Hintergrund und aktuelle Entwicklungen
Libyen befindet sich zehn Jahre nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes nach wie vor in einem tiefgreifenden, offenen Transformationsprozess. Nach einem Jahrzehnt wiederkehrender Bürgerkriege befindet sich das nordafrikanische Land, anders als Syrien, heute auf einem Stabilisierungskurs und kann seit einem Jahr auf zahlreiche Fortschritte verweisen. Seit Oktober 2020 schweigen die Waffen in dem krisengeschüttelten Land und der vereinbarte Waffenstillstand wird eingehalten. Mittlerweile findet unter Vermittlung der Vereinten Nationen (VN) ein politischer Dialog zwischen den Konfliktparteien statt und seit März verfügt das Land erstmals seit sieben Jahren über eine Einheitsregierung, die für Ende 2021 freie und faire Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vorbereiten soll.
Diese Entwicklungen galten noch vor einem Jahr als eher unwahrscheinlich und belegen, wie rasch eine militärische Entspannung und politische Fortschritte zu erzielen sind, wenn international und regional der entsprechende Wille zur Einigung vorhanden ist. Obschon unterschiedliche Einflussfaktoren diese positiven Entwicklungen in Libyen bedingten, u.a. die verstärkte türkische Militärpräsenz zugunsten der damaligen international anerkannten Regierung der Nationalen Übereinkunft (Government of National Accord, GNA) um Ministerpräsident Fayez Sarraj gegen die voranrückenden Kräfte aus Ostlibyen, so wäre doch ohne die erste Berliner Libyen-Konferenz im Januar 2020 eine politische Lösung des Konflikts vermutlich so zeitnah nicht erreicht worden.
Wegweisende Berliner Libyen-Konferenz
Nachdem sich seit dem geplanten Sturm auf Tripolis durch die selbsterklärte Libysche Nationalarmee (Libyan National Arab Army, LNA) um Khalifa Haftar im April 2019 der libysche Bürgerkrieg zunehmend internationalisierte, intensivierten sich die diplomatischen Bemühungen deutlich. Erklärtes Ziel der internationalen Gemeinschaft war es, eine abermalige militärische Eskalation in Libyen zu verhindern. Diese hätte nicht nur eine weitere Destabilisierung des geostrategisch wichtigen Landes am Mittelmeer zur Folge gehabt, sondern negative Auswirkungen auf die gesamte Sicherheitsarchitektur Nordafrikas bedeutet. Die Bemühungen gipfelten schließlich am 19. Januar 2020 auf Einladung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und in Abstimmung mit VN-Generalsekretär Antonio Guterres in der ersten Berliner Libyen-Konferenz. An der Konferenz nahmen u.a. Russland, die Türkei, Frankreich und die USA teil. Die wesentlichen Ergebnisse des 55-Punkte umfassenden Abschlussdokuments der Konferenz waren die Beteuerung zur Einhaltung eines Waffenstillstands zwischen GNA und LNA, die Durchsetzung des VN-Waffenembargos und die Rückkehr zum politischen Prozess sowie die Beendigung aller kämpferischen Auseinandersetzungen.[1]
Obschon seit der Berliner Libyen-Konferenz auch Rückschläge zu verzeichnen waren und u.a. das VN-Waffenembargo nach wie vor nicht eingehalten wird, wurden seither zahlreiche Fortschritte erreicht. Am 23. Oktober 2020 einigten sich die Konfliktparteien auf einen Waffenstillstand, der bis heute anhält. Zwar befinden sich noch immer tausende ausländische Söldner in Libyen, doch mehren sich inzwischen auch Berichte über den schrittweisen Abzug von Söldnern, v.a. aus Sudan und dem Tschad.
Der seit November 2020 durch die VN-Unterstützungsmission für Libyen (UNSMIL) eingeleitete politische Dialogprozess ermöglichte auch aufgrund des persönlichen Engagements der bis Februar 2021 tätigen VN-Sonderbeauftragten für Libyen, der ehemaligen US-Diplomatin Stephanie Williams, die Ankündigung von nationalen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen für den 24. Dezember 2021, Libyens 70. Unabhängigkeitstag.[2]
Das Libyan Political Dialogue Forum (LPDF), dem 75 von UNSMIL ausgewählte Libyer angehören, wählte am 5. Februar 2021 nahe Genf schließlich einen dreiköpfigen Präsidialrat mit Mohamed al-Menfi an der Spitze und den aus Misrata stammenden Unternehmer Abdulhamid Dabeiba zum Ministerpräsidenten der Nationalen Einheitsregierung (Government of National Unity, GNU). Die GNU wurde im März vereidigt. Die Hauptaufgabe dieser Interimsregierung ist die Vereinigung des institutionell geteilten Landes und die Vorbereitung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Dezember. Schnell wurde jedoch Kritik laut, wonach das LPDF keine ausreichende Legitimität besäße, eine Interimsregierung zu wählen. Auch Dabeiba selbst geriet unter Druck, da ihm Stimmenkauf innerhalb des LPDF vorgeworfen wurde.
