単行本
„Der RCDS ist die progressive Alternative zur reaktionären Linken“ – so hat der langjährige und viel zu früh verstorbene Bundesvorsitzende Gerd Langguth die Identität des „Rings christlich-demokratischer Studenten“ oft auf den Punkt gebracht. Er beschrieb damit treffend das vielen RCDS-Generationen gemeinsame Ziel – so der Titel des ersten RCDS-Grundsatzprogramms – einer „offenen und solidarischen Gesellschaft“ und die damit verbundene durchaus auch kämpferische Ablehnung ideologischer Wahrheits- und Absolutheitsansprüche.
Die Universitäten waren in der jüngeren deutschen Geschichte oft Ziel und Brennpunkt ideologischer Eroberungszüge. Schon im Juli 1932 hatte der NS-Studentenbund dort große Wahlerfolge erzielt und die Führung der Deutschen Studentenschaft übernommen. Wenig später stürzte die nationalsozialistische Diktatur ganz Deutschland in den Abgrund und überzog Europa und die Welt mit Krieg. Für den RCDS wie für CDU und CSU insgesamt war das „Nie wieder Diktatur und Krieg“ ein wesentlicher Gründungsimpuls. Die ersten existentiellen Prüfungen für die Ernsthaftigkeit dieses Bekenntnisses kamen schnell: Schon in den unmittelbaren Nachkriegsjahren wurden die Gründer der ersten RCDS-Gruppen in der damaligen „Sowjetischen Besatzungszone (SBZ)“ wegen ihrer Ablehnung des Kommunismus verhaftet und deportiert.
Auch in der Bundesrepublik Deutschland waren Hochschulen wiederholt das bevorzugte Ziel ideologischer Angriffe. So machten sich mit der 68er-Studentenrevolte unterschiedlichste extremistische Gruppen an den Universitäten breit. Fabriken waren noch nie ihre Basis. Der moskautreue „Marxistische Studentenbund (MSB) Spartakus“ dominierte viele Studentenparlamente. Straff organisierte maoistische K-Gruppen sahen Hochschulen als ihre Operationsbasis und die terroristische RAF fand hier manchen Sympathisanten.
Es gehört zu den Lebenslügen vieler aus dem akademischen Milieu, dass man dort besonders gegen totalitäre Gefahren gefeit sei. Das Gegenteil ist der Fall: Gefährliche ideologische Träume gedeihen besonders auf dem Nährboden lebensferner Theorieverliebtheit.
Der RCDS fand sich immer wieder im Zentrum dieser ideologischen Kämpfe, weil er - nicht selten alleine (gelassen) – die Grundwerte freiheitlicher Demokratie gegen totalitäre Angriffe verteidigte. Entscheidend war dabei nicht, ob man Christdemokrat, Sozialdemokrat oder Liberaler war. Die Trennlinie verlief an den Hochschulen lange zwischen Anhängern und Gegnern freiheitlicher Demokratie. Dies prägte viele RCDS-Generationen.
„Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ - so hat es Karl Raimund Popper in seinem immer wieder aktuellen Standardwerk genannt – beschreibt das Arbeitsfeld des RCDS seit seiner Gründung. Oft wurden dabei theoretische Debatten von handgreiflicher Gewalt verdrängt. Die Argumentationsarmut seiner Gegner erlebte der RCDS häufig, wenn seine Veranstaltungen „gesprengt“, seine Redner niedergebrüllt und seine Büchertische demoliert wurden.
Gewalttheorien als Legitimation für Gewalttaten
Totalitäre Ideologien kreisen um die „Gewaltfrage“, weil sie die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols durch individuellen Gewaltverzicht verweigern. Die Akzeptanz der Grenzen eigener Freiheit an der Freiheit anderer, erkennen Extremisten als Fundament jeder freiheitlichen Demokratie nicht an: sie beanspruchen zur Durchsetzung ihrer ideologischen Wahrheitsansprüche das Sonderrecht der Wahl der Mittel einschließlich von Gewalt und Zwang.
