Frühe Lorbeeren für den Hoffnungsträger
Seitdem Premierminister Abiy im Amt ist, arbeitet er mit großer Energie an seinen Plänen, das Land zu reformieren - nicht nur innenpolitisch, sondern auch mit Blick auf die Außenbeziehungen. Mit dem Nachbarland Eritrea gelang bereits im Sommer 2018, nur wenige Monate nach seinem Amtsantritt, die Unterzeichnung eines Friedensabkommens, das nach Jahrzehnten der Feindschaft das Verhältnis beider Länder normalisieren sollte – angefangen mit der Öffnung der Grenzen. Außenpolitisch tritt Abiy zudem als Friedensvermittler in der Region auf, zum Beispiel in der maritimen Streitigkeit zwischen Kenia und Somalia sowie im Engagement für einen friedlichen Machtübergang im Sudan. Im Dezember 2019 wurde Abiy - insbesondere wegen des Friedenschlusses mit Eritrea - der Friedensnobelpreis verliehen. Viele fragten sich, ob die Verleihung nicht zu früh erfolgte. Denn die Grenze zu Eritrea wurde zwischenzeitlich wieder geschlossen, und der Übergang Äthiopiens zur Demokratie befindet sich auf einem schmalen Grat zwischen Erfolg und Scheitern. Die immer wieder aufflammenden ethnischen Spannungen mit einer Vielzahl von Todesopfern drohen den Fortschritt des Landes zu gefährden. Einen Vielvölkerstaat wie Äthiopien mit über 80 verschiedenen ethnischen Gruppen zu demokratisieren und gleichzeitig friedlich zu einen, ist eine Mammutaufgabe. Über 30 Jahre herrschte in Äthiopien ein sozialistisches, repressives Regime – von manchen als „Entwicklungsdiktatur“ betitelt. Von echter Demokratie war Äthiopien bis zum politischen Umbruch 2018 weit entfernt. Bis dato wurden Opposition, Presse und Zivilgesellschaft stark unterdrückt. Oppositionelle Kandidaten und ihre Anhänger wurden eingeschüchtert, politischen Gegnern wurden Stimmzettel gezielt verweigert und Wahlbetrug war an der Tagesordnung. Abiy hat sich auf die Fahnen geschrieben, dies zu ändern. Doch sein Reformkurs scheint ins Stocken geraten zu sein und vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen nehmen die skeptischen Stimmen zu – und damit wächst auch die Angst vor den Folgen eines Scheiterns der Reformagenda.
Der politische Umbruch
Äthiopien erlebt unter Abiy einen politischen Umbruch mit dem Potential, die Weichen für eine nachhaltige demokratische Entwicklung zu stellen. Der Umbruch war das Ergebnis der anhaltenden Proteste gegen die Vorgängerregierung, die 2015 begannen und 2018 ihren Höhepunkt fanden. Die Menschen gingen vor allem wegen der ungleichen Machtverhältnisse auf die Straße. Die Wut richtete sich insbesondere gegen die Tigray People‘s Liberation Front (TPLF), welche ethnisch zwar nur einen kleinen Teil des äthiopischen Volkes repräsentiert, aber in der Regierungskoalition der Ethiopian People‘s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) dominierte. Mehr und mehr begehrten viele Äthiopier gegen die Unterdrückung von ethnischen Minderheiten und politischen Opponenten auf und waren dazu bereit, für das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit zu kämpfen. Hinzu kam eine wachsende wirtschaftliche Unzufriedenheit vor dem Hintergrund, dass von dem Wirtschaftsboom Äthiopiens nur wenige profitierten. Bei diesen Protesten wurden Hunderte von Menschen getötet. Der ehemalige Ministerpräsident Hailemariam Desalegn trat schließlich im Februar 2018 zurück und Wissenschaftsminister Dr. Abiy Ahmed Ali wurde wenig später zu seinem Nachfolger gewählt. In der Folge wurden viele Repräsentanten des alten Regimes ausgetauscht, und neue Präsidentin wurde mit der erfahrenen Diplomatin Sahle-Work Zewde zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine Frau.
