Sergio Massa, der Meister der Metamorphose
Sergio Massa startete als Wirtschafts- und Finanzminister einer unbeliebten Regierung mit verheerenden Wirtschaftsdaten mit denkbar schlechten Voraussetzungen in den Wahlkampf. Dafür wurde er bei den Vorwahlen abgestraft: lediglich 27,28% der Wähler schenkten den beiden Kandidaten von Unión por la Patria ihre Stimme, ein historisch schlechtes Ergebnis für den Peronismus. Seit dem 13. August ist Sergio Massa etwas gelungen, was viele für unmöglich gehalten hatten: Er inszenierte sich als Gesicht der Erneuerung und betonte, seine Regierungszeit beginne nach der Wahl mit der Vereidigung der neuen Regierung am 10. Dezember – und das obwohl er als amtierender Wirtschafts- und Finanzminister für die verheerende Wirtschaftspolitik maßgeblich mit verantwortlich ist, das Land mit einer Inflationsrate von derzeit knapp 140% kämpft und der staatlich festgelegte Dollarkurs und der Parallelkurs auf dem Schwarzmarkt dramatisch auseinanderdriften. All dies hatte verheerende Folgen für die Importwirtschaft und die Preisbildung auf dem Markt.
Massa war der einzige von den drei chancenreichen Anwärtern auf die Präsidentschaft, der im Wahlkampf keine Fehler machte und die Schwächen der anderen maximal für sich zu nutzen wusste. Vor allem bei der klassischen peronistischen Klientel – den Arbeitern und sozioökonomisch Schwächeren – schürte er die Angst vor Massenentlassungen und Streichungen der Sozialprogramme unter einem Präsidenten Milei, bei der Mittelschicht punktete er mit der Warnung gegen die Bedrohung der Demokratie durch den Anti-Demokraten von La Libertad Avanza. Die Peronisten mobilisierten mit großem Erfolg ihre Maschinerie im ganzen Land und spannten die Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Bürgermeister und Gouverneure als Zugpferde ein. Zusätzlich griff der Wirtschaftsminister tief in die Tasche und beschloss seit August finanzielle Hilfen für insgesamt
12.640.000 Personen bei einer Bevölkerung von knapp 47 Millionen Menschen in Höhe von insgesamt 1,5% des BIP in einem verschuldeten Land, das dringend seine Staatsfinanzen ordnen und konsolidieren muss. Somit gelang nicht nur die prozentuale Steigerung des Wahlergebnisses von 27,28% bei einer Wahlbeteiligung von 69% in den Vorwahlen auf 36,68% bei einer Wahlbeteiligung von 77,6% in den jetzigen Wahlen, sondern auch ein enormer Stimmenzuwachs von 6.719.042 im August auf 9.645.983 Stimmen. Sergio Massa ist es als einzigem gelungen, massiv von der gestiegenen Wahlbeteiligung und dem Rückgang der Enthaltungen von 5,5% auf 2,04% und ungültigen Stimmen von 1,24% auf 0,81% zu profitieren. Einen besonders hohen Anteil an diesem Erfolg hatte das gute Wahlergebnis in der Provinz Buenos Aires, der Bastion des Kirchner-Peronismus. Das ist besonders interessant, da Sergio Massa einst als Bürgermeister der Stadt Tigre die neue peronistische Partei Frente Renovador als Alternative zum Kirchner-Peronismus mitgründete und 2019 sogar als Präsidentschaftskandidat für den Frente Renovador zur Spaltung des Peronismus mitbeitrug, den er jetzt mit einem Wahlsieg zu retten gedenkt.
Das Wahlergebnis verwundert vor allem, weil neben der schlechten Performance der nationalen Regierung auch zwei Korruptionsskandale im Peronismus in der Provinz Buenos Aires gegen den Kandidaten Massa spielten; dies hatte jedoch offensichtlich im Moment der Stimmabgabe für die Wähler keine ausschlaggebende Relevanz. In den TV-Debatten sprach Sergio Massa lediglich über die Zukunft und vermied es virtuos, Verantwortung für die desaströse Wirtschaftspolitik zu übernehmen. Nach der Verkündung der offiziellen Wahlergebnisse trat er allein auf die Bühne, mit Tränen in den Augen und einem emotionalen Diskurs, in dem er die Einheit der Nation und der argentinischen Demokraten beschwor. Bewusst vermied er die Nennung von Staatspräsident Alberto Fernández und Vizepräsidentin Cristina Kirchner und unterstrich eindrucksvoll seine politische Wandlungsfähigkeit mit dem Ziel des Machterhalts um jeden Preis.