Ziele der Berliner Libyen-Konferenz 2.0
Die zweite Berliner Libyen-Konferenz am 23. Juni fand in einem erweiterten Format statt und versammelte neben Vertretern aus China, Russland und der Türkei auch regionale Akteure wie Algerien und Tunesien. Marokko, obschon eingeladen, nahm nicht an der Konferenz teil. Anders als 2020 fand diese Konferenz auf Außenministerebene teil und verfolgte vor allem zwei Ziele: Einerseits sollte die Interimseinheitsregierung um Ministerpräsident Dabeiba an ihre Selbstverpflichtung erinnert werden, am 24. Dezember Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abzuhalten. Andererseits sollte auf den Abzug aller ausländischen Söldner und Kämpfer aus Libyen gepocht werden.
Zuletzt mehrten sich Befürchtungen, dass die Einhaltung dieses angestrebten Wahltermins durch die nichtgeklärte konstitutionelle Grundlage und offene Fragen des Wahlrechts gefährdet sein könnte. Weder das LPDF noch das erstmals seit sieben Jahren erneut gemeinsam tagende Parlament (House of Representatives, HoR) konnten sich zuletzt auf einen Verfassungsentwurf einigen. Durch die zweite Berliner Libyen-Konferenz sollte der internationalen Erwartung, u.a. basierend auf einem Beschluss des VN-Sicherheitsrates, Nachdruck verliehen werden, rasch zu einer innerlibyschen Lösung der offenen Fragen zu kommen. Die internationale Gemeinschaft lässt keinen Zweifel daran, dass zur Legitimierung einer Regierung landesweite freie und faire Wahlen Ende 2021 unabdingbar sind.
Ein weiteres Ziel der erneuten Berliner Libyen-Konferenz war es, auf den vereinbarten Abzug aller ausländischen Kämpfer und Söldner zu beharren. Dieses Ziel war bereits im Januar 2020 Teil der Berliner-Vereinbarung und wurde seither wenig beachtet, obwohl die Türkei und Russland bereits damals dem Abzug zustimmten. Nach wie vor befinden sich tausende ausländische Kämpfer und Söldner im Land. Neben im Auftrag der Türkei agierenden syrischen Söldnern sind vor allem russische Söldner der Wagner-Gruppe sowie von den Vereinigten Arabischen Emiraten finanzierte und für Haftars Interessen agierende Söldner aus Sudan und Tschad vor präsent.
Ferner konnte die türkische Regierung im Frühjahr bei einem Treffen Dabeibas mit Präsident Erdoğan in Ankara die zuletzt mit der GNA beschlossene Vereinbarung auch mit der GNU erneuern, wonach türkische Soldaten auf Einladung der anerkannten libyschen Regierung sich im Land befinden – offiziell zu Ausbildungszwecken für libysche Soldaten. Der EU-Beobachtermission IRINI zur Einhaltung des 2011 beschlossenen VN-Waffenembargos gegen Libyen, die u.a. mit deutscher Beteiligung vor der Küste Libyens mit Schiffen patrouilliert, wurde in den vergangenen Monaten wiederholt die Kontrolle türkischer Schiffe verwehrt. Sowohl die Einhaltung des Waffenembargos als auch der Abzug ausländischer Söldner werden seit der letzten Berliner Libyen-Konferenz nur schleppend umgesetzt und stellen bis heute wesentliche Hürden auf dem Weg zur nachhaltigen Stabilisierung Libyens dar.
Ergebnisse der Konferenz
Ein wichtiges, symbolträchtiges Ergebnis der Konferenz ist die erstmalige Teilnahme von Ministerpräsident Dabeiba und Außenministerin Mangoush. Während 2020 noch die libysche Eigenverantwortung zur Lösung des Konflikts nur schriftlich proklamiert wurde, ist die aktive Teilnahme und Einbindung der libyschen Regierung an den Konsultationen ein wichtiger Schritt, um eine libysche ownership des Prozesses zu gewährleisten. Auch die Teilnahme von US-Außenminister Antony Blinken an der Konferenz ist ein wichtiges Signal, unterstreicht sie doch die stärkere Einbringung der USA in Libyen seit dem Amtsantritt Bidens. Das Ansinnen der USA, sich erneut stärker mit dem Libyen-Portfolio zu befassen, wird auch durch die zuletzt erfolgte Ernennung des libyschen US-Botschafters Richard Norland zum US-Sonderbeauftragten für Libyen untermauert. Diese Position war zuletzt seit 2016 vakant.