Ambitionierter Reformkurs
Nachdem Premierminister Abiy im Frühjahr 2018 an die Macht kam, leitete er tiefgreifende Veränderungen in die Wege. Besonders in seinem Demokratisierungs- und Reformkurs überraschte er mit seinem Mut zu schnellen Reformen, die teilweise bereits umgesetzt wurden und vor allem die folgenden Neuerungen beinhalteten:
- Die Öffnung des Mehrparteiensystems
- Das Bekenntnis zur Meinungs- und Pressefreiheit
- Aufhebung der strengen Blockaden der Presse und des Internets
- Überarbeitung der Mediengesetzgebung
- Lockerung der strengen Regelungen für NGOs
- Die Freilassung politischer Gefangener und Einladung an Exilanten, nach Äthiopien zurückzukehren
- Eine Liberalisierung und Industrialisierung des Landes
- Marktwirtschaftliche Öffnung (anstatt der zuvor streng staatlich regulierten Wirtschaft)
- Privatisierung von Staatsbetrieben
- Die Gleichstellung der Geschlechter
- Besetzung wichtiger Positionen mit Frauen
- Wichtige Wechsel auf Führungsebene
- Eine umfassende Reform des Justizsystems
- Das Friedensabkommen mit Eritrea.
“Die Zentrifugalkraft der Liberalisierung”
Die Reformambitionen des Premierministers sind zweifellos vielversprechend und fanden von Beginn an großen internationalen Zuspruch. Doch sind sie auch mit erheblichen Risiken verbunden und mit zahlreichen Hindernissen konfrontiert. Die womöglich größte Herausforderung ist es, trotz der Liberalisierung den Zusammenhalt des Volkes zu sichern und eine Zersplitterung des Landes zu vermeiden. Denn es bestehen weiterhin starke ethnische Spannungen und Konflikte innerhalb der Bevölkerung. Bis dato wurden diese im Keim erstickt, indem Regierungsgegner verhaftet und isoliert wurden. Dieneu gewonnene politische Freiheit bringt allerdings das Risiko mit sich, dass ethnische Gruppen regionalen Autonomiebestrebungen nachgehen und dem ambitionierten Premier die politische Kontrolle entgleitet. Viele der ethnischen Gruppen fühlen sich weder gleichberechtigt noch angemessen repräsentiert. Obwohl die Volksgruppe der Oromo mit 34 Prozent die größte im Land ist, dominieren die Amharen (27%) und die Tigray (6%) das politische Leben. Zwar ist mit Abiy erstmals ein Oromo (tatsächlich ist sein Vater Oromo, seine Mutter aber Amhare) an die Macht gelangt, aber er versteht sich nach eigener Auskunft - wohl auch vor dem Hintergrund seiner gemischten Abstammung - als Äthiopier und nicht als Vertreter einer bestimmten Ethnie. So sehr ihn dieses Selbstverständnis auszeichnet, so schwer scheint es für ihn, die Oromo, deren Wut aus einer über hundert Jahre andauernden politischen Unterdrückung resultiert, in eine Politik der nationalen Einheit ohne ethnische Bevormundung oder Bevorzugung einzubinden. Der Wunsch insbesondere dieser Volksgruppe nach mehr Autonomie und politischem Einfluss nimmt an Fahrt auf und scheint sich im Zuge der neu gewonnen Freiheiten auch auf bedrohlichen Wegen Bahn zu brechen. So sollen alleine in den ersten anderthalb Jahren nach Amtsantritt des neuen Premiers mehr Menschen Opfer politisch motivierter Gewalt geworden sein als zur Zeit der Unruhen davor. Abiys Idee, das ethnisch gespaltene Land einerseits politisch zu liberalisieren und zu demokratisieren, und andererseits als Nation zu einen, ist ein Ritt auf der Rasierklinge. Sollte ihm dieser Schritt gewaltfrei gelingen, könnte er als Wegbereiter eines neuen Äthiopiens in die Geschichte eingehen. Scheitert er dagegen, könnten der Zerfall des Staates und die damit einhergehende Gewalt kaum noch aufzuhalten sein. Die politische Kunst des Premiers wird darin bestehen müssen, die ethnischen Zentrifugalkräfte der Liberalisierung in die Richtung eines gemeinschaftlichen Zugehörigkeitsgefühls zu lenken. Es wachsen Zweifel, ob dies wirklich gelingen kann.