Javier Milei: vom exzentrischen Außenseiter zum ernstzunehmenden Konkurrenten
Selbst am 13. August von der realen Möglichkeit, zum Staatspräsidenten gewählt zu werden sichtlich überrascht, avancierte der selbst ernannte Anarcho-Kapitalist in kürzester Zeit zum Favoriten für die Präsidentschaftswahlen und beherrschte in den vergangenen Monaten die nationale sowie internationale Berichterstattung. Der vor den Vorwahlen radikal auftretende Libertäre moderierte seinen Diskurs nach dem ersten Erfolg spürbar, verfiel jedoch in den Wochen vor der Wahl wieder in altbekannte Muster. Der Klimawandel sei nicht menschengemacht, sondern auf natürliche zyklische Temperaturschwankungen zurückzuführen. Vor allem die Wirtschaft reagierte fassungslos auf seine Empfehlung an die Argentinier, kein Festgeld in Landeswährung anzulegen, da diese nicht mehr wert sei als „Exkremente“. Ihm wurde vorgeworfen, dadurch den Wertverfall der Währung weiter angeheizt und einen möglichen Bankencrash gefördert zu haben. Zusätzlich begingen Vertraute aus seinem direkten Umfeld strategische Fehler. So empfahl der Wirtschaftswissenschaftler Alberto Benegas Lynch bei der Abschlussveranstaltung des Wahlkampfs im katholischen Argentinien den Abbruch jeglicher diplomatischen Beziehungen mit dem Vatikan unter Papst Franziskus und die Kandidatin für ein Abgeordnetenmandat Lilia Lemoine kündigte einen Gesetzesentwurf an, der es Männern ermöglichen soll, sich von den finanziellen Verpflichtungen als biologischer Vater bei einer vom Mann ungewollten Schwangerschaft der Sexualpartnerin lossagen zu können.
Milei, der sich noch vor wenigen Tagen als haushoher Sieger in der ersten Runde sah, wird seine Kommunikationsstrategie für die kommenden vier Wochen überdenken müssen. Es ist wahrscheinlich, dass einige seiner radikalen Äußerungen potentielle Wähler abgeschreckt haben. Während er im August in 16 der 24 Provinzen der meistgewählte Kandidat war, gelang ihm das nun nur noch in 10 Provinzen. Da er seinen Stimmenanteil von 29,86% auf 29,98% nur minimal steigern konnte, profitierte er kaum vom Rückgang der Unterstützung für Juntos por el Cambio. Bereits in seiner Wahlrede buhlte er um die Stimmen von Patricia Bullrich und betonte, dass die wichtigste Herausforderung des Landes der wirtschaftliche Wandel und das Ende des Kirchner-Peronismus sei. Er übernahm somit direkt die Rhetorik von Patricia Bullrich, deren anti-kirchneristische Rhetorik den roten Faden in ihrem Wahlkampf darstellte.
Juntos por el cambio im freien Fall von der Favoritenrolle in den Abgrund
Noch vor einem Jahr war man sich nach hervorragenden Wahlergebnissen bei den Parlamentswahlen 2021 des Sieges bei den Präsidentschaftswahlen sicher. Umso erschütternder mutet das Ergebnis der Wahlen an, bei der Patricia Bullrich abgeschlagen auf dem dritten Platz landete, lediglich in der Hauptstadt konnte sie sich den ersten Platz in der Wählergunst sichern. Den Vorwahlen im August war ein erbitterter Machtkampf zwischen ihr und dem Bürgermeister der Stadt Buenos Aires Horacio Rodríguez Larreta vorangegangen, der tiefe Gräben nicht nur zwischen den Parteien des Bündnisses, sondern auch innerhalb der dominierenden Propuesta Republicana (PRO) aufriss. Viel zu lange drehte sich Juntos por el Cambio um sich selbst und wurde dabei überraschend von Javier Milei rechts überholt.
Patricia Bullrich fiel es in den ersten Wochen nach den Vorwahlen sichtlich geschockt vom Wahlergebnis schwer, sich im neuen Panorama zu positionieren. Im internen Machtkampf hatte sie sich durch pointierte Positionen gegen den Peronismus hervorgetan, wohingegen Rodríguez Larreta auf die politische Mitte setzte, von den Wählern wurde nun jedoch Milei als Gegenentwurf zum Peronismus wahrgenommen. Viel zu spät, nämlich erst eine Woche vor den Wahlen, führte Bullrich an, Rodríguez Larreta im Falle eines Wahlsieges zum Kabinettschef zu machen, doch das Signal der Einheit kam zu spät. Patricia Bullrich gelang es nicht, die Wählerstimmen von Rodríguez Larreta aus dem August zu halten und die politische Mitte blieb verwaist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Bullrich zahlreiche Wähler an den gemäßigten Peronisten Juan Schiaretti verlor, der in absoluten Stimmen sein Wahlergebnis aus dem August verdoppeln konnte. Auch Expräsident und PRO-Gründungsvater Mauricio Macri spielte eine unrühmliche Rolle, indem er erst den Machtkampf zwischen seinen Parteifreunden anheizte, nach den Vorwahlen mit Milei kokettierte und Bullrich erst viel zu spät deutlich unterstützte.