Eine beliebte Rechtfertigung von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung bot 1965 Herbert Marcuses Theorie der „Repressiven Toleranz“. Danach ist der demokratische Staat eigentlich ein repressiver Staat, der den Einzelnen durch die scheinbare Gewährung demokratischer Freiheit ständig manipuliert. Dieser angeblichen Repressivität des Systems setzte Marcuse seine „befreiende Toleranz“ entgegen. Der Einzelne ist demnach nicht nur berechtigt, sondern geradezu genötigt, der eigenen Befreiung wegen zur Gewalt zu greifen.
Nicht weniger folgenreich war Johan Galtungs Gewaltanalyse, die 1969 das Konzept der „strukturellen Gewalt“ hervorbrachte. Ausgangspunkt war Galtungs Auffassung, dass eine Eingrenzung des Gewaltbegriffs auf bloße physische Beschädigung abzulehnen sei. Er führt die Kategorie der „strukturellen Gewalt“ ein, der als „allgemeine Formel Ungleichheit, vor allem Ungleichheit in der Verteilung der Macht“ zu Grunde liegt. Ergebnis der Galtung´schen Betrachtungen ist ein außerordentlich weit gefasster Gewaltbegriff. In diesem Konzept wird jedes Hindernis, jede Schwierigkeit als Ausdruck von Gewaltverhältnissen aufgefasst.
Die Wortführer der studentischen Protestbewegung der sechziger Jahre griffen die wesentlichen Stichworte dieser neuen Gesellschafts- und Gewalttheorie schnell auf und nutzten sie für ihren politischen Tageskampf. Da war oft die Rede von der „staatlichen Gewaltmaschine“ (Dutschke). Marcuses Theorie der „repressiven Toleranz“ und Galtungs Definition der „strukturellen Gewalt“ boten jede Möglichkeit, auch die bundesdeutschen Ordnungen als gewaltsam zu beschreiben.
Gerade im alternativ-grünen Bereich hatten die Theorien von Marcuse und Galtung große Wirkung: Mit der Vorstellung von einer Allgegenwart gesellschaftlicher und staatlicher Gewalt wurde Gegengewalt gerechtfertigt. Es war üblich, damit gewalttätige Demonstrationen gegen Kernkraftwerke ebenso wie Hausbesetzungen oder Kasernenblockaden zu entschuldigen.
Michael Wendt und Klaus-Jürgen Schmidt, damals für die Alternative Liste im Berliner Abgeordnetenhaus, äußerten zum Beispiel im Juli 1981 in einem Spiegel-Interview:
„Wir haben die Gewalt nicht erfunden, wir haben sie vorgefunden. Wir gehen davon aus, dass tatsächlich Verhältnisse bestehen, die auf Gewalt beruhen. Dass es dagegen ein legitimes Widerstandsrecht gibt, haben wir in unserem Programm auf die Formel gebracht, dass die Betroffenen die Form ihres Widerstandes selbst entscheiden.“
So gesehen „ist der Steinwurf eines Demonstranten“ wie es Rainer Trampert als damaliger Bundesvorsitzende der Grünen 1983 ausdrückte „meines Erachtens Ausdruck einer schreienden Hilflosigkeit gegen dieses Gewaltpotenzial.“ Der in der Alternativszene häufig anzutreffende Slogan „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ war das popularisierte Resultat von Marcuses und Galtungs Theorien.
Begriffliche Verharmlosung und Anspruch auf Definitionsmonopol
Zur Tendenz, eigene Gewaltbereitschaft als Gegengewalt und damit quasi als Notwehr zu entschuldigen, kamen seit Ende der sechziger Jahre weitere begriffliche und theoretische Verharmlosungen von Gewalt. Eigene Gewalttätigkeit wurde zur legitimen „progressiven“ Gewalt gegen „reaktionäre“ Gewalt stilisiert. Bei „Gewalt gegen Sachen“ wurde im Vergleich zur „Gewalt gegen Menschen“ der Gewaltcharakter quasi wegdefinierte.