Herausforderungen und Gefahren der aktuellen Entwicklungen
Dies sind allerdings nicht die einzigen Herausforderungen, denen die Regierung gegenüber steht. Die schwachen institutionellen Kapazitäten erschweren die Umsetzung der Reformvorhaben. Problematisch ist auch, dass in vielen Positionen des Regierungsapparates weiterhin Personen tätig sind, die dem alten repressiven Regime entstammen. Ihre Loyalität gegenüber dem neuen Kurs erscheint zweifelhaft.
Die Industrialisierung des Landes und die Verbesserung der Infrastruktur stehen auf Abiys Reformagenda weit oben. Dafür hat das Land bereits in der Vergangenheit enorme Schulden angehäuft: Die Staatsschulden belaufen sich auf 52,57 Mrd. USD (wovon 26,05 Mrd. USD externe Staatsschulden sind).[1] Dies sind rund 66 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (der Durchschnitt Subsahara-Afrikas liegt bei rund 57 % des BIP[2]). Vor allem gegenüber China ist Äthiopien hoch verschuldet. Daraus haben sich Abhängigkeiten entwickelt, die den Reformkurs belasten könnten. Nicht zuletzt auch deswegen sucht die neue Regierung eine stärkere Anbindung an Europa, die USA und die arabischen Staaten. Es ist klar, dass Äthiopien sich keine größere Verschuldung mehr leisten kann. Stattdessen muss sich Abiy auf das Anwerben ausländischer Investoren konzentrieren. Grundsätzlich verfügt Äthiopien über das Potential eines attraktiven Wachstumsmarktes und vor allem der sich rasant entwickelnde Industriesektor bietet viele Möglichkeiten. Doch es bleibt fraglich, ob die ökonomische Transformation mit dem hohen Bevölkerungswachstum mithalten kann und ob sich für die Mehrheit der Bevölkerung nachhaltige wirtschaftliche Perspektiven ergeben. Die ökonomische und politische Transformation sind dabei in gegenseitiger Abhängigkeit mit einander verknüpft. Für die erforderlichen Investitionen bedarf es politischer Stabilität und verlässlicher rechtsstaatlicher Strukturen. Gleichzeitig lässt sich die Akzeptanz des politischen Reformkurses wohl nur bei einer positiven Wahrnehmung der wirtschaftlichen Lage gewährleisten.[3]
Obwohl bereits einige Erfolge und Fortschritte klar erkennbar sind, ist die Gemütslage der Äthiopier nur bedingt optimistisch. Aufgrund ihrer historisch schlechten Erfahrungen mit der politischen Führung nimmt die Ungeduld im Volke zu. Die kleinen Erfolge scheinen im eigenen Land nicht immer wahrgenommen und geschätzt zu werden. Viele beklagen schon jetzt, nach nur zwei Jahren, die Langsamkeit der Reformen und das Fehlen von Jobs und beruflicher Perspektiven. Der Druck auf Abiy, seine visionären Ankündigungen in greifbare Erfolge umzusetzen, wird damit immer größer. Dass in diesen Zeiten die Corona-Pandemie das öffentliche Leben quasi zum Stillstand bringt, dürfte sich als weiteres Hindernis für den Premier erweisen.
Die geplanten Wahlen 2020 und die Corona-Pandemie
Die ersten wirklich demokratischen Wahlen in Äthiopien stehen bisher unter keinem guten Stern. Die Parlamentswahlen sollten ursprünglich im Mai 2020 stattfinden. Anfang des Jahres wurden sie auf den 29. August 2020 verschoben. Grund dafür war die zu kurze Vorbereitungszeit für die Nationale Wahlkommission im Hinblick auf die notwendige Wählerregistrierung und Bestrebungen der Politik, sich im Zuge der Liberalisierung in Form neuer politischen Parteien sowie möglicher Koalitionsbündnisse neu zu sortieren. Denn während bis heute die EPRDF über alle 547 Sitze im Parlament verfügt, haben nun auch andere Parteien und Parteienbündnisse die Möglichkeit, durch demokratische Wahlen in Äthiopien an die Macht zu kommen oder politisch zu partizipieren. Die Durchführung allgemeiner, gleicher und freier Wahlen ist für die demokratische Legitimierung des Premiers außerordentlich wichtig. Nur dann kann es ihm gelingen, seinen Reformkurs erfolgreich fortsetzen. Um dem Nachdruck zu verleihen, hat er auch intensiv daran mitgewirkt, sich aus alten Parteienbündnissen wie der EPRDF zu befreien und eine neue Partei zu gründen. Die Ethiopian Prosperity Party (EPP) soll zukünftig für die politischen Ziele des Premiers stehen und verfolgt vor allem eine wirtschaftlich liberale Programmatik. Die früher die EPRDF beherrschende Tigray People's Liberation Front (TPLF) hat sich jedoch dafür entschieden, sich der neuen Partei nicht anzuschließen. Insgesamt beklagt die politische Opposition im Lande, die insbesondere in den Ethnien der Oromo und Tigray vorhanden ist, nicht in die Politik eingebunden zu werden. Sie fühlen sich aus der von Premierminister Abiy versprochenen Transformation Äthiopiens zu einer echten Demokratie zunehmend ausgeschlossen.
