Wenn am 11. Oktober 2020 in Wien die Gemeinderatswahlen stattfinden, entspricht das einer Landtagswahl. Wien ist das 9. Bundesland in Österreich. Mit gut 1,9 Millionen Einwohnern ist Wien sogar das einwohnerreichste Bundesland. Aufgrund des hohen Anteils von Einwohnern ohne österreichische Staatsbürgerschaft, sind nur etwa 70 Prozent der Wiener wahlberechtigt. Wählen darf man ab 16. Etwas mehr (1,36 Mio.) sind es auf Bezirks-Ebene, da hier auch nicht-österreichische EU-Bürger wahlberechtigt sind. Wien ist nicht nur die Hauptstadt, sondern auch die mit Abstand größte Stadt Österreichs. Die zweitgrößte Stadt Graz hat knapp 300.000 Einwohner. Deshalb wird auf diese Wahl besonders geschaut. Die gleichzeitig stattfindenden Wahlen auf Bezirksebene, also die Kommunalwahlen, laufen dabei nur im Schatten mit.
Im Straßenbild sind die Plakataufsteller für beide Wahlen bunt gemischt. Die Botschaften auch. Es geht darum, dass Wien wichtig ist, die Stadt sicher sein soll und grüner werden muss. Die Briefkästen erfahren eine Renaissance. Einen klassischen Straßenwahlkampf erlebt man dagegen nicht. Das dürfte weniger dem kühler werdenden Wetter geschuldet sein als vielmehr den ungewöhnlichen Umständen aufgrund von Corona.
Traditionell sind in Wien vor allem zwei Parteien stark: Die SPÖ (das rote Wien – das ist nicht nur so daher gesagt) und die FPÖ. Mit über 30 Prozent folgten die Freiheitlichen bei den letzten Wahlen in Wien im Jahr 2015 der SPÖ, die bei knapp 40 Prozent lagen, auf dem zweiten Platz. Die heutige Kanzlerpartei ÖVP, genauer gesagt die Neue Volkspartei, lag weit abgeschlagen bei 9,24 Prozent. Sie wurde damals von den Grünen mit 11,84 Prozent überholt. Die NEOS lagen nur bei gut 6 Prozent, obwohl man vermuten könnte, dass für eine liberale Partei in einer Großstadt mehr Potential wäre.
Nachhall Ibiza
Die größte Veränderung, die für den Wahlausgang in Wien eine Rolle spielen dürfte, liegt in der Verfasstheit der FPÖ. Sie hatte nicht nur das politische Beben des Ibiza-Skandals zu verkraften, sondern auch den Spesenskandal ihres Vorsitzenden, Heinz-Christian Strache. Das war zu viel. Strache wurde aus der FPÖ ausgeschlossen und tritt nun mit einer eigenen Liste bei der Wien-Wahl an. Die Umfragen sehen derzeit nicht so aus, dass Straches Liste die Hürde von 5 Prozent überwindet. Aber jede Stimme für seine Liste fehlt der FPÖ. Und nicht nur das: Ein Scheitern Straches an der 5%-Hürde hätte Auswirkungen auf mögliche Mandatsmehrheiten, da eine solche dadurch „billiger“ werden würde.
Das so genannte „Ibiza-Video“ findet derzeit seinen Nachhall in einem Untersuchungsausschuss des Nationalrats. Auch wenn er nicht viel Licht in das Dunkel der Umstände, die zu diesem Video geführt haben, bringen dürfte, so eignet sich der Ausschuss doch, um Spuren bei dem einen oder anderen Politiker zu hinterlassen. Denn natürlich werden die Anhörungen dazu genutzt, türkis/blaues Regierungshandeln zu durchleuchten und zu schauen, ob es bei Personalbesetzungen und Auftragsvergaben mit rechten Dingen zugegangen sei. Dabei stehen nicht nur FPÖ-Politiker im Fokus, sondern auch der Spitzenkandidat der Neuen Volkspartei bei der Wien-Wahl, Gernot Blümel. Er ist einer der engsten Weggefährten von Bundeskanzler Sebastian Kurz und war in der türkis/blauen Regierung Kanzleramtsminister. Heute ist er Finanzminister und Spitzenkandidat bei der Wiener Gemeinderatswahl. Trotz Untersuchungsausschuss gehen die Umfragen davon aus, dass die Volkspartei ihr letztes, historisch niedriges Ergebnis verdoppeln könnte. Der FPÖ wird demgegenüber ein Verlust um zwei Drittel prognostiziert, die dann auf etwa 10 Prozent käme. Sie versucht vor allem mit dem Migrationsthema Stimmung zu machen, das aufgrund des hohen Ausländeranteils in Wien bei manchem verfängt.
Corona-Bonus
Wie bei vielen anderen Regierungen, zeigt sich auch in Wien, dass die Corona-Pandemie die Amtsinhaber stabilisiert bzw. stärkt. Sowohl die SPÖ mit Bürgermeister Ludwig, der einem freundlich von jedem Plakat zulächelt, obwohl er gar nicht direkt gewählt wird, als auch die Grünen dürften bei der Wahl von dem als anfangs reibungslos empfundenen Krisenmanagement profitieren und zulegen. Eine Fortführung der Koalition ist trotz anderer Farbzusammensetzung auf Bundesebene wahrscheinlich.
Vielleicht wäre nach dem 11. Oktober auch eine SPÖ/NEOS-Regierung rechnerisch möglich. Den NEOS wird in den Umfragen zwar Stagnation bescheinigt, es könnte zahlenmäßig dennoch reichen, vor allem, wenn die Strache-Liste nicht zieht. Aber selbst bei Akzeptanz in der Bevölkerung erscheint dieser Gedanke derzeit fremd, liegt das Politikverständnis beider Parteien zu weit auseinander.
An der Spitze der Wiener Grünen gab es vor gut einem Jahr einen personellen Wechsel zu Birgit Hebein, die seither auch Wiener Vizebürgermeisterin ist. Atmosphärisch gab es immer wieder Reibereien zwischen den beiden Wiener Regierungsparteien, nicht zuletzt aufgrund der Angst der Grünen, mit einem Zuviel an Harmonie gegenüber der ungleich größeren SPÖ unterzugehen. Versuche, eigene Akzente zu setzen, sind etwa das kostspielig umgesetzte Projekt eines temporären Freibads auf einer der meistbefahrenen Straßen Wiens oder die Idee einer autofreien Innenstadt. In beiden Fällen gab es keine Unterstützung durch die SPÖ. Mit der Ablehnung der autofreien Innenstadt könnte dabei auch der Versuch der SPÖ verbunden sein, Wähler von der FPÖ zurückzugewinnen. Sie verlor 2015 an diese ca. 33.000 Wähler.
Den Grünen in Wien hilft der Umstand, dass der Gesundheitsminister im Bund aus ihren Reihen kommt. Er wird als sachlicher und zugleich sympathischer Krisenmanager wahrgenommen, und die junge, ungewöhnliche türkis/grüne Bundesregierung hat Österreich sehr gut durch die erste Welle der Pandemie geführt. Es fallen deshalb im Wahlkampf umso mehr die kritischen Töne vom türkisen Koalitionspartner an der Stadt Wien auf. Nirgendwo sind die Infektionszahlen so hoch wie hier, mit rasanten Steigerungsraten. Es könnte für die jetzige Stadtregierung ein großes Glück sein, dass die Wahlen jetzt und nicht erst Ende November stattfinden.
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