Ergebnisse der Parlamentswahl
Parlamentswahlen finden in Argentinien alle zwei Jahre statt. Die Hälfte des Abgeordnetenhauses und ein Drittel des Senats werden erneuert. Die Wahlbeteiligung war diesmal trotz Wahlpflicht die niedrigste seit 1983. Von den 34 Millionen Wahlberechtigten nahmen 72 Prozent teil. Somit machten 28 Prozent der Argentinier keinen Gebrauch ihrer Stimmpflicht, was als Desinteresse an der Politik, aber auch als Ablehnung gegenüber dem gesamten politischen System gedeutet werden kann.
Auf nationaler Ebene konnte sich die Regierungsallianz FdT im Vergleich zu den Vorwahlen von 31 auf 33 Prozentpunkte verbessern, die Oppositionsallianz JxC gewann zwei Prozentpunkte hinzu und landete bei fast 42 Prozent. Dabei bewies letztere außerdem, dass sie den Peronismus auch in den Provinzen bezwingen kann. Das Oppositionsbündnis JxC wurde aber nicht nur in den Provinzen des Industriegürtels im Zentrum des Landes stärkste Kraft, sondern darüber hinaus auch im Süden. Insgesamt gewann die Allianz sogar in 13 der 24 Provinzen[1]. Im Gegensatz zu den Vorwahlen musste das Oppositionsbündnis jedoch die Provinzen Chaco und Tierra del Fuego an die Regierungsallianz FdT abgeben. FdT konnte in insgesamt neun Provinzen den Spitzenplatz belegen[2]. Die Regierungsallianz hat so ihre Bastion im Nordwesten des Landes, mit Ausnahme der Provinz Jujuy, verteidigt. In den Provinzen Salta, San Juan und Chaco war der Vorsprung von FdT jedoch knapp. Besonders umkämpft war die bevölkerungsreichste Provinz Buenos Aires, welche auch als die Herzkammer des Peronismus gilt. Die Oppositionsallianz JxC machte zwar wie bei den Vorwahlen das Rennen, der Abstand zum Regierungsbündnis FdT verringerte sich jedoch auf einen Prozentpunkt. In den Regionen Neuquén und Río Negro gewannen allerdings wie schon in den Vorwahlen regionale Allianzen.
Randparteien auf Erfolgskurs
Eine nicht außer Acht zu lassende Entwicklung ist der Erfolg von Randparteien. Die trotzkistische Frente de Izquiera y de los Trabajadores (FIT) wurde landesweit drittstärkste Kraft mit rund sechs Prozent auf nationaler Ebene. Die erst vor zehn Jahren formierte Partei gewann vier Sitze im Abgeordnetenhaus. In der Stadt Buenos Aires schaffte es Javier Milei, Kandidat der libertären Anti-System Partei Libertad Avanza, mit 17 Prozent der Wählerstimmen auf den dritten Platz. Seine Partei wird fortan voraussichtlich mit drei Sitzen im Abgeordnetenhaus vertreten sein.
Er gilt bisher als Stadtphänomen, nach Bekanntgabe der Ergebnisse kündigte Milei jedoch an, dass seine Partei „ab morgen durch alle Ecken Argentiniens reisen [werde], damit im Jahr 2023 in jeder Ecke des Landes libertär gewählt werden kann"[3]. In der Provinz Buenos Aires erreichte die als rechts-liberal geltende Partei Avanza Libertad von José Luis Espert mit 7,5 Prozent der Stimmen den dritten Platz.
Analyse der Ergebnisse: Konsens statt Konfrontation ist die neue Maxime
Obwohl die Oppositionsallianz JxC einen klaren Sieg bei den Parlamentswahlen erringen konnte, wird sie weder im Abgeordnetenhaus noch im Senat über die relative Mehrheit verfügen.