Ansonsten geht das 58-Punkte umfassende Abschlusskommuniqué der zweiten Berliner Libyen-Konferenz über Absichtserklärungen nicht hinaus. Die Beschlüsse der ersten Berliner Libyen-Konferenz werden bekräftigt und erneut auf die Wichtigkeit der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Pfade des Berliner Prozesses verwiesen. Ein wichtiger Erfolg ist das Bekenntnis von GNU-Ministerpräsident Dabeiba auf die Abhaltung von Wahlen am 24. Dezember. An dieser Zusage wird er sich messen lassen müssen. Dabei ist auffällig, dass die gleichzeitige Abhaltung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen angestrebt wird. Die innerlibysche Diskussion dreht sich seit Wochen indes vor allem darum, ob die libysche Präsidentschaft zukünftig durch direkte oder indirekte Wahlen bestimmt werden solle. Während eine deutliche Präferenz für eine direkte Präsidentschaftswahl in Libyen erkennbar ist, wird auch die Befürchtung geäußert, dass das Parlament durch einen starken, direkt gewählten Präsidenten geschwächt werden könnte. Da seit 2014 keine Parlamentswahl stattfand, ist die Neuwahl der Abgeordneten jedoch ein Kernanliegen der Libyer.
In der Abschlusserklärung wird auf eine zeitnahe Klärung der konstitutionellen Grundlagen für die Wahlen gepocht. Dies stellt jedoch eines der aktuellen Kernprobleme dar, da sich zuletzt weder das LPDF noch das Abgeordnetenhaus auf einen Entwurf einigen konnten. UNSMIL kündigte daher eine physische Tagung des LPDF ab dem 28. Juni in Genf an, um eine Lösung dieser verfassungsrechtlichen Fragen herbeizuführen. Ursprünglich war vereinbart, bis Juli die Rechtsgrundlagen für die Abhaltung von Wahlen beschlossen zu haben. In den kommenden Wochen wird daher entscheidend sein, ob sich UNSMIL, das LPDF und/oder das HoR auf einen innerlibyschen Fahrplan zur Vorbereitung der Wahlen werden verständigen können. Die organisatorische Vorbereitung der Wahlen scheint anschließend kein allzu großes Problem darzustellen. Zuletzt fanden in mehreren Landesteilen bereits Kommunalwahlen statt.
Ferner verweist die Erklärung erneut auf die Dringlichkeit eines vollständigen Abzugs aller ausländischen Kämpfer und Söldner aus Libyen. Die Türkei ließ ihren Einwand in einer Fußnote festhalten, insbesondere da die türkische Regierung ihre in Libyen stationierten Soldaten nicht als Teil dieses Abzugspostulats ansehen möchte. Diese seien schließlich auf Bitten der GNU im Land. Interessanterweise traf Dabeiba vor Beginn der Konferenz auch mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu zu einem Abstimmungstreffen bilateral zusammen. Tatsächlich ist auch nach dieser Konferenz ein zeitnaher Abzug ausländischer Söldner fraglich, da sich kein konkreter Abzugsmechanismus oder eine Frist festgelegt wurde. Auch Sanktionsmechanismen bei einer Nichteinhaltung des vereinbarten Abzugs fehlen.
Außenminister Maas äußerte in der Abschlusspressekonferenz seine Hoffnung, Russland und die Türkei könnten zu einer Übereinkunft bezüglich des Vorgehens beim Abzug kommen und betonte, dass es nicht zu einem Ungleichgewicht beim Rückzug kommen solle. Während seine libysche Amtskollegin davon ausgeht, dass bereits in den kommenden Tagen ein Abzug beginnen könnte, dürfte wie auch nach der ersten Berliner Libyen-Konferenz die realpolitische Wirklichkeit und geopolitische Machtinteressen zu einer raschen Ernüchterung in diesem Punkt führen. Außerdem wurde die Präsenz weiterer Söldner, vor allem aus dem Sahel, offenbar nicht ausreichend in die Überlegungen des Abzugs einbezogen. Deren destabilisierendes Potential, auch auf Länder in Subsahara-Afrika, birgt ebenso eine hohe konfliktbeschleunigende Komponente.
