Das Wahlsystem: Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen
Bei den Parlamentswahlen werden die 577 Abgeordneten gewählt, die in der Nationalversammlung, dem Unterhaus des französischen Parlaments, sitzen. Sie werden in allgemeiner und direkter Wahl von den französischen Wählerinnen und Wählern gewählt.
Die 577 Sitze verteilen sich mit 558 Mandaten für die Departements (Hexagon und Übersee), 8 Mandaten für Neukaledonien und die Übersee-Gebietskörperschaften und mit 11 Mandaten für die Auslandsfranzosen. In den Departements vertritt ein Abgeordneter 125.000 Einwohner (für jeweils weitere 125.000 Einwohner wird ein zusätzlicher Abgeordneter zugewiesen). In Departements mit weniger als 125.000 Einwohnern gibt es nur einen Abgeordneten.
Die Wahl findet in zwei Wahlgängen statt. Um im ersten Wahlgang gewählt zu werden, muss man die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten. Im zweiten Wahlgang genügt die relative Mehrheit.
Damit ein Kandidat das Recht hat, im zweiten Wahlgang anzutreten, muss er im ersten Wahlgang eine Stimmenzahl von mindestens 12,5 % der im Wahlkreis eingetragenen Wähler erhalten. Erfüllt nur ein Kandidat diese Bedingung, kann der Kandidat, der nach ihm die meisten Stimmen erhalten hat, im zweiten Wahlgang antreten. Erfüllt kein Kandidat diese Bedingung, können nur die beiden Kandidaten, die die meisten Stimmen erhalten haben, im zweiten Wahlgang antreten. Dies bedeutet im Rückschluss auch, dass im zweiten Wahlgang zum Teil drei oder vier Kandidaten gegeneinander antreten.
Das politische Gleichgewicht in der Nationalversammlung
Für die Bildung einer Fraktion in der Nationalversammlung sind mindestens 15 Abgeordnete erforderlich. Bei 577 Abgeordneten sind 289 Sitze erforderlich, um die absolute Mehrheit zu erreichen. Aus der Mehrheit wird die Regierung abgeleitet. Obwohl es in Frankreich keine Koalitionskultur gibt, regiert die Mehrheitspartei nie allein.
Die Situation der relativen Mehrheit, die die Versammlung seit 2022 erlebt hat, ist seit der Legislaturperiode 1988 - 1993 nicht mehr vorgekommen. Angesichts der derzeitigen politischen Lage ist es nicht sicher, dass sich nach dem 7. Juli eine klare Mehrheit herausbilden wird.
Ein weiteres Szenario ist möglich: das der Kohabitation. Dieser Begriff beschreibt die Situation, in der ein Präsident der Republik mit einer ihm entgegengesetzten politischen Mehrheit in der Nationalversammlung koexistiert. Dies ist in der Geschichte der Fünften Republik dreimal vorgekommen.
In diesem Fall verliert das direkt gewählte Staatsoberhaupt seine Führungsrolle in der Exekutive an den Premierminister, der der Nationalversammlung gegenüber verantwortlich ist. Der Regierungschef wird somit zur dominierenden Figur der Exekutiven und zum eigentlichen Oberhaupt der parlamentarischen Mehrheit. Denn auch wenn der Präsident der Republik den Regierungschef immer noch ernennt, muss er ihn zwingend aus den Reihen der parlamentarischen Mehrheit auswählen, da sonst die Gefahr besteht, dass der Regierung das Misstrauen ausgesprochen wird. Der Präsident verliert zudem jegliche Macht über die Zusammensetzung der Regierung. Ausgenommen sind jedoch die Ministerien, die Zuständigkeiten im sogenannten „reservierten“ Bereich des Staatsoberhauptes haben (Verteidigung und Außenpolitik). Wie sich der Verfassungstext konkret bei der Ministerernennung interpretieren lässt, bleibt abzuwarten.
Parteien und Bündnisse: Konfusion für die Wählerinnen und Wähler
Aufgrund der sehr kurzen Fristen für die Neuwahlen wurden nur 4011 Bewerbungen für die Parlamentssitze eingereicht und bestätigt, ein Drittel weniger als im Jahr 2022 (6290). Während sich die derzeitige Debatte auf drei Blöcke konzentriert (links, Mitte und rechtsextrem), werden die Wähler in den Wahlkabinen mit einem schwer durchschaubaren Wahlangebot konfrontiert. Die innerparteilichen Abspaltungen und Bündnisse mit variabler Geometrie seitens der Linken und der Rechtspopulisten führen dazu, dass die französische Parteienlandschaft aktuell fast unleserlich geworden ist.
