auch die Müttersterblichkeit sei schließlich stark zurückgegangen.

Das Recht auf die bestmögliche Behandlung?

Neben der genannten vorgeburtlichen Diagnose ist vor allem die sogenannte Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, in der Kritik. Nach der künstlichen Befruchtung einer Eizelle außerhalb des Körpers können mittels PID schwere genetische Erkrankungen bereits in den ersten Tagen erkannt werden, noch bevor der Embryo in die Gebärmutter gepflanzt wird, sagte Klaus Diedrich. Für den ehemaligen Direktor der Frauenklinik des Universitätsklinikums Schleswig-Holsteins in Lübeck ist die PID zu Recht seit 2010 in Deutschland erlaubt: „Die Frau hat das Recht auf die bestmögliche Behandlung und die Reproduktionsmedizin macht Fortschritte, unser Ziel sollte es sein, ein möglichst gesundes Kind zu bekommen.“ Ein konkretes Beispiel aus Dänemark aber lässt aufhorchen. Dort sei die Rate der Trisomie-21-Kinder massiv zurückgegangen, seit die PID dort legal ist, sagt die Sozialwissenschaftlerin Anette Eva Fasang.

„Die Träume der Eugenik haben sich erfüllt“

Eltern wollten „Designer-Babys“ und „Übermenschen in der Petri-Schale“ produzieren, so der generelle Vorwurf. Und wenn beim Embryo eine nicht erwünschte genetische Anomalie gefunden wird, „entsorgen“ die Ärzte das werdende Leben, kritisiert Andreas Bernard die Klinik-Sprache. Er sieht darin einen Prozess der Verdinglichung. Der Lüneburger Kulturwissenschaftler stellt eine „irritierende Tendenz der Gegenwart“ fest: „Die Träume der Eugenik haben sich erfüllt. Wir tun heute Dinge, für die früher totalitäre Regime notwendig waren.“ Heute würden Menschen dasselbe Konzept wie im Nationalsozialismus verfolgen, nämlich „dass Menschen mit Behinderungen nicht mehr geboren werden.“ Damals hieß das bei Sozialdarwinisten „lebensunwertes Leben“.

Moralisch unzulässig, genetisch belastete Embryos zu töten?

Auch die Katholische Kirche spricht sich vehement gegen einen „Abtreibungsautomatismus“ aus: „Allen Menschen kommt die gleiche Würde zu, das gilt vom ersten Augenblick der Existenz an“, findet Franz-Josef Bormann: Wenn Eltern sich zur Zeugung eines Kindes entschlössen, „müssen sie ihr Kind unbedingt annehmen, also auch im Falle einer auftretenden Krankheit oder Behinderung“. Das Kind müsse nach Auffassung des Moraltheologen unbedingt angenommen werden. Schließlich darf das Recht auf Leben nicht von zu erwartenden Eigenschaften des Menschen abhängen. Zudem konterkariere die „eugenische Selektionsmentalität“ die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Es sei schlicht moralisch unzulässig, genetisch belastete Embryonen zu töten: „Die Solidarität muss auch vor der Geburt greifen“, so Bormann.

Fragen, die die Gesellschaft beantworten muss, nicht allein die Medizin

Wiesemann hingegen plädierte dafür, den Eltern solcher Kinder mehr Empathie entgegenzubringen: Viele der Paare, die sich für eine Untersuchung auf Gen-Defekte entschieden, haben eine Leidensgeschichte und schon ein behindertes Kind zur Welt gebracht. Diese Eltern wollten einfach verhindern, die eigene Erkrankung weiterzugeben. Schon hier zeigt sich, worin sich Mediziner, Wissenschaftler und Ärzte in der Diskussion einig scheinen: Die Folgen von Reproduktionsmedizin und vorgeburtlicher Diagnostik sind weniger medizinische Fragen, denn gesellschaftliche. Auch gibt es heute viel bessere Möglichkeiten, behinderte Menschen zu integrieren. Vor allem können zum Beispiel Menschen mit Down-Syndrom heute gut und lange leben, betont Bormann. Die Herausforderung genetischer Besonderheiten wie dem Down-Syndrom kann nicht allein die Eltern belasten: Es geht darum, wie unsere Gesellschaft mit Behinderten umgeht, oder, wie es Bormann formulierte: „Der Gradmesser einer Gesellschaft ist ihr Umgang mit ihren schwächsten Mitgliedern.“

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