Die libysche Außenministerin Mangoush stellte im Rahmen der Konferenz ihre Initiative einer Libyan Stabilization Group vor. Hauptziel dieser Initiative sei es, die libysche Eigenverantwortung zu stärken und Fragen der Reintegration ehemaliger Milizen sowie sicherheits- und wirtschaftspolitische Herausforderungen zu lösen. Eine Voraussetzung dafür sei jedoch die Einhaltung des Berliner Prozesses und die Umsetzung der vereinbarten Beschlüsse.
Einordnung und Ausblick
Der Berliner Prozess, der seit der ersten Berliner Libyen-Konferenz im Januar 2020 eingeleitet wurde, hat wesentlichen Anteil an der politischen Lösung des libyschen Bürgerkriegs und unterstreicht die anerkannte Rolle Deutschlands als Vermittler in diesem internationalisierten Konflikt. Die zweite Berliner Libyen-Konferenz bekräftigte die Notwendigkeit zur Abhaltung von nationalen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Dezember 2021 und dringt auf den Abzug aller ausländischen Kämpfer und Söldner aus Libyen. Tatsächlich wurden jedoch keine konkreten Beschlüsse gefasst, die über Absichtserklärungen hinausgehen würden.
Ferner bleibt nach wie vor ungeklärt, auf welcher rechtlichen Grundlage Ende des Jahres Wahlen in Libyen stattfinden sollen. Unterschiedliche Umfragen bestätigen, dass die Mehrheit der Libyer die angestrebten Wahlen Ende des Jahres fordern. Bereits heute haben sich mehr als 100 neue politische Parteien und Bewegungen registrieren lassen. Erste Kandidaten positionieren sich für die Präsidentschaftswahl. Eine Mehrzahl der Libyer sehnt sich nach neuen politischen Gesichtern und fordert den Rückzug aller „politischen Dinosaurier“, wie Stephanie Williams sie umschrieb. Ministerpräsident Dabeiba dürfte als Interimsministerpräsident laut des vereinbarten LPDF-Fahrplans bei den Wahlen im Dezember selbst nicht kandidieren. Die Konferenz bekräftigte erneut die wichtige Rolle der VN in Libyen und stärkte auch das LPDF, sollte eine Lösung der rechtlichen Wahlfragen nicht zeitnah erfolgen.
Ob der bereits seit 2020 geforderte Abzug ausländischer Kräfte aus Libyen bis zu den Wahlen erfolgt, bleibt derzeit fraglich. Der schriftlich festgehaltene Einwand der Türkei in der Abschlusserklärung deutet darauf hin, dass nach wie vor unterschiedliche Interpretationen bezüglich der Definition ausländischer Interventionen zu bestehen scheinen. Zudem wiederholte die russische Regierung bereits in der Vergangenheit, dass die Söldner der Wagner-Gruppe als private Akteure und nicht im Auftrag des russischen Staates anzusehen seien. Ob, wann und wie ausländische Kräfte das Land verlassen sollen, scheint ihnen selbst überlassen zu bleiben bzw. wird diese Ausverhandlung in deren Verantwortungsbereich übertragen.
Hinzu kommt, dass nach wie vor auch Haftar in Ostlibyen seine Ambitionen nicht gänzlich aufgegeben zu haben scheint. Auch die Wiedervereinigung aller staatlichen Institutionen ist nicht abgeschlossen und der Einfluss von Milizen, vor allem in Ostlibyen, nach wie vor beträchtlich.
Obschon viele Libyer die zweite Berliner Libyen-Konferenz nur als Symbolpolitik betrachten, wird Deutschlands Vermittlerrolle geschätzt und anerkannt. Wie sich die Entwicklungen in Libyen in den kommenden Monaten weiter gestalten, wird vermutlich wie auch in den zurückliegenden Jahren nicht nur von Libyern selbst determiniert. Die multiplen Interessen regionaler und internationaler Akteure in Libyen lassen erahnen, dass weitere Konfliktpotentiale aufkeimen könnten. Umso entscheidender bleibt die aufmerksame internationale Beobachtung aller Entwicklungen in Libyen und das Dringen auf die Einhaltung des Berliner Prozesses und die Abhaltung freier und fairer Wahlen Ende dieses Jahres. Die zweite Berliner Libyen-Konferenz könnte nicht die letzte ihrer Art gewesen sein.
[1] Berliner Libyen-Konferenz. Schlussfolgerungen der Konferenz. URL: Pressemitteilung Nummer 31/20 vom 19. Januar 2020 zur Berliner Libyen-Konferenz (Schlussfolgerungen) (bundesregierung.de) (08.01.2021).
[2] KAS-Länderbericht Januar 2021 Libyens Schicksalsjahr. URL: Konrad-Adenauer-Stiftung - Libyens Schicksalsjahr (kas.de) (14.04.2021).
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