Die Neue Volksfront (Nouveau Front Populaire – NFP) – Neuauflage des Nupes-Bündnisses
Die Neue Volksfront, die ihren Namen der Koalition von Léon Blum, einer Figur des Sozialismus im 20. Jahrhundert, entlehnt hat, schloss sich am 10. Juni 2024 zusammen.
Eine Mehrheit der Parteien aus dem linken bis linksextremen Parteienspektrum ist unter diesem Banner vereint, darunter:
La France Insoumise (Vorsitz Manuel Bompard) ;
Die Sozialistische Partei (Vorsitz Olivier Faure);
Place publique (Vorsitz Raphaël Glucksmann);
Les Ecologistes (Vorsitz Marine Tondelier) ;
Die Kommunistische Partei Frankreichs (Vorsitz Fabien Roussel);
Génération.s (Vorsitz Benoît Hamon) ;
Die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) (Vorsitz Philippe Poutou).
13 weitere kleinere Bewegungen wie der Parti de gauche und der Parti ouvrier indépendant haben sich dem Bündnis ebenfalls angeschlossen.
Jede Partei hat eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten festgelegt, die sie unter diesem Bündnis aufstellt. Die meisten Wahlkreise hat die Partei France insoumise (229), gefolgt von der Sozialistischen Partei (175) und den Ecologistes (92).
Das Programm des Bündnisses sieht 150 konkrete Maßnahmen vor: z. B. die Rücknahme mehrerer unpopulärer Reformen, die Erhöhung des Mindestlohns auf 1600 Euro netto, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die Unterstützung der Palästinenser und Ukrainer.
Mit dem Ziel eine starke Opposition zum Rassemblement National aufzubauen, hatten die verschiedenen politischen Gruppierungen der Linken in Rekordzeit eine Koalition gebildet, ein gemeinsames Programm ausgearbeitet und sich auf die Strategie eines einzigen Kandidaten pro Wahlkreis geeinigt. Nachdem am 14. Juni jedoch bekannt wurde, dass fünf zentrale LFI-Abgeordnete nicht für die eigene Wiederwahl aufgestellt wurden, brach eine offene Debatte über die Übermacht und Omnipräsenz des ehemaligen Präsidentschaftswahlkandidaten Jean-Luc Mélenchon aus. Intern wurde von einer „Säuberungsaktion“ der Abgeordneten gesprochen, die die interne Funktionsweise der Bewegung offen kritisiert hatten. Jean-Luc Mélenchon prangerte wiederum einen internen "Krieg" gegen ihn an, da politische Schwergewichte des Linksbündnisses sich gegen seine mögliche Kandidatur für das Amt des Premierministers aussprechen.
Ensemble pour la République, das Bündnis der Präsidentenmehrheit bröckelt
Die Präsidentenmehrheit hat sich wieder unter demselben Banner vereint wie bei der Parlamentswahl 2022. Ihr gehören an:
Renaissance (Vorsitz Stéphane Séjourné) ;
MoDem (Vorsitz François Bayrou) ;
Horizons (Vorsitz Edouard Philippe);
485 Kandidaten treten für das Bündnis an (2022: 569). Fast die Hälfte davon stammt aus den Reihen der Renaissance (297, davon 125 ausscheidende Abgeordnete), 78 aus dem MoDem (35 ausscheidende Abgeordnete) und 82 Kandidaten aus Horizons (27 ausscheidende Abgeordnete). In 67 Wahlkreisen stellt das Bündnis keine Kandidaten auf und überlässt diese Wahlkreise dem sogenannten „republikanischen Bogen“ (arc républicain). Dieser vage Begriff umfasst eine „gemäßigte“ Rechte und Linke, die von den Républicains bis zur Sozialistischen Partei reichen kann. Prominentes Beispiel ist des ehemaligen Staatspräsidenten François Hollande, der bei den Wahlen antreten wird und keinen Gegenkandidaten aus dem Ensemble-Bündnis haben wird. Von 35 derzeitigen Regierungsmitgliedern stellen sich 24 zur Wahl, davon 11 im Großraum Paris.
Unter dem Motto "mehr verdienen und weniger ausgeben" umfasst das Bündnisprogramm Vorschläge wie die Senkung der Strompreise, die Verdoppelung von Elektroautos im Rahmen des Sozialleasings sowie eine verstärkte Bekämpfung der Jugendgewalt.