Hinzu kam der Anspruch auf das Definitionsmonopol, was Gewalt sei und was als „gewaltfrei“ zu gelten habe. Im „Friedensmanifest“ der Grünen vom Herbst 1981 heißt es: „Wir lassen uns nicht durch Vertreter der Staatsgewalt irritieren, die nicht legale, gewaltfreie Aktionen als verkappte Gewalt darstellen wollen.“ Petra Kelly unterstrich am 4. Mai 1983 im Deutschen Bundestag: „Wir lassen auf jeden Fall nicht zu, dass Gerichte, dass Herrschende, dass die Polizei und wer sonst noch, die selbst Gewalt anwenden, unseren Begriff von Gewaltfreiheit selbst definieren und uns die moralische Integrität absprechen.“
Begriffsumdeutungen und –manipulationen waren in der Folge Tür und Tor geöffnet, das rechtfertigende Wort vom „gewaltfreien Widerstand“ hatte Hochkonjunktur. Es war in diesem Umfeld kein Problem, auch Blockaden oder Hausbesetzungen unter das Schlagwort „Gewaltfreiheit“ zu fassen – man bestimmte ja selbst, was Gewalt ist. Im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen definierten schließlich Sprecher der Friedensbewegung auch das Vordringen auf das Gelände amerikanischer Kasernen als „gewaltfrei“. So wurde Hausfriedensbruch systematisch verharmlost.
Auch bei Blockaden und Besetzungen kann von wirklicher Gewaltfreiheit keine Rede sein. Tatsächlich liegt Nötigung vor, denn einzelne Personen oder Gruppen werden zu bestimmten Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen gezwungen. Völlig zu Recht definierte der hoch angesehene Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg auch „rechtswidrige, scheinbar gewaltlose Aktionen, die nur mit Gewalt verhindert oder beseitigt werden können“, als gewaltsam.
Höchstrichterliche Entscheidungen bestätigten dies, insbesondere das so genannte „Läpple-Urteil“ des Bundesgerichtshofs vom 8. August 1969. In diesem Urteil heißt es im Hinblick auf die Blockade von Straßenbahnschienen: „Niemand ist berechtigt, tätlich in die Rechte anderer einzugreifen, insbesondere Gewalt zu üben, um auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen und eigenen Interessen oder Auffassungen Geltung zu verschaffen. Der von der Verfassung gewährte weite Spielraum für die Auseinandersetzung mit Worten duldet keine Erweiterung auf tatsächliches Verhalten.“ Und weiter: „Mit Gewalt nötigt, wer psychischen Zwang ausübt, indem er auf Gleiskörper einer Schienenbahn tritt und dadurch den Wagenführer zum Anhalten veranlasst.“
In diesem Zusammenhang ist es übrigens unzulässig, Mahatma Gandhi als Autorität solcher Theorien von Gewaltfreiheit anzuführen, wie dies oft geschehen ist. Gandhi lehnte zum Beispiel Blockadeaktionen ausdrücklich ab. Er schrieb 1921: „Einige Studenten haben die alte Form des Sitzstreiks zu neuem Leben erweckt. Ich nenne es Barbarei, denn es ist eine unreife Art, auf andere Zwang auszuüben.“
„Gewaltfreier Widerstand“ mit teilweise erlaubter Gewalt
Grundiert wurde der nur scheinbar „gewaltfreier Widerstand“ mit dem Konzept scheinbar harmloser „Gewalt gegen Sachen“. So erläuterte die Grünen-Chefin Petra Kelly den Begriff „gewaltfrei“ mit dem Hinweis: „Bei einem Go-In oder bei gewaltfreien Platzbesetzungen gibt es zuweilen begrenzte Sachbeschädigungen.“
Im Frühjahr 1982 erklärte das Bundesvorstandsmitglied der Grünen, Roland Vogt: „Nicht von uns erwartet werden darf, dass wir Gewaltfreiheit als eine Art Gratis-Zusatzversicherung für die Erhaltung der Anlagen betrachten, die wir bekämpfen . . . Sachbeschädigung kann hin und wieder vorkommen.“ Ein Jahr später ließ es der damalige Bundesgeschäftsführer der Grünen, Lukas Beckmann, ebenfalls nicht an Klarheit fehlen: „Aktionen des aktiven, gewaltfreien Widerstandes schließen Gewalt gegen Sachen nicht aus.“ Im Programm der hessischen Grünen zur Landtagswahl 1982 hieß es ebenso eindeutig: „Sozialer Widerstand geht von Regel- und Gesetzesverletzungen aus, wenn andere Mittel nicht mehr greifen. Diese können bis zur gezielten Sabotage gehen, wobei mit dem kleinstmöglichen Mittel der gewünschte Effekt erzielt werden soll.“
Im Herbst 1984 riefen die Grünen ganz im Sinne solcher Äußerungen zur Behinderung von Manövern der NATO in der Bundesrepublik Deutschland auf. Obwohl in den entsprechenden Aufrufen auch zur Zerstörung von Telefonleitungen und die Behinderung von Hubschraubern durch Aluminiumdrachen aufgefordert wurde, sprach Petra Kelly am 4. Oktober 1984 im Deutschen Bundestag für die Grünen von dem „gewaltfreien Vorhaben Manöverbehinderung“.
