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Imagen oficial del Servicio Electoral para el Plebiscito 2020

דוח מדינה

„Wähle das Land, das Du möchtest“

Plebiszit am 25. Oktober bedeutet Richtungswahl für Chile

Am 25. Oktober 2020 findet in Chile ein Plebiszit über die Ausgestaltung der zukünftigen Verfassung des Landes statt. Unter dem Motto „Stimme ab und wähle das Land, das Du möchtest“ („Vota y elige el país que quieres“) sind rund 14 Millionen Chilenen ab dem 18. Lebensjahr aufgerufen, am kommenden Sonntag von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen. Ein Jahr nach dem Beginn der Massenproteste vom 18. Oktober 2019 wird damit eine zentrale Forderung der Demonstranten nach einem Verfassungsplebiszit umgesetzt, das das Ende der aktuellen chilenischen Verfassung von 1980 einleiten soll.

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Ausgangslage

Nach einer am 18. Oktober 2019 in Kraft getretenen Anhebung der Metrotarife um 30 Pesos (ca. 4 Eurocents) formierte sich zunächst Protest unter Schülern und Schülerinnen, die gewaltfrei in etlichen Metrostationen der zentralen Metrolinie 1 der Hauptstadt durch zivilen Ungehorsam den Verkehrsfluss behinderten. In den folgenden Stunden und Tagen brach sich jedoch in Massenprotesten in der Metropolregion Santiago und anschließend im ganzen Land eine Welle der Gewalt Bahn, die sowohl das Sicherheitspersonal der Metro als auch die herbeigerufenen Polizisten kapitulieren ließ. Mit einer unerwarteten Zerstörungswut legten Randalierer Teile der Infrastruktur lahm, zerstörten Metrostationen, Ampelanlage, Straßenschilder, und steckten Busse, Kioske, Supermärkte, öffentliche Einrichtungen und Kirchen in Brand.

Aufgrund der Eskalation der Gewalt rief Staatspräsident Sebastián Piñera in Folge den Notstand aus und entsandte Einheiten des Militärs, um die sichtlich überforderten Polizeikräfte bei der Wiederherstellung der Ordnung zu unterstützen. Erstmals seit Chiles Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1990 befanden sich wieder Militäreinheiten auf der Straße zur Wahrung der nationalen Sicherheit. Bei nicht wenigen weckten diese Bilder ungute Erinnerungen an die dunkle Zeit der Militärdiktatur Augusto Pinochets, der das Land von 1973 bis 1990 mit harter Hand regierte.

Was ursprünglich als Widerstand gegen die Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Personennahverkehr in Santiago begann, weitete sich rasch zu landesweiten Protesten gegen herrschende soziale Ungleichheit und das politische Establishment aus. Nach rund drei Monaten wiederkehrender teilweise mit Gewalt vorgetragener Demonstrationen waren bis zum Ende des Jahres 34 Todesopfer und mehr als 3.000 Verletzte zu beklagen. Noch immer sind zahlreiche Klagen wegen polizeilicher Gewalt und Verletzung der Menschenrechte gegen eingesetzte Sicherheitskräfte anhängig.

Die Unruhen ließen auch dann nicht nach, als die seit März 2018 im Amt befindliche Regierung um Staatspräsident Sebastián Piñera mit sofort umzusetzenden Zugeständnissen wie beispielsweise der Anhebung des Mindestlohnes auf die Demonstrierenden zuging. Neben Sozialreformen war eine der zentralen Forderungen der Proteste der Entwurf einer neuen Verfassung, die die aktuelle Verfassung von 1980 ersetzen soll. Diese war zur Hochzeit der Militärdiktatur Augusto Pinochets entworfen worden und enthielt neben der Zementierung des libertären Wirtschaftssystems etliche Bestimmungen, um die Macht des Militärs dauerhaft abzusichern.