Nennenswert ist, dass Edouard Philippe, Vorsitzender von Horizons und ehemaliger Premierminister, trotz des Wahlbündnisses mit einer eigenen Liste antritt. Horizons unterstützt zwar die Ensemble-Kandidaten im Rahmen des Bündnisses, tritt aber unter eigenem Parteinamen mit einer Liste von 82 Kandidaten an.
Es sei der Präsident, der die Präsidentenmehrheit getötet hat, betonte Edouard Philippe am 20. Juni im Fernsehsender TF1. Ziel Philippes mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2027 ist es nun, eine neue breite parlamentarische Mehrheit aufzubauen, die insbesondere die Républicains umschließen soll, die sich nicht mit Eric Ciotti dem RN angeschlossen haben, sondern auch Sozialisten, die „das Erbe Mitterrands“ forttragen.
Die Allianz der Rechten, die Républicains in Allianz mit Rassemblement National
Am 11. Juni 2024 kündigte Eric Ciotti, der Vorsitzende der Républicains, seine Bereitschaft an, sich mit dem Rassemblement National zu verbünden. Nur wenige politische Schwergewichte seiner Partei folgten ihm, abgesehen von einigen Abgeordneten und dem Vorsitzenden der Jeunes Républicains.
Letztendlich werden 62 Kandidaten der Républicains bei diesen Wahlen vom RN unterstützt. Nach der Bekanntgabe der offiziellen Kandidatenliste etikettierte das Innenministerium das Bündnis als "union de l'extrême-droite" (UXD) (Vereinigung der extremen Rechten).
Die Partei Les Républicains hat die Allianz mit RN, gegen die Entscheidung des Parteivorsitzenden Eric Ciotti, abgelehnt. Les Républicains schicken rund 400 Kandidaten ins Rennen, von denen einige durch den Rückzug des Ensemble-Bündnisses aus dem jeweiligen Wahlkreis profitieren könnten.
Eric Zemmours Partei Reconquête kündigt an, in fast der Hälfte des Wahlkreises keinen Kandidaten aufzustellen, um der „Union der Rechten" freie Hand zu lassen. Erwähnenswert ist jedoch, dass Reconquête im Wahlkreis von Marine Le Pen antreten wird. Reconquête stellt insgesamt 330 Kandidaten, was weit entfernt von den 553 Kandidaten bei den Parlamentswahlen 2022 ist. Auf dem Programm stehen: Senkung der Mehrwertsteuer auf Energie, Ausweisung ausländischer Straftäter, Bekämpfung von Sozial- und Steuerbetrug.
Prognosen
Aufgrund des Wahlsystems ist es sehr schwierig, Hochrechnungen zu erstellen. Hier wird der Anteil der Stimmen in der ersten Runde dargestellt:
EXG : Linksextreme
NFP : Neue Volksfront (Nouveau Front populaire)
DVG : Linkes Lager (ohne Parteizugehörigkeit)
ENS : Ensemble (Präsidentenmehrheit)
DVD : Bürgerlich-konservatives Lager (ohne Parteienzugehörigkeit)
LR : Les Républicains
RN : Rassemblement national (in den Umfragen inkl. LR in Allianz mit RN)
REC : Reconquête !
Mögliche Sitzverteilung nach aktuellen Umfragewerten (Sondage IFOP vom 25. Juni)
Nouveau Front Populaire: 180 - 210 Sitze
Ensemble: 75 - 110 Sitze
Les Républicains: 25 - 50 Sitze
Rassemblement National: 220 - 260 Sitze (davon 10 - 20 für die Liste mit Ciotti)
Fast eine Million Wahlvollmachten wurden bis zum 21. Juni registriert, wie aus den Zahlen des Innenministeriums hervorgeht. Eine Vollmacht – die sogenannte „Procuration“ kann ein Wähler an eine Person seines Vertrauens geben, die für ihn abstimmen wird. Diese Rekordhoch deutet auf eine hohe Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen am 30. Juni und 7. Juli hin. Es ist derzeit schwierig vorauszusagen, welche Parteien von der hohen Mobilisierung bei den Parlamentswahlen profitieren werden. Auf der einen Seite könnte eine Mobilisierung einer jungen Wählerschaft der Neuen Volksfront Rückenwind geben. Diese stilisierte sich als einzige Brandmauer gegen einen Sieg der Rechtspopulisten. Es bleibt jedoch auch zu bedenken, dass RN noch über ein nicht geringes Stimmenpotenzial verfügt, dass die Partei im Rahmen der Europawahlen nicht ausgeschöpft hat. Jordan Bardella hat so am 9. Juni 7,7 Millionen Wählerstimmen erhalten und somit deutlich weniger als Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen 2022 (13,2 Millionen). Die Aussicht auf einen Machtwechsel könnte diese Wählerschaft mobilisieren.