Im Senat konnte JxC fünf Sitze hinzugewinnen. Damit gehören nun insgesamt 31 der 72 Senatoren der größten Oppositionsallianz an. Die Regierungsallianz FdT liegt trotz des Verlustes von sechs Sitzen im Senat mit 35 Senatoren zahlenmäßig vor JxC. Damit hält FdT weiterhin die relative Mehrheit, verliert aber die absolute Mehrheit. Diese ist jedoch erforderlich, um beschlussfähig zu sein. Daher ist dieses Ergebnis für die kirchneristische Vize-Präsidentin Cristina Fernández, die aufgrund ihres Amtes als Vize-Präsidentin automatisch die Vorsitzende des Senats ist, besonders schmerzlich. Die Aussichten der Verabschiedung einer Justizreform, welche der Vize-Präsidentin Straffreiheit nach Ausscheiden aus der Regierung erleichtern würde, sind nun sehr gering.
Im Abgeordnetenhaus wird FdT ab dem 10. Dezember 2021 auf 118 Abgeordnete (vorher: 120) kommen, die größte Oppositionsallianz JxC erreicht 116 (vorher 115). Die Regierungsallianz wird folglich auch weiterhin die größte Fraktion im Abgeordnetenhaus bleiben. Damit bleibt die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses nach der Wahl fast unverändert.
Fazit und Ausblick: Der Kirchnerismus verliert seine magnetische Anziehung
Die Mehrheit der Meinungsforscher in Argentinien sind sich darüber einig, dass das Resultat der Parlamentswahl keine Überraschung darstellt. Die Abweichung zum Ergebnis der Vorwahlen im September war minimal. Das Oppositionsbündnis JxC hatte ein besseres Abschneiden erhofft, die Regierungsallianz FdT eine gravierendere Niederlage befürchtet. Beide Szenarien sind nicht eingetreten.
Führende Analysten beobachten aber eine politische Entwicklung, die diese Parlamentswahl von früheren Wahlen in den letzten zwei Dekaden hervorhebt: Es sind erste Ansätze einer langsamen aber stetigen Schwächung des Kirchnerismus als prägende Bewegung innerhalb des Peronismus zu erkennen. In der bevölkerungsreichen und als besonders von Armut betroffenen Region Conurbano Bonarense (ein Wohngebiet um die Hauptstadt Buenos Aires, in dem fast zwölf Millionen Menschen leben) hat der Kirchnerismus zwar die Parlamentswahl gewonnen, jedoch deutlich an Wählerstimmen verloren. Der Conurbano Bonarense gilt als Bollwerk des harten Kirchnerismus. Sollte sich dieser Trend in den nächsten Monaten und Jahren verschärfen, droht dem Kirchnerismus ein massiver Bedeutungsverlust. Dieses Machtvakuum innerhalb des Peronismus könnte von einer anderen (noch nicht klar definierbaren) Strömung innerhalb des Peronismus gefüllt werden.
An den Startlöchern positionieren sich schon jetzt Vertreter des sogenannten „föderalen Peronismus“, die sich für mehr Dezentralisierung (bessere föderale Strukturen) einsetzen, sich vom linkspopulistischen Kirchnerismus distanzieren und innerhalb des politischen Spektrums die Mitte repräsentieren. Der bekannte politische Analyst Carlos Germano beschreibt bei einem Gespräch mit der KAS diese Entwicklung wie folgt: „Das Ende des Kirchnerismus ist eingeläutet. Der bisher unterwürfige Gehorsam von weiten Teilen des Peronismus gegenüber der Direktiven des Kirchnerismus ist gebrochen. Innerhalb des Peronismus entwickelt sich eine massive Strömung eines Anti-Kirchnerismus“. Somit steht als größter Verlierer der Parlamentswahl der linkspopulistische Kirchnerismus fest.