Besonders eindringlich unterstrichen Vertreter des „gewaltfreien Widerstandes“ immer wieder ihre „bewusste Entscheidung“, jede ihrer Handlungen ohne verletzende Gewalt gegen Personen durchzuführen. Als jedoch im August 1983 der hessische Landtagsabgeordnete der Grünen, Frank Schwalba-Hoth, einen amerikanischen General mit Blut bespritzte, verabschiedete der Bundeshauptausschuss der Grünen dazu eine Stellungnahme, in der es heißt: „Wir stellen fest, dass die Aktion im Wiesbadener Landtag gewaltfrei war.“
Wie irreführend solche künstlichen Rechtfertigungs- und Umdeutungsversuche in Wahrheit sind, hätte schon Blick in die jüngere deutsche Geschichte lehren können. Niemand käme heute im Ernst auf die Idee, die Blockade des Zugangs zu jüdischen Geschäften durch hemdsärmelige SA- Kämpfer am 1. April 1933 („Kauft nicht bei Juden“) als „gewaltfrei“ zu bezeichnen, obwohl genau mit dieser Begründung die Polizei damals ein Eingreifen verweigerte. Und wie gefährlich die Unterscheidung zwischen von Gewalt gegen Sachen und Personen ist, wurde spätestens klar als in der Reichsprogromnacht am 9./10. November 1938 über 400 Menschen ums Leben kamen, obwohl Nazi-Größen zynisch von einer „Reichskristallnacht“ redeten, so als seien nur Fensterscheiben („Gewalt gegen Sachen“) zu Bruch gegangen.
In Wahrheit verbirgt sich hinter dem verharmlosenden Etikett „gewaltfreier Widerstand“ die Aufweichung grundsätzlicher Ablehnung von Gewalt zu Gunsten eines taktischen Verhältnisses zur Gewaltanwendung. Bestimmte Formen der Gewalt wurden und werden als legitim betrachtet, wo sie politisch nützlich erscheinen. Solche Gewaltrechtfertigung durch Wahrheitsgewissheit und Berufung auf höhere Legitimität widerspricht jeder demokratischen Einstellung und propagiert letztlich das Konzept: „Der Zweck heiligt die Mittel.“
Die heute fast als selbstverständlich hingenommen gewalttätigen Demonstrationen etwa gegen Castor-Transporte oder Weltwirtschaftsgipfel führen uns immer wieder die nachhaltige Wirkung der damaligen Debatte vor Augen und (scheinbar unpolitische) Gewaltexzesse in manchen Fußballstadien belegen wie verheerend die Rechtfertigung und Relativierung politischer Gewalt sich in die Gesellschaft ausgebreitet hat.
Auch wenn die inzwischen weitgehend entpolitisierten Hochschulen nicht mehr das Zentrum dieser Entwicklungen stehen, lauern gerade im akademischen Milieu neue totalitäre Gefahren und Absolutheitsansprüche, deren Argumentationsmuster sich nahtlos an das Geschilderte anschließen. Besonders im Internet haben sich als Foren verschiedenster totalitärer und freiheitsfeindlicher Verhaltensmuster entwickelt, denen entgegenzutreten essentiell für die Verfechten einer offenen und solidarischen Gesellschaft ist.