Im November schließlich verständigten sich Vertreter von Regierung und Opposition auf eine Verfassungsreform, die durch ein Plebiszit initiiert werden sollte. Als Datum für das Plebiszit wurde der 26. April festgesetzt. Als viele Chilenen gerade aus ihren Sommerurlauben Anfang März zurückgekehrten und sich sowohl Protestierende als auch Regierende auf die Vorbereitung der Abstimmung einstellten, wurde die erste mit dem neuartigen Covid-19-Virus infizierte Person in Chile gemeldet. Seitdem kämpfen die Regierenden und Gesundheitsinstitutionen mit der Eindämmung des Virus.[1] Das Plebiszit wurde auf den kommenden Sonntag, den 25. Oktober, verschoben.

 

Worüber wird abgestimmt?

Auf zwei Wahlzetteln wird zum einen abgefragt „Wollen Sie eine neue Verfassung?“ („¿Quiere usted una Nueva Constitución?“) und zum anderen welches Organ die neue Verfassung ausarbeiten soll („¿Qué tipo de órgano debiera redactar la Nueva Constitución?”). Während die erste Frage zustimmend („Apruebo”) oder ablehnend („Rechazo”) beantwortet werden kann, stehen bei der zweiten Frage zwei Optionen zur Disposition, wie die verfassungsausarbeitende Versammlung zusammengesetzt werden soll. Hier kann der Abstimmende zwischen einer gemischt zusammengesetzten Versammlung („Convención Mixta“) mit 172 Mitgliedern oder einer Verfassungsversammlung („Convención Constitucional“) mit 155 Mitgliedern wählen.

Die Convención Mixta setzt sich aus 86 Abgeordneten („Congresistas“) aus Parlament und Senat zusammen, die anteilig nach Sitzverhältnis der in den Abgeordnetenkammern vertretenen Parteien ausgewählt werden und 86 in freier und geheimer Wahl zu wählende Vertreter der Zivilgesellschaft, die entweder auf Parteilisten oder als Unabhängige kandidieren können. Bei der zweiten Variante – der Convención Constitucional – werden alle 155 Mitglieder in freier und geheimer allgemeiner Wahl gewählt. Auch bei dieser Wahl können sich die Kandidaten über Parteilisten oder als Unabhängige der Wahl stellen. Diese zweite Frage des Plebiszits erklärt sich aus dem Vertrauensverlust der chilenischen Institutionen im Allgemeinen und aus dem in den letzten Jahren gewachsenen Misstrauen in die Politik, die politischen Parteien und ihren Vertretern im Besonderen. Nicht wenige plädieren daher für die Convención Constitucional ohne Beteiligung der in Misskredit geratenen politischen Elite.

Die jüngste Umfrage des Meinungsforschungsinstituts tuinfluyes.com[2] prognostiziert eine überdurchschnittlich hohe Wahlbeteiligung von 70 Prozent für den kommenden Sonntag. Von den im Zeitraum vom 2. bis 5. Oktober befragten 2.405 Personen gaben 69 Prozent an, für das Apruebo zu stimmen. 18 Prozent der Befragten schließen sich dem Rechazo an und 10 Prozent sind noch unentschlossen. Diese Umfrage bestätigt einmal mehr die Einschätzungen der vergangenen Wochen, dass sich die Zustimmung zu einer neuen Verfassung auch unter den erschwerten Bedingungen der Covid-Pandemie nicht grundlegend geändert hat. In derselben Umfrage stimmt die überwiegende Mehrheit von 61 Prozent für die Convención Constitucional, die sich ausschließlich aus 155 gewählten Volksvertretern der Zivilgesellschaft zusammensetzt.

 

Wie geht es nach dem Plebiszit weiter?

Für den Fall, dass am Sonntag das Apruebo die meisten Stimmen erhält, wie dies Umfragen erahnen lassen, würden am 11. April des kommenden Jahres die Vertreter der Zivilgesellschaft der verfassungsausarbeitenden Versammlung gewählt werden. Erst nach dieser Wahl und der anschließenden Einberufung des gewählten Verfassungskonvents beginnt die eigentliche Arbeit an der neuen Verfassung. Der Konvent hat im Anschluss bis zu zwölf Monate Zeit, einen Verfassungstext auszuarbeiten. Dieser würde abschließend in einem erneuten Plebiszit dem chilenischen Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Gemäß diesem Zeitplan könnte die neue Verfassung in der zweiten Hälfte 2022 in Kraft treten.