Gewinner der Parlamentswahl ist die älteste Partei Argentiniens, die 1889 gegründete Unión Cívica Radical (UCR), die bisher als Juniorpartner der Propuesta Republicana (PRO) am Wahlbündnis JxC beteiligt ist. Die meisten Erfolge von JxC in den Provinzen des Landes sind auf die guten Ergebnisse der UCR zurückzuführen. Die UCR hat sich in den letzten zwei Jahren politisch erneuert. Die Führungsrolle von PRO innerhalb des Wahlbündnisses wird von der UCR immer deutlicher infrage gestellt. Diese Entwicklung wird dadurch verschärft, dass sich die Debatte über die innerparteiische Ausrichtung in der PRO in den letzten Wochen weiter zugespitzt hat. Die Partei scheint zwischen dem gemäßigten Flügel um den regierenden Bürgermeister der Stadt Buenos Aires, Horacio Rodríguez Larreta, und der rechtsliberalen Fraktion um die Parteivorsitzende Patricia Bullrich polarisiert zu sein.
Die Parteien an beiden Rändern des politischen Spektrums gehen gestärkt aus der Parlamentswahl 2021 hervor. Diese Entwicklung lässt sich deutlich am schnellen Aufstieg des libertären Anti-Establishment-Kandidaten Javier Milei in der Stadt Buenos Aires, dem sehr guten Ergebnis der rechtsliberalen Avanza Libertad von José Luis Espert in der Provinz Buenos Aires und den erstaunlich guten Resultaten der trotzkistischen FIT erkennen. Dies ist insofern erwähnenswert, weil politische Randpositionen in Argentinien bisher unüblich waren.
Feststeht, dass die politische Landschaft in Argentinien vielfältiger geworden ist. Der Kirchnerismus scheint seinen Alleinstellungsanspruch innerhalb des Peronismus verloren zu haben, andere peronistische Bewegungen, die die Mitte des politischen Spektrums beanspruchen, positionieren sich als Alternative. Die Opposition von JxC hat zwar die Mehrheit im Abgeordnetenhaus knapp verfehlt, die absolute Mehrheit des kirchneristischen FdT im Senat ist aber gebrochen. Rechts- und linksextreme Parteien finden Einzug im Parlament.
Für die Regierung von Alberto Fernández scheint es nur noch einen Weg zu geben, um das Land in den kommenden zwei Jahren seiner Amtszeit zu regieren: die Suche nach Konsens mit der Opposition. Die Exekutive wird in Zukunft alle Gesetzesvorhaben mit der Opposition abstimmen müssen. Dies wird kein einfaches Unterfangen. Schon bei den anstehenden Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds zur Refinanzierung der argentinischen Auslandsschulden sind die Positionen der Regierungsallianz und des Oppositionsbündnisses weit voneinander entfernt. Aber auch bei zukunftsentscheidenden Themen wie der längst fälligen Arbeits- und Justizreform weichen die Positionen weit voneinander ab. Alberto Fernández hat unmittelbar nach der Wahl zum Dialog mit der Opposition aufgerufen. Dieser Appell erinnert an seine Amtsantrittsrede im Dezember 2019. Damals forderte er alle Argentinier auf, gemeinsam für den Wiederaufbau des Landes an einem Strang zu ziehen. Der Ruf nach Konsens blieb ohne Folgen. Alberto Fernández übernahm sehr rasch linkspopulistische kirchneristische Positionen und vereitelte jegliche Kooperationsbestrebung mit der Opposition. Jetzt muss er zeigen, dass dieser erneute Aufruf zur Zusammenarbeit ernst gemeint ist. Die meisten Argentinier bleiben jedoch skeptisch.
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Quellen
[1] Autonome Stadt Buenos Aires, Provinz Buenos Aires, Chubut, Córdoba, Corrientes, Entre Ríos, Jujuy, La Pampa, Mendoza, Misiones, Santa Cruz, San Luis, Santa Fe
[2] Chaco, Catamarca, Formosa, La Rioja, Salta, Santiago del Estero, San Juan, Tucumán
[3] https://www.lanacion.com.ar/politica/con-javier-milei-en-modo-rockstar-preparan-una-fiesta-liberal-en-el-luna-park-nid14112021/
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