Geschwindigkeitsrausch, digitale Vereinfachung und Hysteriefalle
Ohne Zweifel bietet das Internet gerade im Politischen ein Potenzial großer Freiheitsgewinne, insbesondere im Blick auf neue Räume für Informations- und Meinungsfreiheit. Aber das Internet ist keineswegs das neue Erlösungsmedium der Demokratie, es bietet auch den Feinden der freiheitlichen Demokratie neue Chancen. Radikalisierung und Ideologie finden im Internet besonderen Nährboden wegen einiger typischer Charakteristika der Netzkultur:
So ist Schnelligkeit im Cyberspace das höchste Gut. Baut sich eine Seite zu langsam auf, klicken wir weiter. Gibt eine Suchmaschine die Antwort auf unsere Fragen zu langsam, wechseln wir den Anbieter. Im Internet ist der schnelle Klick die gültige Währung, Politik erscheint demgegenüber träge und langsam. Schnelligkeit ist aber kein Ausweis von Demokratiesteigerung, ihr wohnt die große Gefahr der Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit inne. Im Gegenteil dazu zeichnen sich stabile Demokratien dadurch aus, dass sie Entscheidungen ihre Reifezeit geben.
Den Geschwindigkeitsdruck im Internet begünstig auch eine Atmosphäre sich schnell wandelnder Stimmungen und Emotionen. Noch gibt es im Internet auch reflektierende Kommunikationsformen. So hat die ursprüngliche Textorientierung des Internets eine durchaus heilsam rationalisierende Wirkung. Zugleich hebt der Trend von der textgebundenen zur bildorientierten Nachricht diese Rationalitätsebene der Netzwelt zunehmend auf.
Die Verstärkung des emotionalen Spontaneindrucks durch die Bildorientierung des Internets steht nicht nur im Widerspruch zum Rationalitätsanspruch von Politik in der freiheitlichen Demokratie. Diese Entwicklung ist in gewisser Weise auch komplementär zur Tendenz zur Vereinfachung, die dem Internet schon durch die digitale Struktur innewohnt und einen weiteren Gegensatz zwischen der virtuellen Netzwelt und der demokratischen Politikwelt konstituiert: Digitales Denken privilegiert die einfache Wahl zwischen A und B. Politisches Denken dagegen ist komplex.
Insgesamt ist das Internet auch ein nervöses Skandalisierungsmedium. Nirgends entstehen so viele Gerüchte und nirgends werden sie so schnell verbreitet wie im Internet. Dies ist auch einem oberflächlichen Spieltrieb geschuldet, der in der Weitergabe einer im Netz gefundenen Nachricht einen von deren Inhalt oder Seriosität unabhängigen Selbstzweck sieht. Wer zur Verbreitung beiträgt, sieht sich im Internet selten verantwortlich für den Inhalt des Weitergegebenen. Was aber viele verbreiten, wird schnell von allen geglaubt.
Fragmentierte Echogesellschaften
Lag der ursprüngliche Reiz des Internets in der Einladung zur Reise in das bisher Unbekannte, hat sich inzwischen die Bestätigung des Vertrauten vielfach als Grundprinzip durchgesetzt. Die Suchmaschine Google ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel: Sie eignet sich nicht dafür, die neuesten Links zu einem Thema ausfindig zu machen, denn erst ab einer gewissen Anzahl von Klicks zu verzeichnen, reagieren die Google-Algorithmen überhaupt. Darauf weist Google im Kleingedruckten etwa zu seinem Nachrichtenservice auch selbst hin: „Unsere Artikel werden von Computern ausgewählt und gewichtet. Hierbei wird unter anderem bewertet, wie häufig und auf welchen Websites ein Beitrag online erscheint. Daher werden Beiträge ungeachtet ihrer politischen Aussage oder Ideologie sortiert.“
Ursache für diese Vorgehensweise ist die Struktur am Prinzip der großen Zahl ausgerichteter mathematischer Algorithmen, die den entsprechenden Programmen zugrunde liegen und die quasi-philosophisch als „Schwarm-Intelligenz“ gerühmt werden. Zugrunde liegt die Behauptung, dass etwas umso zutreffender, wichtiger und richtiger sei, je mehr Menschen sich dafür entscheiden.