Szenarien für die Regierungsbildung
Szenario 1: Absolute Mehrheit
Aus institutioneller Sicht wäre dieses Szenario die einfachste Option. In diesem Fall würde einer der drei Blöcke (Präsidentenmehrheit, RN oder NFP) eine absolute Mehrheit, also 289 Sitze in der Nationalversammlung, erhalten.
Sollte Renaissance und seine Verbündeten mehr als 289 Sitze erhalten, kann der Staatschef einen Premierminister mit der gleichen politischen Couleur wie er selbst ernennen und hat bis zum Ende seiner fünfjährigen Amtszeit freie Hand. Es scheint wahrscheinlich, dass Gabriel Attal in diesem Fall Premierminister bleibt. Eine absolute Mehrheit für RN oder die NFP würde hingegen zum vierten Mal in der V. Republik eine „Cohabitation“ zwischen einem Staatspräsidenten und einer parlamentarischen Mehrheit unterschiedlicher politischer Couleur herbeiführen.
Gemäß Artikel 8 der Verfassung ernennt der Präsident der Republik den Premierminister. In der Praxis muss er ihn jedoch aus der parlamentarischen Mehrheit auswählen, da sonst eine Minderheitsregierung von der Nationalversammlung in sämtlichen Reformprojekten ausgebremst würde. Im Falle eines Sieges des RN wird die Partei nach aktuellem Stand ihren Vorsitzenden Jordan Bardella als Premierminister vorschlagen. Marine Le Pen will den Fraktionsvorsitz in der Nationalversammlung behalten und hat bereits erklärt, dass sie Emmanuel Macron im Falle eines Sieges ihres Lagers nicht zum Rücktritt auffordern wird.
Im Falle eines Wahlsiegs der Linken ist die Gleichung komplexer. Die Neue Volksfront hat weder den Namen noch die Methode für die Ernennung ihres potenziellen Premierministers festgelegt. Dies wird auch davon abhängen, wie viele Abgeordnete die Bündnispartner jeweils gewinnen können.
Szenario 2: Relative Mehrheit
Komplizierter wird es, wenn keine politische Kraft eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erlangt. Eine Regierung mit relativer Mehrheit ist ständig von einem möglichen Misstrauensvotum bedroht, was sie dazu zwingt, in der Versammlung Text für Text Bündnisse mit den anderen Parteien einzugehen.
Emmanuel Macron sprach auf seiner Pressekonferenz nach der Auflösung der Nationalversammlung von der Möglichkeit einer „Föderation der Projekte“. Kompromisse könnten mit Sozialdemokraten, den Grünen, und dem moderaten Flügel der Républicains eingegangen werden. Die Tatsache, dass Ensemble in 65 Wahlkreisen keine Kandidaten gegen PS und LR-Kandidaten aufstellt, ist als ein erster Schritt in diese Richtung zu verstehen. In einer solchen politischen Konstellation könnte sich Emmanuel Macron für einen Premierminister aus der Verwaltung ohne Parteibuch oder einen Premierminister der „nationalen Einheit“ entscheiden.
Im Falle einer relativen Mehrheit der Neuen Volksfront oder des RN wäre die Lage komplizierter. Die Hypothese eines Premierministers, der politisch stark von der einen oder anderen Seite geprägt ist, ist in diesem Fall unwahrscheinlich, da es ihm schwerfallen würde, eine klare Mehrheit in der Nationalversammlung zu finden.
Jordan Bardella hat bereits angekündigt, dass er im Falle einer relativen Mehrheit für RN nicht für das Amt des Premierministers zur Verfügung steht.
Stillstand oder Große Koalition?
Das Risiko eines institutionellen Stillstands ohne einen Premierminister, der in der Lage ist, eine Mehrheit hinter sich zu sammeln, liegt eindeutig auf dem Tisch.
Im Falle einer relativen Mehrheit für RN scheint es wahrscheinlich, dass das demokratische Parteienspektrum dazu gezwungen wird, Verantwortung zu übernehmen und ein Regierungsabkommen zu schließen. Denkbar ist eine große Koalition der Präsidentenmehrheit mit den Républicains (ohne Ciotti) und den Sozialisten. Offen diskutiert wird diese derzeit in den betroffenen Parteien jedoch nicht. Ein zentraler Impulsgeber ist der ehemalige Premierminister Edouard Philippe.