Die nun im Lichte der Corona-Pandemie verordnete längere Zwangspause im politischen Wettbewerb lässt die Frustration weiter anwachsen. Der Kurs der demokratischen Erneuerung durch Wahlen ist fürs Erste unterbrochen. Nachdem am 12. März der erste Covid-19 Fall registriert worden war, wurde die nun für August geplante Parlamentswahl erneut verschoben - diesmal auf unbestimmte Zeit[4].
Mittlerweile zählt Äthiopien über 14.500 Infizierte und über 200 Todesfälle (Stand: 28.07.2020). Man geht aber von einer deutlich größeren Dunkelziffer aus, da es im Land nur geringe Testkapazitäten gibt. Und auch wenn die Zahl der Infektionen im Vergleich zu anderen Staaten wie Südafrika (über 450.000 Fälle, Stand: 28.07.2020) recht gering erscheint, muss leider festgestellt werden, dass die Behandlungskapazitäten (laut Regierung ca. 1.500 Intensivbetten und ca. 400 künstliche Beatmungsmöglichkeiten) zumindest für ernsthaft erkrankte Personen sehr gering sind und mittlerweile an ihre Grenzen geraten. Besonders in Addis Abeba ist die Lage kritisch. Hinzu kommt, dass im Zuge der Abwanderung von Fachkräften („Brain Drain“) viele gut ausgebildete äthiopische Ärzte der Verdienstmöglichkeiten wegen im Ausland arbeiten. Qualifiziertes Personal zur Behandlung von Covid-19 steht nur in geringem Umfang zur Verfügung.
Bereits am 8. April 2020 rief Abiy für zunächst fünf Monate den nationalen Notstand aus, der mit etlichen Restriktionen verbunden ist. So wurden unter anderem die Landgrenzen geschlossen, Zusammenkünfte von mehr als vier Personen untersagt, Schulen und Bildungseinrichtungen geschlossen, Reisebegrenzungen im Land sowie strenge Quarantänebestimmungen verhängt und eine Verpflichtung zum Tragen von Masken im öffentlichen Raum eingeführt.
Politisch wiegt die erneute Verschiebung der Wahlen für die Regierung schwer – handelt es sich dabei doch bereits um die zweite weite Verschiebung innerhalb eines halben Jahres. Hinzu kommt, dass die Wahlperiode des Parlaments und damit auch die Amtszeit der Regierung im Sommer 2020 unter normalen Umständen verfassungsrechtlich endet. Dabei sind gerade die kommenden Wahlen für Äthiopien und seine Zukunft so entscheidend, denn mit diesen Wahlen werden die Weichen für die weitere Entwicklung des Landes gestellt; sie sind als „demokratische Premiere“ anzusehen. Ob das Land den ambitionierten Reformplänen Abiys weiter nachgehen wird und ob es sich weiter in Richtung Liberalisierung und Demokratie entwickelt, hängt maßgeblich von diesen Wahlen ab. Sie dienen dazu, dem Premier und seinen Reformvorhaben demokratische Legitimation zu verleihen und gelten daher als Bewährungsprobe.