Dieser in der Demokratietheorie und -geschichte längst widerlegte Grundsatz, auf den totalitäre Ideologien mit ihrer Strategie der Massenmobilisierung setzen, wird im Internet vielfältig wiederbelebt. So verkündet Google unter der Überschrift „Zehn Punkte, die für Google erwiesen sind“ als vierten Lehrsatz: „Die Demokratie im Internet funktioniert: Das Konzept von Google funktioniert, da es auf Millionen von einzelnen Nutzern basiert, die auf ihren Websites Links setzen und so bestimmen, welche anderen Websites wertvolle Inhalte bieten.“
Google-Anhänger sehen in diesem Prinzip der großen Zahl ein urdemokratischen Prinzip. Der israelische Historiker Jacob Talmon erkannte darin zu Recht ein demokratiefeindliches Konzept und beschrieb es 1963 in seiner „Geschichte der totalitären Demokratien“ – ohne das Google-Prinzip zu kennen – als „eine Art mathematischer Wahrheit“ um „Harmonie und Einigkeit zu schaffen (…). Individualismus werde dem Kollektivismus Platze machen müssen (…). Das Ziel ist, Menschen zu erziehen, die fügsam das Joch des öffentlichen Glücks tragen.“
Als eine Art sich selbst beschleunigende Spirale, die mit jedem neuen Input die Meinungsmehrheit verstärkt, entwickelt das Internet eine virtuelle „volonté générale“, und erinnert fatal an die von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) in seiner Hauptschrift „Du contract social ou principes du droit politique“ (1762) begründete Geringschätzung des Einzelnen angesichts der großen Zahl: „Je größere Übereinstimmungen in den Versammlungen herrscht, das heißt je mehr sich die gefassten Beschlüsse der Einstimmigkeit nähern, desto größere Herrschaft gewinnt auch der allgemeine Wille, während lang dauernde Wortgefechte, Uneinigkeiten und Lärmen das Wachsen der Privatinteressen und das Sinken des Staates anzeigen.“
Die Ambivalenz des Internets manifestiert sich nicht nur in seinem Uniformitätsdruck, sondern auch in der Spannung zwischen globaler Öffnung und der Abschottung im Gewohnten. Zwar schafft das Internet Gemeinschaft über Grenzen hinweg, indem es Menschen miteinander verbindet, die wegen großer Entfernungen nur über das Netz Kontakt halten können oder sich erst im Internet kennenlernen. Diese virtuelle Weltgemeinschaft hat das historische Beziehungsmonopol lokaler Gemeinschaften endgültig durchbrochen. Dabei ermöglicht es das Internet, für die globalisierte Kontaktaufnahme das sichere Zuhause nicht verlassen und die Kommunikation nur für Vertrautes zu nutzen.
Der grenzenlose Cyberspace ist auch eine Mosaikgesellschaft, die in einer Vielzahl kleiner und kleinster Teilöffentlichkeiten das Bedürfnis vieler Internetnutzer bedient, vor allem die Gleichgesinnten zu finden und sich mit ihnen zusammenzuschließen. In der damit verbundenen Erfahrungsverdünnung liegt auch eine Herausforderung für die freiheitliche Demokratie, die im Blick auf die Gemeinwohlorientierung und die friedliche Konfliktregelung darauf angewiesen ist, dass unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft miteinander kommunizieren.
Entgegen der gerne propagierten Selbstwahrnehmung animiert das Internet mindestens ebenso sehr zum Tunnelblick im Kreise Gleichgesinnter wie es Unterschiedliches zusammenführt und Vielfalt fördert. Dabei kommt es der Bequemlichkeit der meisten Menschen entgegen, wenn sie vor allem den Haltungen begegnen, die sie selbst einnehmen, und die ihr Weltbild nicht in Frage stellen.
Abgesehen von der freiheitsfeindlichen, weil die Vielfalt leugnenden Ambivalenz der großen Zahl wird in solchen selbstbezogenen Internetgemeinschaften zum Prinzip erhoben, was aus Sicht der freiheitlichen Demokratie eigentlich eine weitere Gefahr darstellt: Wo Gleichgesinnte abgeschottet von Andersdenkenden überwiegend einander begegnen, gedeiht leicht Radikalität, Extremismus und Ideologie.