Sollte es hingegen zu einer Blockade ohne Koalitionsbildung kommen, würde Frankreich in eine beispiellose politische Krise stürzen, da es laut Verfassung erst nach einem Jahr erneut möglich ist, die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen auszurufen.
Folgen für Europa und die deutsch-französischen Beziehungen
Für Europa stellen sich in Hinblick auf die Parlamentswahlen in Frankreich zwei Herausforderungen. Welche Auswirkungen wird die Ausrichtung der nächsten Regierung auf Europa als Ganze haben? Welche konkrete Europapolitik wird Frankreich in Zukunft führen? Die EU und Deutschland müssen sich ernsthaft mit dem Szenario einer absoluten Mehrheit des rechtspopulistischen RN auseinandersetzen.
Die Auflösung der Nationalversammlung und die derzeitig unsichere politische Lage hat die Finanzmärkte weiter verunsichert. Sie haben mit einer generellen Ausweitung der Risikoaufschläge für Frankreich reagiert. Erschwerend hinzu kommt die schwache Situation der französischen Staatsfinanzen, die zur Einleitung eines Defizitverfahrens führte. Die Situation wird angespannt bleiben und ein entsprechender Wahlausgang könnte die Nervosität an den Märkten weiter erhöhen. Die Befürchtung ist, dass Frankreich zu einem destabilisierenden Faktor für die europäische Wirtschaft werden könnte, wird offen diskutiert.
Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Rolle Frankreichs in Brüssel. Es scheint bereits jetzt klar zu sein, dass Frankreich im Europäischen Parlament an Einfluss verlieren wird, da ein Großteil der französischen Abgeordneten nicht zu der Mehrheit gehören wird, die die nächste Kommission unterstützt. Im Falle einer Niederlage bei den Parlamentswahlen würde der Staatspräsident zudem im Europäischen Rat geschwächt. Die Möglichkeit, dass Minister des rechtspopulistischen Rassemblement National im Rat der EU mitwirken und abstimmen werden, ist durchaus realistisch.
Die Positionierung des Rassemblement National gegenüber der EU hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt, bleibt aber unvereinbar mit der derzeitigen Funktionsweise der Europäischen Union. Auch wenn die Partei ihre Opposition gegen den Euro aufgegeben hat,
zieht RN weiterhin die Möglichkeit in Betracht, einseitig von europäischen Entscheidungen abzuweichen und den französischen Beitrag zum EU-Haushalt in Frage zu stellen - was de facto einem Frexit gleichkäme, von dem die Partei offiziell nicht mehr spricht. Inwiefern die RN einen solchen Kurs als mögliche Regierungspartei fortsetzen kann, bleibt aktuell unklar. Geopolitisch stellt sich vor allen Dingen die Frage der Beziehung des RN zu Russland und die Haltung der Partei im Ukrainekrieg.
Nachdem der Staatsbesuch von Emmanuel Macron in Deutschland neuen Elan in die deutsch-französischen Beziehungen gebracht hat, droht nun eine neue Eiszeit. Auf Regierungsebene könnte der außen- und sicherheitspolitische Kurs des Staatspräsidenten durch die Stellung eines Außen- und Verteidigungsministers aus einem anderen politischen Lager klar geschwächt werden, auch wenn die dieser Politikbereich eine „domaine reservé“, also reservierter Bereich des Staatspräsidenten ist. Für die Rechtspopulisten ist Deutschland im europapolitischen Kontext der Buhmann, dem man selbstbewusst gegenübertreten und seine eigenen Interessen verfolgen muss. Der deutsch-französische Motor als zentraler europapolitischer Impulsgeber könnte für die nächsten Jahre ausfallen.
Die enge und über Jahre aufgebauten Beziehungen zwischen den demokratischen Fraktionen auf beiden Seiten des Rheins, nicht zuletzt im Rahmen der DFPV (Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung) sowie das enge Netzwerk aus Städtepartnerschaften und deutsch-französischen Institutionen dürften die Auswirkungen abfedern. Gewährleistet werden kann dieser Fortbestand jedoch nur, wenn auch die entsprechenden finanziellen Mittel weiterhin zur Verfügung stehen.
Emmanuel Macron hat angesichts des polarisierten Wahlkampfs und der Aussicht darauf, dass die Extremen gewinnen vor einem Bürgerkrieg gewarnt, damit hat er sich sehr weit aus dem Fenster gelehnt und provoziert. Fest steht aber, dass Frankreich eine Schicksalswahl erleben wird, die zur Zitterpartie für den Präsidenten, für das Land und auch für Europa wird.
Anhang mit Wahlprogamme in den Kernthemenbereichen
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