Mord an Künstler löst Unruhen aus
Am 29. Juni 2020 wurde der Sänger und Aktivist Hachalu Hundessa in Addis Abeba niedergeschossen und erlag wenig später seinen Verletzungen. Hachalu gehörte zur Volksgruppe der Oromo und wurde in seiner Heimat als Stimme des Protestes gefeiert. Seine Lieder sind eng mit den Protesten zwischen 2015 und 2018 verbunden, die zum Rücktritt von Abiys Vorgänger führten. In der Folge seiner Ermordung kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften in der Hauptstadt Addis Abeba und im Bundesstaat Oromia. Sie wurden begleitet von Straßensperren, mehreren Explosionen in Addis Abeba, brennenden Autos, eingeschlagenen Scheiben und Plünderungen. Über zwei Wochen wurden im Großraum Addis Abeba die Internetverbindungen abgeschaltet und auch Telefonate blockiert. Zahlreiche Menschen kamen bei den Ausschreitungen ums Leben: nach Angaben der Polizei gab es mindestens 239 Tote. Die Regierung reagierte mit harter Hand und ließ Oppositionelle festnehmen, darunter auch der sehr bekannte Oromo-Nationalist Jawar Mohammed. Die Anklage gegen ihn lautet auf Beteiligung an der Ermordung eines Polizisten während der Unruhen. Seine Anhänger bestreiten dies und beschuldigen Abiy, mit der Verhaftung Jawars einen politischen Kontrahenten aus dem Weg räumen zu wollen. Auch der von Jawar gegründete Fernsehsender „Oromia Media Network“ (OMN) wurde geschlossen. Unterdessen konnten zwei Tatverdächtige gefasst werden, die schließlich gestanden, an Hachalus Ermordung beteiligt gewesen zu sein. Nach Angaben der äthiopischen Generalstaatsanwaltschaft war die Tat Teil einer Verschwörung zum Sturz der Regierung. Weitere Hintergründe bleiben bisher unklar.
Diese jüngsten Ereignisse zeigen, wie fragil die Lage im Land ist und wie groß die Gefahr der Eskalation politischer und ethnischer Spannungen. Auffallend ist zudem, dass sich Premier Abiy im Angesicht der Unruhen offenbar der gleichen Instrumente bediente wie seine politischen Vorgänger: Abschaltung sämtlicher Kommunikationsmöglichkeiten sowie Verhaftung Oppositioneller. Beobachter verurteilten die Reaktionen der Regierung auf die Proteste und Unruhen als exzessiv und kontraproduktiv. Sie stehen im krassen Widerspruch zum gerne gepflegten Image Abiys als liberalem Reformer. Es mehren sich nun Befürchtungen, dass es erneut zu einer größeren Protestbewegung der Oromo kommen könnte. Die Entwicklungen belasten das ohnehin angespannte Verhältnis der Oromo zur Regierung und stärken das Mistrauen gegenüber Abyi. Kritiker aus seiner eigenen Volksgruppe werfen dem Premier ohnehin seit langem vor, sich nicht genug für die Belange seiner Heimatregion einzusetzen.
Ausblick
Angesichts der auslaufenden demokratischen Legitimierung des äthiopischen Parlaments und der Regierung Abiys sowie der auf unbestimmte Zeit verschobenen Wahlen ist damit zu rechnen, dass die politische Instabilität im Lande andauert. Die bestehenden ethnischen Konflikte konnten bisher auch durch die neue Regierung nicht gelöst werden. Hätten im August Wahlen stattgefunden, wäre Abiy im Ergebnis vom Parlament als Premierminister wohl bestätigt worden. Ob dies auch der Fall sein wird, wenn die Wahlen erst 2021 oder schlimmstenfalls 2022 stattfinden, ist zunehmend fraglich.
Die Zukunft Äthiopiens bleibt also ungewiss. Das Land am Horn von Afrika verfügt über ein enormes Potential, das aber ohne weitere Reformen nicht abgerufen werden kann. Gerade jetzt wären positive und vor allem für die Bevölkerung sichtbare Entwicklungen notwendig - Entwicklungen, von denen alle ethnischen Gruppen profitieren. Auf politischer Ebene stellt sich zudem die Frage, wie die jetzige und künftige Regierung dem Wunsch der Regionen nach mehr Autonomie nachgehen kann, um einerseits den nationalen Frieden zu wahren, andererseits aber die nationale Einheit nicht zu gefährden. In Betracht kommt eine Neudefinierung des ethnischen Föderalismus, bei der Deutschland mit seiner föderalistischen Expertise unterstützend und beratend zur Seite stehen könnte.