Die Parallelexistenz vieler unterschiedlicher, auch sich selbst bezogener und sich selbst radikalisierender Gruppen ist eine Bedrohung für das Grundprinzip freiheitlicher Demokratie: e pluribus unum. Als fragmentierte Echogesellschaft ist das Internet eben nicht einfach nur ein Forum des demokratischen Austausches mit Respekt vor unterschiedlichen Meinungen, sondern oft genug gilt das Motto: ‚Jeder darf meiner Meinung sein!‘ So entsteht der Anschein von Diskussion, wo es sich in Wirklichkeit nur um stete Selbstbestätigung handelt.
Selbstjustiz im Internet
Auf diesem Nährboden dominiert oft im Netz die Herrschaft der Stärkeren und Lautesten, die für sich ein digitales Faustrecht reklamieren. Ein fast prototypisches Beispiel dafür ist die „Anonymous“-Bewegung. Dieser Gruppe kann sich jeder zurechnen, der das gemeinsame Feindbild Banken, Konzerne und Regierungen vorgehen will. Anonymous gebärdet sich ebenso gerne als anonymer Geheimbund wie als lockeres Netzwerk. Gerne beschreiben Anhänger die „Anonymous”-Bewegung als zufälligen Zusammenschluss unabhängiger Individuen, als „eine Idee” ohne Struktur. Zugleich geben sie ihre Individualität bereitwillig auf und unterwerfen sich ohne Bedenken einem einheitlichen Outfit (Maske) und gebetsmühlenartig wiederholten Einheitsparolen.
Die „Anonymous“-Bewegung ist so widersprüchlich wie ihr Markenzeichen: die grinsende Maske von Guy Fawkes, hinter der sich ihre Anhänger gerne verstecken. Fawkes wollte 1605 mit mehr als zwei Tonnen Schwarzpulver das englische Parlament in die Luft sprengen. 2008 machte der Film „V wie Vendetta“ nach der gleichnamigen Comicserie das Gesicht des gescheiterten Terroristen bekannt, weil es der anarchistische Titelheld bei seinen Anschlägen als Maske trug. Die Rechte an Comic und Film liegen übrigens beim Medienkonzern Time Warner, einem der Feindbilder der Anonymous-Bewegung. Auch die von ihr benutzte Fawkes-Maske gehört zu den Merchandise-Produkten des Konzerns. So verdient der internationale Medienkonzern an jeder Maske, die seine Gegner im Kampf gegen ihn tragen…
Angeblich um die Freiheit des Internets zu schützen, bedient sich Anonymous des größten Feindes der Freiheit: der Angst. Aus dem Lehrbuch des Totalitarismus könnten die Slogans stammen, die Anonymous-Anhänger als gemeinsames Erkennungszeichen im Internet wie ein Mantra wiederholen: „Wir sind viele, aber Du weißt nicht wer; wir sind überall, doch du weißt nicht wo.“
Dieser implizite Drohung gegenüber Andersdenkenden entspricht der explizit aggressiven Ton bis hin zu persönliche Beschimpfungen in vielen Äußerungen von Anonymous-Anhängern. Mit dem für Ideologien typischen Absolutheits- und Wahrheitsanspruch beansprucht Anonymous immer wieder für die Mehrheit zu sprechen. Ein beliebter Slogan lautet in unverhüllter Anmaßung “Wir sind 99 Prozent“.
Auf Internetseiten der Bewegung sind Slogans zu finden wie: „Da niemand weiß, was richtig ist, kann niemand beurteilen, was falsch ist.“ Oder „Alles ist erlaubt!“. Solche Anarchie-Bekenntnisse sind bei vielen Anhängern sehr beliebt und führen zum Hauptproblem von „Anonymous“: Anonymous propagiert nicht nur, sondern praktiziert das digitale Faustrecht im Internet. Die Bewegung nimmt für sich in Anspruch, dass der Zweck die Mittel heiligt.