 

Ausblick

Es ist der Wunsch eines Großteils der chilenischen Bevölkerung, eine grundlegende Veränderung ihrer staatlichen Ordnung, ihres Wirtschaftssystems und ihres Gemeinwesens herbeizuführen. Wenngleich der Slogan „Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre“, der zum Motto der Demonstrationen seit dem 18. Oktober wurde, die durchaus positive Entwicklung Chiles in den dreißig Jahren seit der Widerherstellung der Demokratie verkennt, zeugt er dennoch von einer tiefsitzenden Unzufriedenheit über die nach wie vor bestehende gesellschaftliche Kluft zwischen wenigen sehr reichen und vielen nach wie vor von existenzieller Armut bedrohter Menschen. In keinem anderen OECD-Land bestimmt der soziale Status oder das Einkommen der Familie so stark über den gesellschaftlichen Aufstieg wie in Chile, in dem zentrale Elemente des Gemeinwesens wie das Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem, aber auch Wasserrechte, Grund und Boden sowie weite Teile der Infrastruktur in den Jahren der Militärdiktatur systematisch privatisiert wurden. Zwar gab es seit 1990 immer wieder Verfassungsreformen, insbesondere im Jahr 2005 unter Präsident Ricardo Lagos. Diese zielten allerdings im Wesentlichen darauf ab, den Einfluss des Militärs auf die Politik weiter zurückzudrängen und die demokratischen Institutionen zu stärken. Die spätestens seit Beginn der 2000er Jahre immer lautstarker geforderten Sozialreformen wurden indes nicht angegangen.

Nun soll es die neue Verfassung richten. Während viele Ältere mit einer neuen, demokratisch ausgearbeiteten Verfassung die endgültige Überwindung der Militärdiktatur zu erreichen suchen, erhoffen sich die Jüngeren mehr soziale Gerechtigkeit. Die Erwartungen an das auszuarbeitende Rechtsdokument sind immens. Der Druck verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen auf die Inhalte der künftigen Verfassung ist groß.

Am Jahrestag des 18. Oktober versammelten sich nach Schätzungen 25.000 Menschen am Plaza Italia, an dem die Proteste vor einem Jahr ihren Ursprung fanden. Erneut kam es zu gewalttätigen Begegnungen zwischen Vermummten und Sicherheitskräften. Am Nachmittag und den Abendstunden eskalierte die Gewalt als es zu Angriffen auf die Polizeistationen in Puente Alto und Melipilla kam. Den Höhepunkt fand der Gewaltexzess in der Brandschatzung der beiden katholischen Kirchen San Francisco de Borja und La Asunción. Bereits in den Tagen zuvor kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei, während derer es zu Verletzten kam. International ging der Sturz eines 16jährigen von der Brücke Pío Nono nach dem Zusammenprall mit einem Polizeibeamten durch die Medien.

Diese Bilder lassen erahnen, unter welchem Druck die Abstimmung am kommenden Wochenende stattfindet bzw. die Delegierten nach der zu erwartenden Zustimmung zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung konferieren werden. Es wird kein leichter Weg sein, aber der Pragmatismus, der die Chilenen in den zurückliegenden Jahrzehnten von einem armen lateinamerikanischen Land bis in die Reihen der OECD geführt hat, lässt zumindest hoffen, dass sie auch für die Zukunft tragfähige Lösungen finden, die das Land dauerhaft einen.

 


 

[1] Siehe KAS-Länderberichte „Chile – Musterschüler am Scheideweg“ vom 2. Juni 2020 und „Chiles neue Normalität“ vom 26. August 2020

[2] Siehe https://www.tuinfluyes.com/assets/estudios/ESTUDIO_TUINFLUYES_ESPECIAL_PLEBISCITO_2020.pdf

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Andreas Michael Klein

Andreas Michael Klein

Leiter des Regionalprogramms Politikdialog Asien

andreas.klein@kas.de +65 6603 6162

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