Auf wirtschaftlicher Ebene geht es für das Land darum, den seit Jahren anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung mit Wachstumsraten zwischen jährlich neun und zehn Prozent nachhaltig zu sichern und auszubauen. Dabei sollte vor allem zuerst der individuelle Bürger und dessen Bildung und gesellschaftliche Stellung im Vordergrund stehen. Die Themen Gleichstellung der Geschlechter, ethnische Inklusion sowie Umfang und Qualität der Bildung werden Äthiopiens Zukunft maßgeblich bestimmen. Zugleich muss die Arbeitslosigkeit parallel zum Problem einer rasant wachsenden jungen Bevölkerung ab- und Beschäftigung sowie Infrastruktur ausgebaut werden. Dafür sind weitere finanzielle Mittel und Programme sowie die Anwerbung von Investoren notwendig. Eine Aufnahme weiterer Kredite, vor allem von China, erscheint jedoch gefährlich und sollte unterlassen werden, um eine noch größere Verschuldung und Abhängigkeit des Landes zu vermeiden. Erschwerend kommt hinzu, dass durch die Corona-Pandemie die gesamte Weltwirtschaft – und insbesondere die der afrikanischen Länder - über Jahre zurückgeworfen werden wird.
Es gibt zwei alternative Szenarien für die Zukunft des Landes. Einerseits ein optimistisches Zukunftsszenario, in dem ein inklusiver Politikwechsel stattfindet, auf dem weiteres Wirtschaftswachstum, innerer und äußerer Frieden und die Verbesserung der Lebensbedingungen folgen. Andererseits gibt es auch ein pessimistisches Zukunftsszenario, in welchem das Land ein abruptes Ende politischer Stabilität und den Zerfall staatlicher Ordnung mit der Folge erleben könnte, dass erneut diktatorische Kräfte die Macht ergreifen. Zurzeit lässt sich nicht sagen, welches Szenario das wahrscheinlichere ist. Umso mehr muss den demokratischen Staaten dieser Welt daran gelegen sein, den von Abiy Ahmed eingeschlagenen Weg der Demokratisierung politisch zu unterstützen und dem Land wirtschaftlich zu helfen. Dabei geht es auch darum, alle demokratischen Kräfte im Land zu stärken. Abiy Ahmed als viel gelobter Hoffnungsträger wird seine Reformagenda nicht im Alleingang verwirklichen können. Er muss die verschiedenen Kräfte im Vielvölkerstaat Äthiopiens an einen Tisch bekommen und einen echten nationalen Dialog in die Wege leiten. Nur dann kann die Herausbildung eines nationalen Zugehörigkeitsgefühls gelingen, welches die Grundlage für Stabilität bildet.
[1] Nora Kiefer, Sabine Odhiambo in „Äthiopien am Scheideweg“, Berlin, 27.Dezember2019; http://www.deutsche-afrika-stiftung.de/files/afrikapost_aktuell_aethiopien_am_scheideweg.pdf (12.05.2020)
https://www.indexmundi.com/g/g.aspx?c=et&v=94&l=de; https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-aethiopien.pdf (12.05.2020)
[2] Maria Scurell in „Das Länderinformationsportal“ zu Äthiopien, März 2020: https://www.liportal.de/aethiopien/wirtschaft-entwicklung/ (12.05.2020)
Paloma Anos Casero (IDA), Zeine Zidane (IMF), Kevin Fletcher (IMF) in „Joint Bank-Fund Debt Sustainibility Analysis 2018: http://documents1.worldbank.org/curated/en/690431545161133088/pdf/wbg-ethiopia-debt-sustainability-analysis-2018-update-final-dec0718-12142018-636805946102250783.pdf (12.05.2020)
[3] Vgl. Tim Heinemann: „Äthiopien 2025: ein aufstrebender Industriestandort in Afrika?“, KfW Research Nr. 249, 27. März 2019: https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-Fokus-Volkswirtschaft/Fokus-2019/Fokus-Nr.-249-Maerz-2019-Aethiopien-2025.pdf (12.05.2020)
[4] Zwischenzeitlich hat das Parlament die Verschiebung in der Weise konkretisiert, als dass die Wahlen in einem Zeitraum von 9 – 12 Monaten nach Ende der Corona-Pandemie stattfinden sollen.
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