Dieser machiavellistische Grundsatz ist das Gegenteil von freiheitlicher Demokratie. Ohne dass dieser Bezug ausdrücklich hergestellt wird, erinnert diese Sichtweise sehr an die Thesen einer “strukturellen Gewalt” wie sie Johann Galtung Ende der 60er Jahre vertreten hat. Auch viele Anonymous-Aktivisten berufen sich auf das “Recht auf Gegengewalt” und sehen in demokratischen Verfahren wie dem Machtwechsel durch Wahlen keine Perspektive.
Anonymous kämpft gegen Internetzensur auch mit den Mitteln der Zensur, indem durch Hackerangriffe systematisch Internetangebote unliebsamer Anbieter lahmgelegt werden. Man ist gegen „Netzsperren“, um selbst nach Gutdünken im Internet zu sperren, was nicht behagt. Dieser Ideologie der Selbstjustiz fielen Unternehmen wie Visa, Paypal oder Mastercard, deren Internetangebote von Anonymous-Anhängern blockiert wurden, ebenso zum Opfer wie die Interseiten beispielsweise der griechischen Regierung. Hackerangriffe aus der Anonymous-Szene gab es außerdem auf das FBI, Scotland Yard, den Medienkonzern Sony und verschiedene Kreditkartenunternehmen.
Maßstab für solche Attacken auf die Meinungsfreiheit (für Anbieter) und Informationsfreiheit (für Nutzer) ist in totalitärer Attitüde die Willkür des eigenen Gutdünkens. Zur Selbstverständlichkeit für sich Wahrheits- und Absolutheitsrechte wahrzunehmen gesellt sich in merkwürdigem Widerspruch die Weigerung, dafür Verantwortung zu übernehmen. Das Prinzip der Anonymität ist sakrosankt: „Identität ist unwichtig, wenn du weist, dass es uns gibt“, heisst es in den Verlautbarungen der Szene.
Zwar ist Anonymität, die in Diktaturen Oppositionelle vor Verfolgung schützen kann, auch in der Demokratie ein selbstverständlichen Recht: Man denke nur das Wahlgeheimnis oder die Schweigepflicht von Ärzten und Anwälten. Aber als Basis für Angriffe auf die Freiheitsrechte Dritter verliert Anonymität ihre Legitimität und gehört eben auch zur Grundausstattung der Gegner der Freiheit: Rechts- und Linksextremisten vermummen sich, religiöse Fundamentalisten agieren aus dem subversiven Untergrund und Kriminelle jeder Art wollen ihre Identität nicht preisgeben.
Wer im Schutz der Anonymität nicht nur Internetseiten lahmgelegt, sondern auch Kreditkartendaten stiehlt oder persönliche Daten veröffentlicht, bedient sich der gleichen Methoden. Solche Formen virtueller Gewalt manifestieren sich zugleich schnell in realer Gewalt. Das belegen die vielen tragischen Beispiele von Internetmobbing ebenso wie die Verabredung zur Gewalttätigkeit, die Extremisten jeder Couleur inzwischen gerne im Netz treffen.
Für den RCDS schließt sich hier auch im 60. Jahr seines Bestehens der Kreis: Der Einsatz für die Grundwerte freiheitlicher Demokratie bleibt eine ständige Herausforderung. Manchem mag es zu dramatisch sein, an das Ende der Weimarer Republik zwischen den unausgesprochen und abgesprochen gemeinsam gegen die Demokratie agierenden Schlägertrupps von Nationalsozialisten und Kommunisten zu erinnern. Aber heute gilt wie damals: Ohne bekenntnisfreudige Demokraten hat die Demokratie keine Überlebenschance.
Zum Bekenntnis jedes Demokraten gehört unbedingt die klare Kante gegen jeden Versuch, in unserer freiheitlichen Gesellschaft das staatliche Gewaltmonopol zu durchbrechen und für sich selbst das Recht auf Gewalttätigkeit und Selbstjustiz in Anspruch zu nehmen. Dabei darf nicht verharmlost werden, was scheinbar „nur virtuell“ im Internet geschieht. „Wehret an Anfängen“ gilt online wie offline.
Der Artikel erschien im Original in: "1953 – 2013 – 60 Jahre RCDS in Nordrhein-Westfalen" - Festschrift zum 60. Jubiläum des Rings christlich-demokratischer Studenten Nordrhein-Westfalen. Bonn, 2014