Die Machtverteilung im Nationalkongress und in den Provinzen
Kein möglicher Präsident wird über eine eigene Mehrheit im Nationalkongress verfügen. In der Abgeordnetenkammer wird Unión por la Patria über 108, Juntos por el Cambio über 93 und La Libertad Avanza über 37 Sitze verfügen. Im Senat konnte sich Unión por la Patria 34 Sitze sichern, gegen Juntos por el Cambio mit 24 und La Libertad Avanza mit 8 Sitzen.
Neben dem Präsidenten und einem Teil der Abgeordneten und Senatoren standen auch der Regierungschef von der Stadt Buenos Aires, sowie die Gouverneure der Provinzen Buenos Aires und Entre Rios zur Wahl. Die einzige gute Nachricht für Juntos por el Cambio war der Wahlsieg von Jorge Macri in der Stadt Buenos Aires, der jedoch mit 49,61% der Stimmen den Sieg im ersten Wahlgang knapp verpasste und in eine Stichwahl muss. In der Provinz Buenos Aires siegte der peronistische Amtsinhaber Axel Kicilof mit 44,88% der Stimmen trotz Korruptionsskandalen in seiner Partei überraschend deutlich gegen Néstor Grindetti von Juntos por el Cambio mit 26,62% und Carolina Píparo von La Libertad Avanza mit 24,59%. In Entre Ríos setzte sich Rogelio Frigerio von Juntos por el Cambio durch und beendete die 20-jährige Regierungszeit der Peronisten in der Provinz. Juntos por el Cambio wird bei einem wahrscheinlichen Sieg Macris in Buenos Aires über 10 Gouverneure verfügen und auch auf der Provinzebene einen realen Machtfaktor darstellen.
Was bringt die Zukunft?
Die einzige Gewissheit, die man aus den bisherigen Wahlen ableiten kann, ist die, dass in Argentinien politisch alles möglich ist. Vor zwei Monaten schien ein Wahlsieg des amtierenden Wirtschaftsministers Sergio Massa undenkbar. Dass er nun siegreich aus den Wahlen hervorgegangen ist, nachdem er in der Suche des eigenen Erfolgs mit dem Geldregen für die Wähler die ohnehin bereits stark wankende noch verbleibende Stabilität des Landes aufs Spiel gesetzt hat, ist in Verantwortungslosigkeit wohl kaum zu übertreffen. Die Toleranz der Wählerschaft gegenüber der wirtschaftspolitischen Unfähigkeit und der institutionalisierten Korruption des Kirchner-Peronismus ist rational schwer erklärbar. Massa ist es gelungen, die in Milei personalisierte Wut der Wähler in Existenzangst zu verkehren und für sich zu nutzen.
Der Wahlerfolg birgt jedoch durchaus auch eine Gefahr für Sergio Massa. Siegestrunken sollte er nicht vergessen, dass eine Mehrheit der Wähler gegen den Peronismus gestimmt hat und knapp 37% bei einem einzigen Kandidaten für die Regierungsallianz mitnichten ein gutes Wahlergebnis bedeuten. Massa hat bei den Wahlen 2015 den Peronismus gespalten und damit den Wahlsieg von Mauricio Macri erst möglich gemacht. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen, nur mit anderen Vorzeichen. Javier Milei hat die Opposition gespalten; die Stimmen zusammenzählend hätten Milei und Bullrich allerdings in der ersten Runde gegen Massa gewonnen. So wie es von den Medien verfrüht war, Milei direkt nach den Vorwahlen zum Sieger auszurufen, hat auch Sergio Massa sein Ziel noch längst nicht erreicht.
Es ist wahrscheinlich, dass Milei im Diskurs auf die Dichotomie Wandel versus Kontinuität setzen wird, während Massa sich voraussichtlich als Hüter der Demokratie gegen die faschistische Gefahr von rechts zu inszenieren sucht. Ausschlaggebend für die Wahl, aber auch für die spätere Regierbarkeit des Landes wird die Haltung der Führungsfiguren von Juntos por el Cambio sein, da der neue Präsident sowohl auf die Kooperation im Kongress als auch auf die Unterstützung durch die Gouverneure der Provinzen angewiesen sein wird.
Somit wird unabhängig vom Wahlausgang am 19. November ein Präsident mit relativ schwachem Rückhalt auf ein verwirrtes Land mit enormen wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Herausforderungen treffen.
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